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Experte: Europa könnte Supermacht werden, Deutschland als Schlüssel

Montagsgespräch Wehrpflicht , Gerald Karner Militärexperte Experte
Gerald Karner warnt: Europa muss lernen, strategisch zu denken – und Verantwortung zu übernehmen.Andy Urban
Interview

Militär-Experte Karner: "Europa kann zur Supermacht werden"

Militärexperte Gerald Karner über Europas starke Rolle in der Welt, Deutschlands Schlüsselrolle und warum die junge Generation dabei entscheidend sein wird.
25.10.2025, 15:1025.10.2025, 15:10

Der frühere Generalstabsoffizier und Militärexperte Gerald Karner glaubt, dass Europa stärker ist, als es sich selbst zutraut und wieder zu einer gestaltenden Kraft werden kann. In seinem neuen Buch "Der unterschätzte Kontinent" zeichnet er eine trotz Krisen mögliche starke Zukunft Europas.

Im Gespräch mit watson erklärt Karner, warum der Kontinent so lange bequem war, weshalb Deutschland eine Schlüsselrolle spielt – und warum die junge Generation entscheidend sein wird.

Watson: Herr Karner, wenn man sich die Weltlage ansieht, wirkt Europa gerade schwach. Krieg in der Ukraine, Instabilität an den Grenzen, die USA orientieren sich zunehmend nach innen. Viele haben das Gefühl, Europa wird abgehängt. Sie sagen hingegen: Der Kontinent kann zur Supermacht werden. Woher nehmen Sie diesen Optimismus?

Gerald Karner: Mein Optimismus ist kein Wunschdenken, sondern das Ergebnis einer nüchternen Analyse. Wir haben die Angewohnheit, uns kleinzureden. Während andere Mächte ihre Erfolge inszenieren, neigen wir dazu, unsere Fehler zu überhöhen. Europa hat gewaltige Ressourcen: wirtschaftlich, technologisch, kulturell. Wir sprechen von einem Raum mit rund 500 Millionen Menschen. Das ist eine enorme Basis. Die entscheidende Frage lautet: Wollen wir überhaupt gestalten? Ich behaupte nicht, dass Europa schon eine Supermacht ist, aber es könnte eine werden – wenn es den Willen dazu entwickelt.

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Russlands Krieg in der Ukraine stellt Europas Sicherheit auf den Prüfstand.Bild: AP / Evgeniy Maloletka

In Ihrem Buch schreiben Sie, Europa sei vom Gestalter zum Zuschauer geworden. Wann ist das passiert?

Spätestens in den 1990er-Jahren. Nach dem Kalten Krieg glaubte man, Geschichte sei erledigt. Man sprach von der "Friedensdividende", reduzierte Armeen und setzte auf Wohlstand. Europa lehnte sich zurück, während die USA die sicherheitspolitische Verantwortung übernahmen. Dadurch ist ein entscheidender Teil des Gestaltungswillens verloren gegangen. Europa hat aufgehört, strategisch zu denken – und das rächt sich jetzt.

Europa hat lange eher auf das Motto "Wandel durch Handel" gesetzt. War das rückblickend naiv?

Es war gut gemeint, aber in Teilen naiv. Die Idee, dass wirtschaftliche Verflechtung automatisch Frieden schafft, hat sich nicht erfüllt. Russland und China haben den Handel genutzt, ohne sich zu demokratisieren. Wir haben ökonomisch profitiert, politisch aber an Einfluss verloren.

Wenn Sie auf die Welt schauen: Russland, China, die USA – wo liegt derzeit die größte Gefahr für Europa?

Die größte Gefahr liegt in uns selbst, in unserer Passivität. Russland bleibt eine militärische Bedrohung, China eine strategische, und die USA ein zunehmend unberechenbarer Partner. Wenn Europa nicht lernt, eigenständig zu handeln, bleibt es Spielball fremder Interessen.

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China und Russland stellen eine Bedrohung für die Weltordnung dar.Bild: imago images / Sofya Sandurskaya / TASS

Sie fordern, Europa müsse wieder "strategisch denken". Wie?

Es heißt, langfristig zu planen – nicht von Wahl zu Wahl, sondern von Generation zu Generation. Wir müssen uns fragen: Welche Interessen hat Europa in zwanzig, dreißig Jahren? Welche Technologien brauchen wir? Welche Allianzen? Diese Art von Denken haben wir verlernt. Wir reagieren kurzfristig, statt langfristig zu gestalten. Wir warten immer auf den perfekten Moment – auf Einigkeit, auf komplette Planung, auf ideale Rahmenbedingungen. Aber Politik funktioniert so nicht. Man muss manchmal einfach beginnen, auch wenn noch nicht alles geregelt ist.

Europa hat etwa begonnen, massiv aufzurüsten. Sie werten das positiv?

Ja, aber wir sprechen immer noch von einem sehr niedrigen Niveau. Jahrzehntelang wurde zu wenig in Verteidigung investiert. Die jetzige Aufrüstung ist notwendig, um politisch handlungsfähig zu sein. Diplomatie funktioniert nur, wenn sie militärisch unterlegt ist.

Sie kritisieren, dass viele – auch politische Entscheidungsträger – zu wenig über Außen- und Sicherheitspolitik wissen. Ist das ein Grund für Europas Zögerlichkeit?

Absolut. Wir haben eine ganze Generation, die in Frieden aufgewachsen ist und Krieg gar nicht mehr für möglich hält. Dieses Denken hat Politik und Gesellschaft geprägt. Aber Frieden ist kein Naturzustand. Er muss immer wieder gesichert werden, notfalls militärisch. Das wieder zu begreifen, ist die größte mentale Herausforderung für Europa.

In Ihrem Buch sind Sie besonders kritisch mit Deutschland. Warum?

Weil Deutschland der Schlüssel ist. Es ist das wirtschaftlich stärkste Land Europas, aber sicherheitspolitisch noch immer zu zögerlich. Die "Zeitenwende" darf kein Schlagwort bleiben. Sie muss sich in Strukturen zeigen: in einer verlässlichen Außenpolitik, einer modernisierten Bundeswehr, einem realistischen Verständnis von Verantwortung. Führung bedeutet hier nicht Dominanz, sondern kooperatives Gestalten im europäischen Verbund. Gerade die enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien, ist entscheidend. Diese drei Staaten bilden das Rückgrat der europäischen Sicherheit. Wenn sie koordiniert handeln, kann daraus ein echter geopolitischer Faktor entstehen.

Gleichzeitig wächst innenpolitisch der Druck, etwa durch die AfD und soziale Missstände. Kann Deutschland beides stemmen: militärische Stärke und gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Es muss. Innere und äußere Sicherheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer Bildung, Integration und sozialen Zusammenhalt vernachlässigt, gefährdet auch die äußere Stabilität. Deutschland kann beides schaffen, wenn Politik ehrlich über Prioritäten spricht und erklärt, warum bestimmte Investitionen notwendig sind.

Die politische Kommunikation hat in den vergangenen Jahren die Verunsicherung eher wachsen lassen.

Ja. Was häufig fehlt, ist eine ehrliche Kommunikation. Es werden sicherheitspolitische Entscheidungen getroffen, ohne sie ausreichend zu erklären. Das schafft Distanz zwischen Politik und Bevölkerung. Wenn die Regierung plötzlich Milliarden für Verteidigung ausgibt, aber niemand versteht, warum das notwendig ist, entsteht ein Vakuum – und dieses Vakuum füllen Populisten und Desinformation. Transparenz ist kein Luxus, sondern Teil der Verteidigungsfähigkeit. Demokratien müssen lernen, komplexe Entscheidungen verständlich zu machen, ohne sie zu trivialisieren. Das ist etwas, was Autokratien gar nicht leisten müssen, aber was Demokratien stark macht.

Sie betonen auch immer wieder die Bedeutung von Bildung. Warum ist sie für Europas Stärke so zentral?

Weil Bildung die Grundlage politischer Mündigkeit ist. Eine gebildete Gesellschaft versteht Zusammenhänge, lässt sich weniger manipulieren und kann Verantwortung tragen. Das gilt besonders für die junge Generation: Sie muss verstehen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, sondern eine Aufgabe.

Viele junge Menschen wachsen gerade mit Krisen auf: Krieg, Klimawandel, Desinformation. Welche Rolle haben sie in Europas Zukunft?

Eine entscheidende. Junge Menschen haben den Vorteil, dass sie weniger festgefahren sind. Sie sehen klar, was auf dem Spiel steht: Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaat. Ich beobachte heute eine Generation, die global denkt, solidarisch ist und Verantwortung übernehmen will. Das stimmt mich optimistisch.

Und was würden Sie einer 20-Jährigen sagen, die an Europa zweifelt?

Ich würde sagen: Du lebst auf dem freiheitlichsten Kontinent der Erde. Hier darfst du denken, sagen und schreiben, was du willst. Du kannst reisen, dich bilden, deine Zukunft gestalten. Das ist keine Selbstverständlichkeit – und es kann verloren gehen. Wenn wir wollen, dass Europa ein Ort der Freiheit bleibt, müssen wir bereit sein, es zu verteidigen – politisch, gesellschaftlich und, wenn nötig, auch militärisch.

Gerade Autokratien scheinen handlungsfähiger, weil sie schneller entscheiden können. Kann Demokratie da überhaupt mithalten?

Das ist der große Trugschluss. Autokratien entscheiden schneller, ja – aber sie korrigieren keine Fehler. Demokratien sind langsamer, aber stabiler. Was dort beschlossen wird, ist demokratisch legitimiert und sollte daher Bestand haben. Geschwindigkeit darf man nicht mit Stärke verwechseln. Hinzu kommt: Der Wunsch nach Freiheit ist universell. Er lässt sich unterdrücken, aber nicht langfristig auslöschen.

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