Sowohl Russland als auch die Ukraine erleiden im Ukraine-Krieg schwere Verluste. Zahlreiche Soldaten müssen für die Gefechte ihr Leben lassen, teils für geringe Landgewinne. Russland nutzt bei seinen Angriffen oft seinen größten Vorteil: die zahlenmäßige Überlegenheit. So werden bei "Wellenangriffen" zahlreiche Soldaten auf ukrainische Stellungen angesetzt. Bei Kämpfen in der Stadt Chasiv Yar soll sich zuletzt das ukrainische Militär aus dem Kanal-Distrikt zurückgezogen haben.
Das Militär beider Parteien setzt im Krieg auf immer neue Methoden, um dem Gegner die Stirn zu bieten. Kiew etwa verwendet aktuell vermehrt Drohnen. Ein Problem für die Truppen von Kreml-Machthaber Wladimir Putin, denn sie fordern hohe menschliche Verluste. Aktuell reagiert Moskau offenbar mit einer Motorrad-Taktik auf die ukrainische Verteidigungsstrategie.
Auf dem russischen Fernsehsender NTW berichtete Korrespondent Sergej Pikulin stolz über die Eroberung des Dorfes Staromajorskoje in der Region Donezk durch russische Truppen. Pikulin erklärte: "Der Feind dachte, die Russen würden frontal und mit schwerem Gerät angreifen. Aber im Nebel haben die Ukrainer nicht bemerkt, wie unsere Kämpfer auf Motorrädern hinter ihrem Rücken auftauchen."
Ein russischer Soldat, der sein Gesicht verdeckt hielt, zeigte ukrainische Militärabzeichen als Trophäen und bestätigte: "Der Gegner hatte keine Zeit zu reagieren." Die Kamera zeigte anschließend sein schwarz-grünes Motorrad.
In jüngster Zeit sind vermehrt Aufnahmen von russischen Soldaten auf Motorrädern in russischen und ukrainischen Telegram-Kanälen zu sehen, wie der "Spiegel" berichtet. Diese Bilder verdeutlichen demnach eine neue, punktuelle Einsatztaktik der russischen Armee. Die Truppen Russlands versuchen, durch den Einsatz von Motorrädern und Quads Geländegewinne zu erzielen und eigene Verluste zu minimieren.
Der Ablauf dieser Angriffe folgt dem Bericht zufolge einem festen Muster: Zuerst beschießt die russische Artillerie die ukrainischen Stellungen, um den Gegner zum Rückzug zu zwingen. Danach stürmen Russland-Kämpfer auf Motorrädern, unterstützt von Drohnen und Artillerie, schnell und unauffällig die verlassenen Positionen.
Mit dieser Taktik reagiert Russland auf die Abwehr der Ukraine. Der unabhängige Militärexperte Walerij Schirjajew erklärt gegenüber dem "Spiegel": "An der Front jagen etwa zwei Drohnen einen Soldaten. Auf wichtigen Frontabschnitten sogar vier oder mehr." Diese Tatsache erschwere Sturmangriffe enorm. "Kaum jemand schafft es, die Distanz zur gegnerischen Stellung zu Fuß zu überwinden", sagt er.
Auch gepanzerte Fahrzeuge seien ein leichtes Ziel für Drohnen, erläutert Schirjajew weiter. Ein Treffer bedeutet oft den Tod aller Insassen. Motorräder hingegen ermöglichen eine bessere Verteilung der Soldaten auf dem Feld. Aus diesem Grund kommen auch Quads und Buggys zum Einsatz. Bereits Ende letzten Jahres kaufte der Kreml Tausende chinesische Desertcross-Geländefahrzeuge, die auf den ersten Blick Golfkarts ähneln.
Russland nutzt Motorräder nicht nur für Angriffsaktionen, sondern auch zur Versorgung, Evakuierung und den Transport. Ein Video auf Telegram zeigt dem Bericht zufolge, wie ein russischer Soldat auf einem Motorrad Wasser und Munition zu seinen Kameraden an der Front bringt. Nachdem er den Verwundeten aufgeladen hat, fährt er sofort zurück. Der gesamte Vorgang dauert weniger als 30 Sekunden.
Aber: "Motorräder sind kein Ersatz für schweres Gerät, sondern eine Ergänzung", betont Walerij Schirjajew. Soldaten auf Motorrädern sind ungeschützt und anfällig für feindlichen Beschuss, was häufig zu katastrophalen Folgen führt.
Auch Ruslan Lewijew, Leiter des Conflict Intelligence Teams (CIT), äußerte sich laut "Spiegel" auf YouTube kritisch zu den Motorradangriffen: "Das ist absurd. Ein Motorrad ist für Kampfeinsätze völlig ungeeignet." Er verwies auf Schwierigkeiten in unwegsamem Gelände und den Motorlärm, der es unmöglich macht, Drohnen zu hören.
Die USA setzten während des Afghanistan-Krieges ab 2001 ebenfalls Motorräder ein, entwickelten jedoch geräuscharme Versionen. Diese Maschinen waren besser für das bergige Terrain geeignet als für den flachen Donbass. Auch unter prorussischen Kriegsbloggern gibt es geteilte Meinungen. Während einige den "neuen Trend" loben, bezeichnen andere die Befehle als "kriminell" und "unprofessionell". Trotz hoher Verluste erreichen die Überlebenden oft die gegnerischen Stellungen, was als Erfolg gewertet wird.
Die russische Armee wird nicht vom Verteidigungsministerium mit Motorrädern ausgerüstet, sondern von Freiwilligen. Soldaten kaufen die Fahrzeuge oft aus eigener Tasche. Ein regionales Medium aus Belgorod berichtete laut "Spiegel" kürzlich von einem gestohlenen Motorrad.
Am häufigsten werden chinesische Motocross-Motorräder verwendet, die etwa 1500 Euro kosten und keinen Sanktionen unterliegen. Einige sind zusätzlich mit Anti-Drohnen-Systemen oder Metallplatten versehen.
Die Anzahl der Aufrufe zur Spende für Motorräder stieg im vergangenen Monat. Der "Spiegel" fand ein Dutzend solcher Anzeigen auf Telegram, in denen um die Finanzierung von bis zu 70 Fahrzeugen gebeten wird. Militärexperte Schirjajew prognostiziert, dass Motorräder an der Front "zum Massenphänomen werden".