Diese Präsidentschaftswahl wird wohl in die Geschichte der USA eingehen als "Nail-biting election": Der amtierende Präsident Donald Trump und der Gegenkandidat Joe Biden liefern sich aktuell ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bis alle Stimmen ausgezählt sind und das endgültige Ergebnis feststeht, kann es noch bis Freitag dauern.
Dementsprechend aufgeladen ist die Stimmung in den USA gerade. Watson hat mit US-Amerikanern gesprochen, wie sie die aktuelle Wahl wahrnehmen und wie die Stimmung im Land ist.
Katie K., 31, aus Chicago, Illinois, macht sich Sorgen wegen möglicher Ausschreitungen nach Verkündung des endgültigen Wahlergebnisses:
"In der vergangenen Nacht habe ich kaum geschlafen. Ich glaube, wir alle sind gerade sehr aufgeregt. Wir schauen natürlich die meiste Zeit Nachrichten – und versuchen uns zwischendurch abzulenken. Vergangene Nacht haben eine Freundin und ich gemeinsam die Wahl verfolgt, waren dann aber so überwältigt von den ersten Ergebnissen, dass wir beschlossen haben, lieber irgendeinen lustigen Film anzusehen. Ich bin froh, dass wir das getan haben – denn als der Film vorbei war und wir wieder auf die Aufzählung schauten, hatte sich nicht wirklich viel verändert.
Ich mache mir große Sorgen, was passiert, wenn das finale Ergebnis verkündet wird. Egal was passiert: Die Hälfte des Landes wird unzufrieden sein. Einige Läden in Chicago sind mit Brettern vernagelt, weil sie Angst vor Plünderungen haben. Das ist in den vergangenen Monaten schließlich einige Male passiert. Wo es zu Ausschreitungen kommt und wie heftig sie sein werden, hängt wohl davon ab, wer gewinnt: Da Chicago eine recht liberale Stadt ist, wird wohl nicht so viel passieren, wenn Biden gewinnt. Zu Protesten wird es allerdings in jedem Fall kommen."
Landon D., 26, aus Bloomington, Indiana, ist sehr aufgeregt wegen der Wahlergebnisse. Er befürchtet, dass die Frage zum Abtreibungsrecht das Land unnötig spaltet:
"Diese Wahl fühlt sich anders an als die vergangenen, bei denen man die ganze Nacht lang vor dem Fernsehen saß und die Ergebnisse langsam eintrudelten. Ich bin sehr nervös: Joe Biden wird mit Sicherheit die Mehrheit der Stimmen einholen, allerdings ist das Ergebnis der Wahlmännerstimmen noch völlig unklar. Es hieß zwar, die Auszählung würde noch bis Freitag andauern, aber Trump hat sich bereits zum Sieger erklärt. Es herrscht Chaos.
Ich habe den Eindruck, dass vor allem die Haltung zum Abtreibungsrecht die US-Amerikaner spaltet und in zwei unvereinbare politische Lager teilt. Ich habe vor Kurzem zum Beispiel mit einer Frau gesprochen, deren Vater gebürtig aus Mexiko stammt und sie erzählte mir, dass sie die Republikaner gewählt hat, nur, weil sie gegen Abtreibung ist. Wohl wissend, dass sie für einen Rassisten gestimmt hat, der für den Tod von zahlreichen ihrer Landsleute verantwortlich ist."
Danielle B., 38, aus Chicago, Illinois, hat für Biden gestimmt. Sie hatte gehofft, dass er schnell als Sieger der Wahl hervorgehen würde:
"Ich fühle mich ganz schön gestresst. Ich bin enttäuscht, dass so viele Menschen für Trump gestimmt haben – ich hatte gehofft, dass Biden mit großem Vorsprung gewinnen würde. Ich finde es alarmierend, dass unser Land immer noch so gespalten ist.
Vergangene Nacht habe ich versucht, mich abzulenken und die Wahl nicht allzu sehr zu verfolgen. Im Endeffekt habe ich die Nachrichten und die Verkündung der ersten Ergebnisse trotzdem verfolgt. Ich hoffe immer noch, dass Biden gewinnt – aber es scheint, als würde noch eine ganze Weile vergehen, bis sein Sieg verkündet werden wird, wenn überhaupt. Die Aufregung wird also noch länger anhalten, befürchte ich."
Kim K. aus Phoenix, Arizona, befürchtet, dass Trumps Anhänger sich zu Krawallen angestachelt fühlen werden, sollte er nicht gewinnen:
"Die Vereinigten Staaten von Amerika sind mehr gespalten als jemals zuvor und die Beziehung zwischen den Parteien hat in der jüngsten Vergangenheit extrem gelitten. Bei dieser Wahl geht es um mehr als nur Politik: Es geht um Menschenrechte, die in den vergangenen Jahren hierzulande unterdrückt worden sind.
Ich bin sehr traurig über die Ergebnisse – es ist schlimm, zu sehen, dass so viele meiner Landsleute für den Hass stimmen. Sollte Trump gewinnen, werden sich viele von uns hier unsicher fühlen. Sollte er verlieren, befürchte ich, dass die Stimmung sehr angespannt sein wird. Möglicherweise wird es zu gewaltvollen Ausschreitungen kommen, nachdem Trump seinen angeblichen Sieg bereist vorzeitig verkündet hat. Sollte nun doch Biden gewinnen, werden viele Trump-Fans das zum Anlass nehmen, zur Tat zu schreiten."
George M., 27, aus Louisville, Kentucky, glaubt, dass auch die Demokraten vorerst nicht viel an der sozialen Ungerechtigkeit in den USA verändern werden:
"Ich bin zwar noch recht jung, aber ich habe in meinem Leben noch nie eine Wahl erlebt, die so kontrovers und beunruhigend ist. Während der vergangenen Woche habe ich in den sozialen Medien ständig gesehen, dass Menschen Warnungen posten, von wegen, wir sollten uns auf einen 'Bürgerkrieg' vorbereiten und uns einen 'Fluchtplan' überlegen. Aber wo sollte ich denn hingehen? Kein anderes Land würde uns aufnehmen, weil unser Corona-Krisenmanagement so armselig ist und wir die Ansteckungsrate schlecht unter Kontrolle kriegen.
Ich habe den Glauben an die Institutionen und Prozesse dieser 'Demokratie' hier verloren. Vor allem dieses Jahr haben die von uns gewählten Regierungsvertreter bewiesen, dass der Durchschnitts-US-Amerikaner ihnen nicht egaler sein könnte. Viele sagen, das System sei kaputt und dass wir zur 'Normalität' zurückkehren müssen. Aber ich glaube, das System funktioniert genau so, wie es gedacht war: Es sorgt für wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis.
Ich habe gegen Trump gestimmt. Aber ich weiß: Selbst wenn ein Demokrat Präsident wird, die Herausforderungen für Menschen in Armut, Arbeiter und Angehörige von Minderheiten werden nicht weniger werden. Den einzigen Hoffnungsschimmer, den ich habe, sind die Graswurzelbewegungen auf lokaler und nationaler Ebene, an denen ich mich beteilige, wo ich nur kann. Egal, wie diese Wahl ausgeht, wir haben immer noch so wahnsinnig viel zu tun und müssen die systemischen Ungerechtigkeiten und sozialen Ungleichheiten in den USA bekämpfen."
Kevin P., 38, aus Phoenix, Arizona, befürchtet, dass die USA viel Zeit brauchen werden, um die Folgen der Trump-Ära wieder aufzuarbeiten:
"Diese Wahl ist die bisher wichtigste meines Lebens. Denn Präsident Trump hat die Spaltung unserer Gesellschaft weiter vorangetrieben und sich vor allem gegen Frauen, People of Color, Angehörige der LGTBQ-Community, Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen, Einwanderer und Angehörige religiöser Minderheiten gestellt. Die Angst und der mangelnde Respekt gegenüber bestimmten sozialen Gruppen waren noch nie größer.
Das größte Anzeichen dafür, dass die USA in Schwierigkeiten stecken, ist, dass eigentlich kein klarer Sieger dieser Wahl hervorgehen kann, weil so viele Staaten Trump und sein grässliches Verhalten nun umso mehr befürworten werden. Ich befürchte, dass wir einen Weg eingeschlagen haben, von dem wir nur mit viel Geduld und drastischeren Maßnahmen wieder abkommen werden."
Anna B., 28, stammt ursprünglich aus Kansas und wohnt mittlerweile in Berlin. Sie findet, dass die aktuelle Wahl beweist: 2016 war kein Versehen.
"Viele meiner Freunde aus den USA waren am Mittwoch früh ziemlich fertig, als noch kein endgültiges Ergebnis der Wahl fest stand – ich war allerdings, ehrlich gesagt, nicht wirklich überrascht. Wegen der vielen Stimmen, die dieses Mal per Brief abgegeben worden sind, war mir eigentlich schon klar, dass wir besonders geduldig sein müssen – und trotzdem war der Tag irgendwie unbefriedigend und auch anstrengend. In der Arbeit konnte ich mich nur schwer konzentrieren, und gefühlt wünschen sich alle gerade, dass diese Wahl einfach nur vorbei ist.
Andererseits bin ich dieses Jahr im Wahlgeschehen viel stärker drin als beim vergangenen Mal – und das, obwohl ich alles von Deutschland aus beobachte. Ich sehe mir die Zahlen an, beobachte vor allem die Swing States, schaue Nachrichten… Es ist auch alles sehr spannend.
Was mich beunruhigt: Ich habe den Eindruck, diese Wahl beweist uns noch einmal mehr, dass 2016 keine Ausnahmesituation war. Es scheint, als hätte sich die Bevölkerung seitdem gewandelt, und dass jemand wie Trump Präsident werden kann, war kein Versehen. 2020 fühlt sich an wie ein Echo von 2016."