Seit fast zwei Wochen gehen in den USA Tausende Menschen auf die Straße, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu protestieren. US-Präsident Donald Trump setzt auf Härte, er erwog, das Militär gegen die Protestierenden einzusetzen. Wie viel Verantwortung trägt er für die Eskalation im Land?
Darüber diskutierten am Sonntagabend die Gäste bei "Anne Will" – und landeten am Ende in Deutschland. Gibt es auch hier ein Rassismus-Problem? Bei dieser Fragen gerieten Politiker Nobert Röttgen und Cem Özdemir aneinander.
Der gewaltsame Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz hat zu einer Protestwelle in den USA geführt – teilweise begleitet von schweren Ausschreitungen. Während viele friedlich demonstrieren, kommt es auch immer wieder zu Plünderungen und Gewalt. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), sieht mehrere entscheidende Faktoren für die Eskalation:
Gemeint sind die Covid-19-Pandemie, die dadurch verursachte wirtschaftliche Krise und die Proteste. Röttgen ist davon überzeugt, dass Präsident Trump gar nicht versuche, der Präsident aller zu sein, sondern dass er das Land weiter spalten wolle. Für Trump sei es nur wichtig, die Wahl im November zu gewinnen – wenngleich mit knapper Mehrheit und Unterstützung durch die rechte Szene: "Er fühlt sich unter Druck gesetzt. Er schlägt um sich, er ist nervös."
Doch könnten die jetzigen Proteste einer Wiederwahl Trumps im Wege stehen? Christoph von Marschall, diplomatischer Korrespondent der "Tagesspiegel"-Chefredaktion, glaubt, dass dies davon abhängt, wie friedlich die Demonstrationen verlaufen. Bereits 2016, als die "Black Lives Matter"-Bewegung einen Höhepunkt erreichte, sollen sich auch Radikale der Bewegung angeschlossen und gezielt Schüsse auf weiße Polizisten abgefeuert haben: "Wenn es zu solchen Ausschreitungen kommt, hat Trump bessere Chancen wiedergewählt zu werden", sagte von Marschall.
Stefan Simons, Korrespondent der Deutschen Welle, hat in der vergangenen Woche immer wieder live von den Protesten aus den USA berichtet, auch aus Minneapolis, wo George Floyd starb. Was er beschrieb, bezeichnete selbst Moderatorin Anne Will als "schockierend".
Simons beschrieb weiter das Problem einer strukturellen Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung in den USA – insbesondere im Polizei- und Justizsystem. Er sagte, es gebe Staaten, die Verträge mit privaten Gefängnisbetreibern hätten, die für eine Auslastungsquote von 95 Prozent sorgen müssten. Während die Kriminalität unter Schwarzen sinke, erhöhten sich die Arrestzahlen: "So wird die Quote erfüllt und die Weißen verdienen Geld daran." Der Journalist erklärte, die schwarze Bevölkerung säße auf "einem Feuerkessel, der zu explodieren droht".
Von Marschall erkannte zwar an, dass es eine strukturelle Diskriminierung gegen Schwarze in den USA gebe, betonte aber, dass sich viele Polizisten auch solidarisch mit den Protestierenden zeigten. Er sagte, dass man sich die historische Entwicklung im Land anschauen müsse und dass sich vieles für Minderheiten verbessert habe, angefangen beim Ende der Sklaverei bis zur Wahl Barack Obamas zum ersten schwarzen Präsidenten der USA. Warum sich die Dinge jedoch nur langsam veränderten, erklärte er folgendermaßen:
Da ging nicht nur Alice Hasters, Buchautorin und Podcasterin, direkt dazwischen und erklärte von Marschall, dass der strukturelle Rassismus, bei dem Menschen seit 400 Jahren diskriminiert würden, genau zu solchen Ergebnissen führen könne. Auch Grünen-Politiker Cem Özdemir wurde lauter:
Der ehemalige Grünen-Bundesvorsitzende mahnte an, dass sich die Weißen in den USA fragen sollten, in welchem Land sie leben wollen – dasselbe gelte auch für Deutschland. Das sah Röttgen anders: "Das, was wir definitiv nicht haben, ist das, worüber wir gerade gesprochen haben: Das ist dieser institutionalisierte Teil als Teil der Polizei, als Teil des Justizsystems, eine Verwobenheit von Rassismus und Teilen des Staates, vor allem des gesamten Polizei- und Justizsystems."
Seiner Meinung nach gebe es zwar Rassismus, aber die Gesellschaft sei bereit, darüber zu reden. Dem widersprach nicht nur Özdemir an diesem Abend, sondern auch die Kolumnistin und Autorin Samira El Ouassil.
Die Kommunikationswissenschaftlerin nannte unterschiedliche rassistisch motivierte Morde aus den vergangenen Jahren und sprach auch den NSU oder paramilitärische Organisationen in der Bundeswehr an, die Nazi-Devotionalien sammelten. Sie glaubt sehr wohl an strukturellen Rassismus in Deutschland. Dann versuchte Röttgen, ein wenig zurückzurudern und sagt: "Ja, vielleicht auch in manchen Strukturen, aber wir haben einen Willen, das anzugehen."
Er nannte dafür als Beispiel einen Kabinettsausschuss, der sich um Rechtsextremismus und Rassismus kümmern soll. Hier fiel ihm Özdemir ins Wort: "Ja, jetzt haben wir den."
"Ja, jetzt...", versuchte Röttgen zu antworten. Aber der Grünen-Politiker hatte sich schon in Rage geredet: "Nach dem Mord an Walter Lübcke. Dieses Verbrechen hat uns wachgerüttelt. Vorher gab es das nicht." Er erinnerte unter anderem an den Rostocker Stadtteil Lichtenhagen, wo es 1992 zu massiven rassistisch motivierten Ausschreitungen gegen Asylbewerber kam: "Menschen haben versucht, andere Menschen anzuzünden. Und was hat die Polizei gemacht? Mit potenziellen Mördern verhandelt. Der Staat hat einfach weggeschaut!" Dann sprach er seinen Bundestagskollegen mit "Du" an und sagte:
Mit diesen Worten Özdemirs beendete Anne Will dann auch die Sendung und sagte am Ende: "Wir lernen, dass wir rechtzeitig hinschauen müssen."
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung des Artikels hat watson Norbert Röttgens Zitat zum institutionellen Rassismus im Polizei- und Justizsystem stark verkürzt wiedergegeben. Wir bitten diese Auslassung zu entschuldigen.