Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine geriet die Russin Polina Oleinikova immer mehr ins Visier der Regierung. Am Ende floh sie gemeinsam mit ihrem Mann Arshak Makiychan – nach Berlin.
Übergangsweise, wie Oleinikova damals sagte. Denn Russland war trotz des grausamen Krieges in der Ukraine, trotz Putin und trotz aller Gefahren, denen sie sich aufgrund ihrer Proteste selbst auslieferten, ja immer noch ihre Heimat.
Jetzt, zwei Monate später, hat Oleinikova ihre Meinung geändert. Nach Moskau zurückzugehen, kommt für sie nicht länger in Frage. "Hier bin ich nützlicher als in Russland im Gefängnis", sagt sie im Gespräch mit watson.
Still zu sein und nicht länger darauf aufmerksam zu machen, was alles falsch läuft in Russland, ist für sie keine Option. Oleinikova sagt: "Putin war ein Monster lange vor Kriegsbeginn in der Ukraine – die Menschen haben seine Gräueltaten einfach ignoriert."
Da war der Zweite Tschetschenienkrieg von 1999 bis 2009, den Putin offiziell als "Anti-Terror-Operation" deklarierte – weil es zu einer Anschlagsserie auf Wohnblöcke in Moskau und anderen Städten gekommen war, bei denen Hunderte Menschen getötet wurden. Verantwortlich dafür machte Putin tschetschenische Terroristen – und erklärte ihnen den Krieg.
Da war der Kaukasus-Krieg: Anfang der 1990er Jahre hatten die zwei Regionen Georgiens Abchasien und Südossetien einseitig ihre Unabhängigkeit erklärt. Anerkannt wurde dies nicht – weder von Georgien, noch von der internationalen Gemeinschaft. Das führte immer wieder zu Unruhen.
2008 verdichteten sich Hinweise auf einen bevorstehenden Angriffskrieg von Russland auf Georgien. Als es im Sommer zu einer Eskalation der Konflikte in Südossetien kam, schickte Georgien Truppen in die Region – um die Lage zu beruhigen.
Russland reagierte mit einem Angriff auf Georgien und besetzte neben Abchasien und Südossetien auch weitere Gebiete im Land. Die Argumentation Moskaus für den Angriff: Man habe die Bürgerinnen und Bürger vor den Aggressionen Georgiens schützen wollen.
2014 folgten die Annexion der Krim und Krieg in der Ostukraine: Denn die Orientierung der Ukraine Richtung Westen bezeichnet Russland (übrigens bis heute) als potenzielle Sicherheitsbedrohung – Putin fürchtete um seinen Einfluss und behauptet auch weiter, das westliche Verteidigungsbündnis Nato habe sein Land eingekesselt.
Im Februar 2014 besetzten russische Spezialeinheiten die Halbinsel Krim – einer offiziellen Erklärung nach um "russische Landsleute dort zu schützen". Man sprach in Moskau gar von einem Genozid an russischen Bürgerinnen und Bürgern.
Im März annektierte Russland die Krim völkerrechtswidrig.
2015 dann folgte der Krieg in Syrien: Während westliche Länder klar Stellung gegen das Assad-Regime bezogen, versuchte Russland durch diplomatischen Schutz und militärische Lieferungen an die syrische Regierung das Überleben des Regimes sicherzustellen. Eine militärische Intervention rechtfertigte Russland mit einem Hilfegesuch des syrischen Präsidenten. Assad kann sich dank der militärischen Unterstützung Russlands im Bürgerkrieg behaupten – er regiert den Großteil des Landes.
Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges in der Ukraine seit Februar 2022 machen Aktivistinnen und Aktivisten immer wieder auf Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen seitens Russland aufmerksam. Auch die russische Aktivistin Polina Oleinikova. Sie will die Aufmerksamkeit zurück auf Putins Kriegsverbrechen lenken, allem voran auf die Gräueltaten in der Ukraine.
Zu schnell hätten sich die Menschen an die Nachrichten über die Grausamkeiten in der Ukraine gewöhnt. Zu schnell würden sie vergessen, worum es dabei wirklich geht: die Schicksale tausender Menschen.
Also schloss sich Oleinikova mit fünf weiteren Frauen zusammen, um eine feministische Anti-Kriegs-Initiative zu gründen – sie nennen sich "Femay" – "Feminists against Russian imperialism & war aggression".
Die Gruppe besteht aus zwei Ukrainerinnen und drei russischen Aktivistinnen, wie Oleinikova erklärt. Die beiden Ukrainerinnen hätte sie bei Aktionen kennengelernt. Da wäre Olga, die sich mit Oleinikova solidarisierte, als sie vor der russischen Botschaft einen dreitägigen Hungerstreik durchzog. Und Katya, die bei einem eigenen Protest darauf aufmerksam machen wollte, dass Ukrainerinnen von russischen Militärkräften vergewaltigt und geschlagen würden.
Während Oleinikova bei früheren Protesten oft Missmut und Argwohn entgegen gebracht worden sei, verstanden Olga und Katya ihre Intentionen gleich: "Sie kannten meine politischen Positionen von Anfang an", erzählt sie gegenüber watson. "Dass wir zusammengefunden haben, bedeutet mir viel."
Sie schreiben Briefe an politische Gefangene in Russland, "die inhaftiert wurden, weil sie sich gegen den Krieg in der Ukraine ausgesprochen haben". Sie protestieren, versuchen in den sozialen Medien aufzuklären.
Und manchmal greifen sie zu drastischeren Mitteln – "weil alles andere nicht mehr hilft".
Triggerwarnung: Nachfolgend sind sexualisierte und gewaltvoll inszenierte Bilder zu sehen. Diese Bilder könnten retraumatisierend sein.
"Wir wollen die Menschen aufwecken, sie daran erinnern, was für furchtbare Verbrechen genau jetzt in der Ukraine geschehen", sagt Oleinikova. "Es ist ein verzweifelter Aufschrei, dass wir nicht vergessen dürfen, was für fürchterliche Kriegsverbrechen gerade geschehen."
Fünf junge Frauen, nackt, die Körper bedeckt mit Kunstblut – in Form eines "Z" – dem russischen Zeichen für "Za Pobedu" – "Für den Sieg". Das Z steht für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wer den Buchstaben in Deutschland zeigt, kann sich strafbar machen.
Oleinikova sagt:
Und das wollen sie den Menschen vor Augen führen.
Und weil die Gräueltaten so furchtbar seien, müssten das auch die Aktionen sein.
Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte.
"Jetzt ist nicht die Zeit, moderat zu handeln und mit Menschen, die Massenvergewaltigungen und Genozide arrangieren, nach Kompromissen zu suchen", betont Oleinikova.
Und offen funktioniert es.
Die Menschen bleiben stehen.
Fragen, was los sei, was sie da machen würden.
Und sie starren, perplex. Über das Blut, über die Brutalität der Aktion.
"Wir bekommen viele Rückmeldungen – von Ukrainern, die uns für unsere Solidarität und radikale Ehrlichkeit danken, mit der wir den Horror aus dem Kriegsgebiet darstellen, aber auch von Russen, die die Aktion triggert, sich selbst mehr in Anti-Kriegs-Aktionen einzubringen", erzählt Oleinikova.
Genau das wollte sie erreichen.
"Ich glaube, es braucht gerade jetzt radikalere Aktionen, denn die Kriegsverbrechen geschehen weiter, aber viele Leute engagieren sich nicht mehr so aktiv wie zu Beginn des Krieges", sagt die Aktivistin.