Seit dieser Woche gelten erste von Bund und Ländern beschlossene Lockerungen der Corona-Maßnahmen. Die Umsetzung in den einzelnen Bundesländern hat Bundeskanzlerin Angela Merkel als teilweise "zu forsch" kritisiert. Zwar nannte die Kanzlerin keine Namen. Doch einer, den sie gemeint haben könnte, saß am Sonntagabend bei "Anne Will": der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet (CDU).
Eigentlich sollte es bei der Talkrunde um die Sorge vor einer zweiten Infektionswelle gehen – doch am Ende lief es vor allem auf ein Duell zwischen Laschet und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hinaus. Am Schluss gab es dann noch ein weiteres Battle, und zwar zwischen FDP-Chef Christian Lindner und Lauterbach.
Doch zunächst spricht der Ministerpräsident. Vor Kurzem hatte Laschet noch von "Leben und Tod" gesprochen, um die Schutzmaßnahmen gegen die weitere Ausbreitung des Coronavirus zu verteidigen. Nun singt er seit einigen Tagen ein anderes Lied und kann die Sorge der Kanzlerin nicht mehr nachvollziehen: "Man muss abwägen, welche weiteren Schäden die Maßnahmen haben. Was bedeutet das, wenn Kinder sechs Wochen zu Hause sind, keine Kita, keine Schule. Kinderärzte mahnen uns, was das für Schäden hinterlassen wird."
Das lässt der Epidemiologe Lauterbach nicht so stehen: "Wir haben bisher nichts gewonnen. 60 Prozent der Menschen, die intensivmedizinisch beatmet werden müssen, sterben. Merkel hat recht, die Lockerungen gehen zu weit."
Der SPD-Politiker ist der Meinung des Helmholtz-Zentrums, welches sich gegen die beschlossenen Lockerungen ausgesprochen hat. "Wir hätten noch zwei, drei Wochen so weitermachen sollen wie gehabt und die Fälle drücken. Dann hätten wir jede Neuinfektion nachvollziehen können. Wir hätten das Südkorea Europas werden können."
Damit sind die Fronten klar abgesteckt. In der Folge liefern sich Laschet und Lauterbach einen Streit, bei dem vor allem der Ministerpräsident sich richtig in Rage redet. Man wisse gar nicht mehr, was richtig und was falsch sei, alle Virologen würden unterschiedliche Aussagen treffen:
Als Beispiel nimmt er sich Alexander Kekulé vor. Der habe seine Meinung seit Ausbruch der Krise bereits mehrfach geändert. "Vor drei Wochen saß der noch hier in der Sendung und hat alles für verrückt erklärt, was die Politik macht. Es müsste noch strenger sein. Und im neuen 'Spiegel' schreibt er, es ist viel zu viel."
Die Politiker seien auf den klugen Rat der Virologen angewiesen. Wenn sich jedoch die Meinung alle paar Tage ändere, sei das für die Politik schwierig.
"Sie stellen das so dar, als würden die Virologen die Politiker verwirren. Dabei sind das unterschiedliche Ausdrucksweisen desselben Ziels", kontert Lauterbach, und erklärt auch nochmal, was dieses Ziel ist:
Dann führte Lauterbach, der selbst Epidemiologe ist, seinem Kontrahenten vor, wie die jeweiligen Zahlen zustande gekommen sind und fügte hinzu: "Dass sich Epidemiologen widersprechen, ist schlichtweg falsch."
In Bezug auf Kekulé räumt er zwar ein, dass dieser eine Art Sonderfall sei, verweist aber auch darauf, dass beispielsweise Jonas Schmidt-Chanasit oder Christian Drosten stets sehr gut begründete und nachvollziehbare Aussagen träfen. Das bisher Erreichte sei nichts wert, wenn es eine zweite Welle gebe, betont er immer wieder eindringlich.
Dann streitet sich Laschet sich mit der Grünen-Chefin Annalena Baerbock darüber, weshalb für die Schulöffnungen kein genaues Hygienekonzept vorliegt und will am Ende den Städten und Kommunen in NRW die Schuld zuschieben. "Die haben während der Osterferien nichts vorbereitet, die Schulen hatten teilweise nicht mal 'ne Seife bei der Wiederöffnung." Anscheinend ist das seine Strategie des Abends: Erst waren die Virologen die Übeltäter, nun also die Kommunen. Nur er selbst ist sich offenbar keiner Verantwortung bewusst.
Auch seine Bildungsministerin könne da nichts machen, Schulträger seien die Städte. Ministerin Gebauer habe den Schulen sogar angeboten, Desinfektionsmittel zu besorgen, es hätte aber kaum eine Schule das Angebot angenommen. Anne Will zeigt sich ob dieser Ausführungen fassungslos, und Baerbock erinnert Laschet daran, dass er selbst es doch sei, der Nordrhein-Westfalen regiere. Ein unangenehmer Moment.
Statt darauf näher einzugehen, präsentiert Lauterbach drei konkrete Bedingungen, unter denen weitere Lockerungen für ihn denkbar seien:
Es war der sachliche Höhepunkt einer ansonsten zwar meinungsstarken, oft aber nicht sehr erhellenden Diskussion.
Und dann kam: Christian Lindner. Der widerspricht nicht nur Lauterbach, sondern gleich der ganzen Bundesregierung. Lindner ist nämlich "zum jetzigen Zeitpunkt insgesamt nicht mehr von der Krisenstrategie der Regierung überzeugt".
In Richtung Lauterbach sagt er, er schätze die Zahlen und die Gefährdungslage offenbar anders ein.
Dafür brauche es Hygienemaßnahmen wie etwa den Mundschutz. Dann könne man den Handel, die Gastronomie und die Produktion wieder hochfahren. "Und wenn es regional ein Problem gibt, werden wir das lösen", ist Lindner überzeugt.
Auf welche Studien er sich dabei den beziehe, will Lauterbach wissen. Lindner antwortet, unter anderem auf das Helmholtz-Zentrum, "jedoch mit anderen Schlussfolgerungen". "Das wollen Sie dann immer nicht hören", fährt er Lauterbach an. Der Chef des Zentrums, Gérard Krause sage ganz klar, dass die 800-Quadratmeter-Grenze Unsinn sei.
"Über die 800 Quadratmeter will ich überhaupt nicht reden, das interessiert mich gar nicht", gibt Lauterbach zurück. Dass diese Grenze willkürlich sei, wolle er gar nicht bestreiten. Es folgt eine ausufernde Diskussion darüber, ob das Konzept für den immer konkreter werdenden Bundesliga-Neustart sinnvoll ist oder nicht – die darin gipfelt, dass alle Teilnehmer sich gegenseitig unterbrechen und ins Wort fallen, bis der letzte Funken Konstruktivität erloschen ist.