Nach der Schießerei in der Grundschule im texanischen Uvalde haben Hinterbliebene und Angehörige Blumen und Luftballons niedergelegt. Bild: XinHua / Wu Xiaoling
Nah dran
In den USA üben Schulkinder und Lehrer regelmäßig, wie sie sich verhalten müssen, wenn ein bewaffneter Attentäter in ihre Schule eindringt. Wie solche "Shooter Drills" funktionieren – und wie eine Amerikanerin diese Drills erlebt hat.
Yasmin Müller / watson.ch
Am vergangenen Dienstag hat ein Attentäter in Uvalde, Texas 19 Kinder und 2 Lehrpersonen erschossen. Möglicherweise hätte es noch mehr Opfer gegeben, wenn Lehrpersonen und Schüler das korrekte Verhalten bei einem Attentat nicht bereits verinnerlicht hätten.
Denn in Amerika werden Schulkinder von klein auf darauf vorbereitet, dass ein bewaffneter Attentäter in ihre Schulen eindringen und ein Blutbad anrichten könnte. Während sogenannter Shooter-Drills werden ihnen die Strategien zum Überleben eingebläut.
watson hat mit Jacqueline gesprochen, die als Kind in den USA wieder und wieder bei solchen Übungen gedrillt wurde. Vielleicht retteten diese Drills tatsächlich Leben, meint Jacqueline, aber sie seien eher Symptombekämpfung. Denn das eigentliche Problem lösten sie nicht: das Verhältnis der Amerikaner zu ihren Waffen.
Doch wie sehen solche Shooter-Drills eigentlich aus?
So funktionieren Shooter Drills
Bei den Shooter-Drills wird mehrmals jährlich geübt, wie man sich grundsätzlich verhalten soll, wenn ein Amokläufer im Gebäude ist: Die Schüler sollen sich verbarrikadieren oder verstecken, während die Lehrer das Licht im Zimmer löschen und die Rollläden herunterlassen. Danach sollen sich alle mucksmäuschenstill verhalten.
Ein Active-Shooter-Drill in einer Highschool in Los Angeles.Bild: NurPhoto / Ronen Tivony
Jacqueline erinnert sich an ihre Shooting-Drills:
"Normalerweise wurde uns gesagt, dass wir jetzt einen Shooter-Drill haben und dass wir uns so verhalten sollen, als ob es ein Ernstfall sei.
Dann ging überall der Alarm los. Die Lehrerin rannte zur Tür und zu den Fenstern, um diese zu verriegeln.
Wir Kinder hatten jeweils nur eine Aufgabe: Wir mussten uns so schnell wie möglich zum Safe-Space begeben.
In meiner Primarschule mussten wir uns jeweils an dieselbe Wand drängen, an der sich auch die Türe befand, damit der Attentäter uns nicht sofort sieht. In anderen Schulen verstecken sich die Schüler unter den Tischen.
Die Regel war immer: Sei so leise wie möglich und stell alle technischen Geräte auf stumm.
Danach kehrten wir zur Normalität zurück. Ohne das Erlebte zu besprechen."
Zur Person
Jacqueline ist amerikanisch-schweizerische Doppelbürgerin. Sie wuchs in der beschaulichen Gemeinde Randolph im US-Bundesstaat New Jersey in der zweiten Hälfte der 90er und den 2000er Jahren auf.
Sie durchlief das gesamte Schulsystem sowie ein Bachelor-Studium in den USA. Danach siedelte sie nach Großbritannien über für ein Masterstudium und seit 2016 promoviert sie an der Universität Basel in der Schweiz.
Je nach Bundesstaat finden diese Drills nicht gleich häufig statt. Allerdings üben bereits die Jüngsten, wie sie überleben sollen. Auch Jacqueline erinnert sich, dass sie von der Primarschule bis in die Highschool diese Praxis durchlief.
Heutzutage gibt es in mindestens 42 Staaten Gesetze, die Notfallübungen in Schulen vorschreiben. Acht von ihnen schreiben zudem vor, dass es sich dabei um "Active-Shooter-Drills" handeln müsse. Also möglichst realitätsnahe Übungen.
Da Schulen nur selten über die Ressourcen verfügen, solche Active-Shooter-Drills selbstständig durchzuführen, wenden sie sich an private Unternehmen, deren Geschäftsmodell es ist, Kinder und Lehrer auf den Ernstfall vorzubereiten: In Szenarien schleicht ein bewaffneter "Attentäter" auf dem Schulgelände umher, echte Polizei ist anwesend – alle mit gezückten (Modell-)Waffen.
Eine Active-Shooter-Übung in einer Schule bei Miami.Bild: newscom / Al Diaz
Einer der größten Anbieter solcher Active-Shooter-Drill-Szenarien ist das "Alice Training Institute". Alice ist dabei ein Akronym und steht für Alert, Lockdown, Inform, Counter und Evacuate (alarmieren, abriegeln, informieren, gegensteuern und evakuieren).
Das Alice-Programm propagiert, dass ein bloßes Verbarrikadieren und das Warten auf Hilfe die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dass man sterbe. Darum wird eine "proaktive" Reaktion auf eine Schießerei geübt. Und so lehrt das Alice-Programm die Schüler unter anderem, sich mit kleinen Gegenständen zu bewaffnen, um diese dem Angreifer entgegenzuschleudern oder diesen zu überwältigen – allerdings nur im äußersten Notfall.
Das Alice-Programm ist mittlerweile im ganzen Land verbreiten und wurde zum Standard für viele Schulübungen.
Jaclyn Schildkraut, Professorin für Strafjustiz an der State University of New York in Oswego, untersucht den Nutzen von Active-Schooter-Drills. Die Übungen sind ihrer Meinung nach notwendig, weil sich die Kinder und Jugendlichen "besser vorbereitet und gestärkt fühlten". Zudem sei es besser, etwas zu haben und es nicht zu brauchen, als es zu brauchen und es nicht zu haben, sagte sie kürzlich der "New York Times".
Haben die Shooter-Drills im vergangenen Attentat etwas gebracht?
Im Fall von Uvalde sollen die Kinder von mindestens einer Klasse dank des Shooter-Drills überlebt haben.
"Die Kinder krochen dann unter die Tische", berichtet die Mutter eines überlebenden Kindes dem "Spiegel". Der Attentäter ging am dunklen Klassenzimmer vorbei. Ein paar Türen weiter richtete er sein Blutbad an.
Kreuze mit Namen für die Erschossenen beim Attentat in Uvalde.Bild: AA / Yasin Ozturk
Gibt es auch Kritik an den (Active-)Shooter-Drills?
Eine andere Meinung als Schildkraut vertritt Megan Carolan, Vizepräsidentin für Forschung am Institute for Child Success. Sie sagt der "New York Times": "Es gibt keine stichhaltigen Beweise dafür, dass diese Übungen hilfreich sind."
Zudem gibt es Studien, die den Zusammenhang mit Angstzuständen und Stress bei Jugendlichen untersuchen, die (Active-)Shooter-Drills auslösen können. Jacqueline bestätigt Angstzustände aus persönlicher Erfahrung:
"Als kleines Kind verstand ich nicht wirklich, was das Potenzial eines Schul-Attentats sein könnte. Aber mich haben diese Shooter-Drills verängstigt als Kind, das kann ich wirklich so sagen."
Karen McDonald, die Staatsanwältin von Michigan, sagt der "New York Times": "Wir können uns wirklich nicht aus dieser Tragödie heraus trainieren." Viel wichtiger wären strengere Waffengesetze und psychologische Beratung, damit Schüler lernten, mit starken Emotionen umzugehen.
Auch Jacqueline geriet einmal in den Fokus eines Jugendlichen, der psychologische Hilfe brauchte – und diese wohl gerade noch rechtzeitig bekam. Er verfasste nämlich eine Todesliste mit Namen von Schülern und Lehrern, die er erschießen wolle. Jacquelines Name stand auch darauf.
Das Shooting in Uvalde ist bei weitem nicht das erste in diesem Jahr in den Vereinigten Staaten.Bild: XinHua / Wu Xiaoling
Beim Schüler handelte es sich um den Bruder einer Freundin. Der Junge wurde von der Schule suspendiert und bekam Hilfe in einer Jugendpsychiatrie. Doch Jacqueline sagt:
"Ich hatte wirklich Angst, denn die Möglichkeit, dass sich im Haus meiner Freundin damals Waffen befanden, war sehr hoch."
Jacqueline spricht davon, dass sich potenzielle Attentäter womöglich inspiriert fühlen könnten durch solche Drills.
"Jeder, der in Amerika in die Schule geht, weiß,
dass man nach einem Attentat unglaublich viel Aufmerksamkeit bekommt online.
Es gibt sogar Schüler, die Witze über Attentate machen. Es werden lustige Memes darüber ins Netz gestellt."
Auch das "Alice Training Institute" thematisiert diesen Aspekt auf seiner Website, wobei Attentäter als "zukünftiger Feind" bezeichnet werden. Da die Gefahr bestünde, dass man diesen Feind trainiere und inspiriere durch das Programm, würde man die Kinder dahingehend ausbilden, dass der Schütze nicht vorhersagen könne, was die Angegriffenen tun würden. Wie sie das machen, verraten sie auf der Website nicht.
Die Waffendebatte
Seit dem Massaker in Uvalde diskutieren die Amerikaner über weitere mögliche Lösungen, um ihre Kinder zu schützen. Dabei wird vor allem die Frage nach einer Verschärfung des Waffengesetzes heiß diskutiert. Und ist in gewissen Kreisen auch hochumstritten.
So hat der konservative US-Sender Fox-News seit Dienstag zig Möglichkeiten diskutiert, wie man Attentate in Schulen zukünftig verhindern könnte – das Verschärfen der Waffengesetze wurde nie genannt. Dafür Dinge wie: Beten und zur Kirche gehen, Todesstrafe für Attentäter einführen, Lehrer/alle bewaffnen oder schusssicheres Glas in Schulen verbauen.
Andere fordern endlich Regulierungen bezüglich der Waffengesetze – so auch der US-Senator Chris Murphy sowie der amerikanische Präsident Joe Biden. Nur wenige Stunden nach der Schießerei am Dienstag wandte er sich an die Nation und forderte Demokraten und Republikaner auf, strengere Waffenkontrollgesetze zu erlassen: "Wir als Nation müssen uns fragen, wann in Gottes Namen wir der Waffenlobby die Stirn bieten werden. Wann, in Gottes Namen, tun wir, wovon wir alle aus dem Bauch heraus wissen, dass es getan werden muss?"
Biden und seine Frau Jill sind am Sonntag nach Uvalde gereist, um gemeinsam mit den Hinterbliebenen zu trauern.
Der amerikanische Präsident Joe Biden mit seiner Frau Jill.Bild: ZUMA Press Wire / Jintak Han
Zum Abschluss des Gespräches erklärt Jacqueline, dass auch sie davon überzeugt sei, dass das einzige, das wirklich Leben rette, eine Regulierung des Zugangs zu Waffen sei – und nicht etwa ein Shooting-Drill. Zudem müssten ihrer Meinung nach endlich echte Background-Checks durchgeführt werden, wenn jemand eine Waffe erwerben wolle.
Sie sagt aber auch, dass strengere Gesetze alleine das Problem in Amerika nicht lösen werden. Denn das "Mindset" der Amerikaner müsse geändert werden. Waffen seien ein Statussymbol in den Staaten: Menschen würden mit ihren Waffen protzen und damit in den sozialen Medien posieren – und dies wäre völlig selbstverständlich.
Sie schließt mit den Worten:
"Wir müssen weg von diesem Waffen-Show-off-Ding: Schau her, wie männlich ich bin, ich habe eine Waffe und verteidige damit meine Rechte – welche Rechte das auch immer sein mögen."