Nah dran
Maria ist 31 Jahre alt. Ihre komplizierte Beziehung zu Russland startete schon bei ihrer Geburt. Doch sie wollte ihrem Heimatland bei der Veränderung helfen – und wurde dabei maßlos enttäuscht.
11.07.2022, 18:5913.07.2022, 16:44
Ekaterina Bodyagina
Maria hat eine komplizierte Geschichte mit Russland.
Sie wurde in Bratislava geboren, wohin ihre Eltern kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion zogen. Ihr Vater wollte eine, wie es die 31-Jährige nennt, "kapitalistische Karriere" machen, und ihre Mutter wollte nicht in dem "neuen" Land leben – ihrer Meinung nach würde ihr Heimatland nach 1991 nicht mehr existieren.
Dann zog die Familie nach Australien, wo Maria bis zur neunten Klasse lebte und studierte. Als Maria 13 war, zog ihr Vater nach Moskau – Maria ging mit. In Australien, sagt sie, fühlte sie sich immer russisch, "ich wollte 'zurückkommen' – Russland hat mich gelockt."

Von Moskau bis ins usbekische Samarkand: Das ist die Fluchtroute von Maria.Bild: Screenshot: Google Maps / Grafik: Joana Rettig
Doch in ihrer Heimat wurde sie harsch empfangen: Sie sprach damals kaum Russisch, wusste wenig über die russische Kultur und wurde in der Schule verspottet – laut Maria nicht nur von Mitschülerinnen und Mitschülern, sondern auch von Lehrkräften. Maria meint, die russische Kultur sei sehr zusammenhängend, in sich vereint und geschlossen. "Wenn man nicht weiß, was die Russinnen und Russen für kulturelle Codes haben, wird man zu einem Ausgestoßenen."
Weil sie damals noch nicht Puschkin gelesen hatte, habe man sie einen Hinterwäldler genannt. Nach Abschluss der High School kehrte Maria nach Australien zurück – nach Russland wollte sie nicht mehr.
Doch dann, 2011, begannen die Proteste. Im Dezember gingen Hunderttausende auf die Straßen von Russland, vor allem junge Menschen. Sie demonstrierten gegen mögliche Fälschungen bei den Parlamentswahlen. 2012 gingen die Proteste nach der Wiederwahl Wladimir Putins zum Präsidenten weiter.
"Die Hoffnung auf positive Veränderungen im Land schwand."
"Ich spürte, dass die Russinnen und Russen Veränderungen wollten, und ich wollte daran teilhaben", sagt Maria. Ihr Architekturstudium in Australien brach sie ab, flog nach Moskau. Und sie fand Gleichgesinnte. Menschen, die sie und ihre Werte ernst nahmen: "Um mich herum waren junge, energiegeladene Menschen, die die Probleme der russischen Gesellschaft sahen – auch die Probleme, mit denen ich in der Schule konfrontiert war – und die sich für Veränderungen einsetzten. Der Protest kochte", erzählt sie.
Maria eröffnete eine Schule für Geschlechterstudien in Moskau und später eine Galerie, in der sie Werke russischer Künstlerinnen und Künstlern zu sozialpolitischen Themen ausstellen wollte. 2015 dann der Schock: Die Galerie musste schließen. Maria hatte geplant, eine Ausstellung über LGBTQIA+ -Jugendliche zu eröffnen. In Russland war zu dieser Zeit das sogenannte "Gesetz gegen Homosexuellen-Propaganda" seit zwei Jahren in Kraft.

Weltweit protestierten Menschen gegen das russische "Homosexuellen-Gesetz". Wie hier in Berlin, 2013. Die Verbreitung der Illustration vom geschminkten Putin ist in Russland nun verboten.bild:imago images
Dieses Gesetz verbietet es, im Beisein von Kindern positiv oder neutral über gleichgeschlechtliche Liebe zu sprechen. Wer dagegen verstößt, muss bis zu 2500 Euro Strafe zahlen, Firmen sogar 25.000 Euro. Berichten Medien positiv oder neutral über Homosexualität, können sie für drei Monate geschlossen werden. Und wenn Ausländer gegen dieses Gesetz verstoßen, können sie verhaftet werden und müssen Russland verlassen.
Die Polizei kam in Marias Galerie – und am nächsten Tag kündigten die Vermieter den Mietvertrag. "Das war ein schwerer Schlag. Ich hatte meine ganze Energie und alle meine Ersparnisse in diese Galerie investiert." Danach sei Maria träge geworden, sagt sie. "Die Hoffnung auf positive Veränderungen im Land schwand."
"Es war, als hätte die Gesellschaft einen Pakt mit dem Staat geschlossen: Ihr lasst uns in Ruhe und wir lassen euch in Ruhe. Am 24. Februar wurde klar, dass dieser Pakt eine Illusion war."
Ein weiterer Wendepunkt in Marias Beziehung zu Russland war die Annexion der Krim 2014 – nicht nur die Tatsache der russischen Invasion selbst, sondern auch, dass die russische Bevölkerung diesen Völkerrechtsbruch guthieß. Laut dem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum befürwortet eine überwältigende Mehrheit der Russinnen und Russen (86 Prozent) die Annexion der Krim.
"Unmittelbar nach dem 'Referendum' ging ich die Straße entlang, und von den Balkonen hing eine Trikolore." So viele Fahnen hatte Maria noch nie an Häusern gesehen. "Ich dachte damals, dass sich meine Wege mit Russland trennen würden."
Nach der Krim habe sich die Situation im Land immer weiter verschlechtert: "In Russland interessierte ich mich für zeitgenössische Kunst – und es wurde nicht mehr möglich, das zu tun, weil die Leute eingesperrt wurden, als sie über soziale und politische Themen sprachen." Die Kunst habe sich vom politischen Leben losgelöst, sei zu einer kommerziellen Sphäre geworden. "Es war, als hätte die Gesellschaft einen Pakt mit dem Staat geschlossen: Ihr lasst uns in Ruhe und wir lassen euch in Ruhe. Am 24. Februar wurde klar, dass dieser Pakt eine Illusion war."
"Im Land zu bleiben,
bedeutet, das Geschehen zu unterstützen."
Am 24. Februar wurde Maria von ihrer Freundin mit den Worten "Der Krieg hat begonnen" geweckt. "Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn das eigene Land ein anderes angreift und man nichts dagegen tun kann", sagt sie heute. "Im Land zu bleiben, bedeutet, das Geschehen zu unterstützen."
Maria kaufte das erste verfügbare Flugticket – es ging nach Usbekistan. Und sie sagt: "Ich bin für immer gegangen."
Dabei erinnert sich Maria an ihre Eltern. Wahrscheinlich, sagt sie, sei es ihnen genauso gegangen, als sie die UdSSR verließen. "Ich habe wirklich versucht, mich für Russland einzusetzen, in seine glänzende Zukunft zu investieren – aber wohin sich das Land jetzt bewegt..." Sie beendet ihren Satz nicht.
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"Gebt uns einfach Waffen und wir erledigen den Job" – ein Satz, der bei mir hängen geblieben ist. Vor einem Jahr fragte ich einen ukrainischen Soldaten, ob er sich davor fürchte, dass Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehren könnte. Schließlich äußerte sich der Republikaner immer wieder kritisch zu den Ukraine-Hilfen.