Es war eine etwas andere Talk-Sendung. Anders, weil am Mittwochabend bei Markus Lanz lediglich ein Gast zum Gespräch geladen war: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Der CDU-Politiker blickte bei Lanz auf 30 Jahre Wiedervereinigung zurück, ließ das Verhältnis zu Helmut Kohl und Angela Merkel Revue passieren und äußerte sich natürlich auch zur aktuellen Corona-Politik und den Protesten am Reichstag. Emotional wurde es allerdings, als es um das Attentat von 1990 ging.
Doch zunächst blieb Lanz in der Gegenwart und sprach mit dem Bundestagspräsidenten über die große Corona-Demo vom Wochenende in Berlin, bei der sogar Hunderte Demonstranten die Treppen des Reichstags stürmten. Für Schäuble "verabscheuungswürdig". Er erklärte: "Der Reichstag ist für viele ein Symbol. Aber für Neonazis, da muss man halt daran denken: Der Reichstagsbrand ist das Symbol für die Zerstörung der Demokratie."
Grundsätzlich mahnt er an, bei Demonstrationen immer zu überlegen, "mit wem man sich da einlässt und für wen man auch den Rahmen bildet". Denn oft sei es gerade bei großen Demonstrationen so, dass sich viele Gewalttäter und Extremisten unter die Demonstranten mischten. Dass es andere Meinungen gebe, gerade beim Thema Corona, und dass es auch Demonstrationen gebe, halte er für "gut und richtig", aber es müsse sich alles im Rahmen halten. "Und am Samstag ist natürlich der Rahmen gesprengt worden und die Regeln verletzt", machte er deutlich.
Auch Gesundheitsminister Jens Spahn wurde von Demonstranten massiv beschimpft, ausgebuht und angeschrien, als er versucht hatte, mit ihnen in einen Dialog zu treten. Lanz spielte ein Video der Geschehnisse ein, zu denen Schäuble erklärte:
Dann wurde es allerdings persönlich. Lanz kam nach einem kurzen Exkurs zu Angela Merkel und Helmut Kohl auf den wohl schwersten Tag in Schäubles Leben zu sprechen. Am 12. Oktober 1990, nur neun Tage nach der Wiedervereinigung, dem "politischen Höhepunkt" seines Lebens, wurde der damals 48-Jährige bei einer Wahlkampfveranstaltung in Oppenau durch zwei Schüsse schwer verletzt.
Der Attentäter: der psychisch kranke Dieter Kaufmann. Beim anschließenden Prozess wurde dieser für schuldunfähig erklärt, da bei ihm eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie diagnostiziert wurde. Bis 2004 befand er sich in einer Klinik, wurde dann unbefristet in eine Klinik eingewiesen und im Herbst 2004 auf Probe in eine Wohngemeinschaft entlassen. Schäuble, damals Bundesinnenminister, wurde bei dem Attentat schwer an Kiefer und Rückenmark verletzt, ist seitdem querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl.
Den Tag des Attentats habe er noch immer "gut in Erinnerung", begann Schäuble, berichtete dann von seinem Tagesablauf bis zum Eintreffen bei der Wahlkampfveranstaltung im Schwarzwald. Dann geschah es:
Seiner Erzählung wirkt zwar abgeklärt, doch wenn es um seine Familie geht, wird deutlich, wie sehr ihn der Vorfall noch immer bewegt. Bei aller Distanz, die er bei dem Thema versucht zu vermitteln, wird er bei einem Aspekt doch emotional: Seine Tochter war bei der Wahlkampfveranstaltung vor Ort, erlebte alles live mit. Sie war es auch, die direkt ihre Mutter mit den Worten "Ich glaube, der Papa ist tot" anrief, wie Schäuble berichtete. "Sie war 17 Jahre alt. Den Rest kenne ich nur noch aus Erzählungen", erklärte der Politiker weiter und ergänzte trocken: "Das ist das Leben. Ich durfte weitermachen."
Angesprochen auf seine Frau und auf das Leid, das er durchmachen musste, versuchte Schäuble fast zwanghaft, den Blick von sich und seinem schlimmen Schicksal wegzulenken. Er betonte immer wieder, dass auch andere es schwer hätten und er trotz der Geschehnisse ein hohes Alter erreicht habe und immer noch lebe. "Man muss das nicht so überhöhen", sagte er, denn er sei gut damit zurechtgekommen.
Wenn man trotz solch eines Vorfalls, egal, ob man von einem Baugerüst stürzt oder, wie er, angeschossen wird, noch immer einen Beruf ausüben kann, den man mit so viel Leidenschaft ausführt, dann ist das ein großes Glück, machte er deutlich. Die Arbeit habe ihm "unheimlich geholfen", allerdings habe er sich dadurch nicht genügend auf die Rehamaßnahmen konzentriert, wie er einräumte.
Ob er nie mit seinem Schicksal gehadert habe, wollte Lanz wissen. "Doch, natürlich", erklärte Schäuble lächelnd und fügt hinzu: "Aber es nützt auch nichts." Er sei eben ein Mensch, der gut verdrängen könne. Und er sei durch den Vorfall auch weder ein besserer noch ein schlechterer Mensch geworden – und auch nicht bitter, wie er betonte.
Das größte Glück sei seine Familie, erklärte er und kam auf seine Frau zu sprechen, die in seinen Augen diejenige sei, die den schwereren Teil zu tragen hätte.
Dann hatte Lanz noch eine sehr persönliche Frage an den Bundestagspräsidenten: "Wenn Sie träumen, laufen sie dann oder sitzen sie im Rollstuhl?", wollte er wissen. Die Antwort kam etwas zögerlich:
Lanz kam in dem Vier-Augen-Gespräch auch auf Oskar Lafontaine zu sprechen. Auf den Politiker wurde 1990 ebenfalls ein Attentat verübt – nur kurze Zeit vor den Schüssen auf Schäuble. Noch im Krankenhaus hatte Schäuble daraufhin Besuch von dem damaligen SPD-Politiker bekommen. Sie hätten im Gespräch allerdings einen entscheidenden Unterschied festgestellt, wie Schäuble berichtete: Lafontaine hatte die Minuten nach dem Anschlag bei vollem Bewusstsein miterlebt, Schäuble hingegen war sofort bewusstlos. "Insofern sind möglicherweise bei ihm die psychologischen oder traumatischen Folgen andere als bei mir gewesen. Aber dafür sitze ich im Rollstuhl und er nicht. Jeder hat seine eigene Last zu tragen", erklärte Schäuble dazu.
Trotz dieses Vorfalls habe er bei seinen weiteren Wahlkämpfen nie Angst gehabt, "überhaupt nicht".
Doch nach dem Blick in die Vergangenheit schwenkte Lanz wieder in die Gegenwart und wagte zugleich einen Blick in die Zukunft: Ob Schäuble noch einmal für den Bundestag kandidieren wolle, wollte er wissen. Doch Schäuble wiegelte sofort ab und erklärte, dass er diese Frage nicht beantworten werde. Kandidaten so früh für Wahlen zu benennen, davon halte er einfach nichts, erklärte er. Lanz blieb natürlich hartnäckig und bohrte weiter nach: "Aber sie schließen es nicht aus?" Schäuble antwortete schnippisch: "Ich schließe aus, dass ich ihre Frage beantworte heute Abend. Das ist völlig hoffnungslos." Für Lanz die beste Antwort aller Zeiten, wie er lachend einräumen musste.
Abschließend wollte er das Gespräch auch noch auf den möglichen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz lenken. Aber auch hier wiegelte Schäuble ab und erklärte: Es werde jetzt keine Kandidaten-Debatte geben.
(jei)