Die Vorstellung, dass ein kalter Winter Europa in die Knie zwingen würde, ist weitverbreitet in Russland. So machte bereits im September in den sozialen Medien ein russisches Propagandavideo die Runde.
In der ersten Sequenz des Videos sieht man einen Mann in Gazprom-Uniform, der einen Gashahn abgedreht. Kalter Nebel zieht über das Land, die Landschaften sind mit Schnee bedeckt. Das Video wird von einem Lied begleitet, welches bereits 2015 von der russischen Sängerin Warwara Wizbor veröffentlicht wurde. Zu Deutsch heißt das Lied: "Der Winter wird groß sein."
Bis dato blieb der kalte Winter in Europa aus. Russland scheint ein weiteres Mal falsch zu liegen, denn kein europäisches Land erwägt aufgrund eines "großen Winters", die Sanktionierung Russlands zu beenden.
Europa hat aktuell – entgegen den Hoffnungen Putins – genug Gas. Dies bestätigt Christian Opitz, Leiter des Kompetenzzentrums Energy Management (ior/cf-HSG) der HSG. Er sagt, dass die Versorgungssicherheit in Nordeuropa trotz der Pipeline-Transporteinschränkungen stabil sei. Als Grund nennt er die gesteigerten Importe von Flüssiggas sowie eine Erhöhung der norwegischen Produktion zugunsten der europäischen Versorgung.
Er hält zudem fest: "Aufgrund der hohen Temperaturen können seit Ende Dezember die meisten europäischen Gasspeicher sogar wieder gefüllt werden; derzeit liegt der durchschnittliche Füllstand bei rund 83 Prozent."
Es ist nicht das erste Mal, dass Putin falsch gepokert hat: Der Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands, Ulrich Schmid, ist überzeugt, dass Putin schon vor Kriegsbeginn falsche Annahmen getroffen habe.
Bereits Ende 2021, also noch vor Kriegsausbruch, sind die Gaspreise in ganz Europa gestiegen. Dies sei auf eine Mangellage zurückzuführen gewesen, erklärt der Professor. Russland habe den Gaspreis damals nicht selbst in die Höhe getrieben. Schmid präzisiert: "Gleichzeitig hat Russland aber auch nichts unternommen, um den Preis wieder zu senken."
Die hohen Gaspreise hätten Russland natürlich in die Karten gespielt, deshalb habe Russland bewusst nichts gemacht, um den Preisen entgegenzuwirken: "Ein Teil von Putins Kalkül war, dass die Sanktionen sicher nicht so stark ausfallen würden, weil die Situation am Gasmarkt schon angespannt war. Das war aber nicht der Fall. Das war eine von vielen Fehlkalkulationen Putins", so Schmid.
Wladimir Putin habe nicht nur den Widerstandswillen der ukrainischen Armee unter- und die Kampfkraft seiner eigenen Truppen überschätzt, sondern er habe auch nicht damit gerechnet, dass der Westen Russland so massiv sanktionieren würde, erklärt der Russland-Experte.
"Deutschland hat extrem schnell Sanktionen im Gasbereich ergriffen. Am 21. Februar, also noch vor dem offiziellen Beginn des Krieges, hat Deutschland das Zertifizierungsverfahren für Nord Stream 2 eingestellt, das war selbst für mich eine unerwartete Entwicklung", betont Schmid.
Der Professor konkretisiert, dass schon das ein Schlüsselmoment hätte sein müssen für den Präsidenten: "Putin hätte damals bereits merken müssen, dass der Westen nicht mit Gas erpressbar sein würde, wenn es zu einem kriegerischen Überfall der Ukraine kommt."
Schmid führt einen weiteren Punkt auf, bei dem Putin falsch lag: die Auswirkung der Explosionen bei den Nord Stream-Pipelines im September. Der Experte hält fest, dass die Explosionen wahrscheinlich kein Sabotageakt Russlands gewesen seien.
Es gebe für Russland keinen Grund, diese Infrastruktur nachhaltig zu zerstören, weil die Energielieferungen in den Westen schon durch das Zudrehen des Gashahns gestoppt werden könnten, sagt Schmid.
Im Nachgang dieser Explosionen habe der russische Präsident an einem Energieforum in Moskau gesagt, dass Russland dem Westen wieder Gas liefern würde, wenn der Westen seine Sanktionen aufheben würde. Schmid hält fest: "Das war ein weiteres Wunschdenken."
Doch damit nicht genug, jetzt machen die milden Temperaturen dem Kremlchef erneut einen Strich durch die Rechnung: "Der warme Winter in Europa ist ein harter Schlag für Putin", so Schmid.
Trotz der hohen Temperaturen und voller Gasspeicher sollte man sich aber nicht in falscher Sicherheit wiegen, erklärt der Energie-Experte Opitz.
"Die vollen Gasspeicher und die milden Temperaturen sind eine Momentaufnahme, die Situation kann sich schnell wieder zuspitzen", hält er fest. Der HSG-Dozent fügt an, dass der jüngste Kälteeinbruch in den USA deutlich zeigen würde, dass sich auch in Europa die Situation sehr schnell wieder ändern könne.
Opitz betont, dass es immer – auch wenn keine akute Mangellage bestünde – ratsam sei, mit Strom und Gas sparsam umzugehen: "Alle Ressourcen, die wir jetzt nicht benötigen, können wir für einen späteren Zeitpunkt aufsparen."