"Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Mit diesem Satz hat Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer vor einigen Tagen für Empörung gesorgt.
Für viele waren diese Aussagen absolut nicht nachvollziehbar. Bei Markus Lanz rechtfertigte der Grünen-Politiker nun seinen Satz und diskutierte mit SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und den anderen Gästen die Maßnahmen in der Corona-Krise.
"Ich finde diesen Satz ehrlich gesagt unerträglich", wird Lauterbach zunächst sehr deutlich. Er gebe damit älteren Menschen das Gefühl, dass ihre Zeit gekommen sei. Mit dieser Ansicht müsste man ja auch viele Krebsbehandlungen einstellen, argumentiert Lauterbach weiter. Hinzu käme, dass bei Covid-19 auch viele jüngere Menschen sterben würden.
Aber wie rechtfertigt Palmer seinen viel kritisierten Satz? Seine Aussage sei oft aus dem Zusammenhang gerissen worden, kritisiert der Politiker. Letztendlich habe er nur aufzeigen wollen, was auch die WHO anmahnte: Durch die ausgelöste Krise, auch aus wirtschaftlicher Sicht, würden weltweit wieder mehr Kinder sterben. Das habe er in Relation zu den hier getroffenen Maßnahmen gesetzt. "Ich wollte auf das gerade beschriebene Dilemma aufmerksam machen", erklärt er bei "Lanz".
Moderator Markus Lanz ist mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Er verstehe nicht, warum Palmer zwei Dinge in Beziehung setze, die nichts miteinander zu tun hätten. Wenn in einem anderen Land ein armes Kind sterbe, habe das doch nichts damit zu tun, das hierzulande alles getan wird, um einen älteren Patienten zu retten, mahnt Lanz an. "Aber beides passiert", meint Palmer, deshalb wolle er das Vorgehen anmahnen. Er plädiert dafür, die Risikogruppen noch weiter zu schützen – aber gleichzeitig den Jüngeren mehr Raum für wirtschaftliche Tätigkeiten zu geben.
Wie solle das praktischerweise aussehen, will Lanz wissen. Der ZDF-Moderator fragt ganz forsch, was in Deutschland passieren solle, damit südlich der Sahara keine armen Menschen in Not geraten oder sogar ihre Kinder sterben. Der Zusammenhang sei ihm weiter nicht klar. Palmer erläutert die Idee dahinter: Die Wirtschaft müsse wieder hochfahren, das würde den armen Menschen auf der Welt mehr helfen.
SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach sieht das sehr kritisch. Er sagt: Wir brauchten kein gigantisches Wirtschaftswachstum, um den armen Kindern in Afrika zu helfen. "Wir könnten beim gleichen Wirtschaftswachstum viel mehr für Kinder in Afrika ausgeben. Das ist allein eine Verteilungsfrage."
Nur: "Wir tun es einfach nicht." Jetzt plötzlich erinnere man sich an die armen Kinder, für die man zehn Jahre lang nichts getan hätte, kritisiert er weiter. Nur alte Menschen zu isolieren, sei außerdem ethisch absolut undenkbar und eine Verletzung der Menschenwürde.
Palmer verteidigt seinen Vorstoß dennoch weiter und erklärt, er wolle die Älteren nicht wegsperren, sondern die Kontakte für die Risikogruppe mehr einschränken, bis es eine App oder mehr Schutzmaßnahmen gebe.
Auch bei der ethischen Frage zu dieser Maßnahme ist er anderer Meinung. Er glaubt, die Älteren würden durchaus mitmachen, wenn die Begründung laute: Die Älteren schützen sich vor dem Virus und die Jüngeren gehen für sie arbeiten und bezahlen ihre Rente.
Lauterbach hielt erneut dagegen. Die Maßnahmen der letzten fünf Wochen hätten nur gewirkt, weil die Jungen eben auch dabei gewesen seien.
Ökonomin Veronika Grimm hingegen findet die Diskussion über Palmers Vorstoß grundsätzlich nicht falsch. Die Frage sei: Wie könne man Gesundheitsschutz und weitere wirtschaftliche Aktivitäten verbinden? Den Vorschlag, die Risikogruppe einfach wegzusperren, halte aber auch sie "für eigentlich nicht realisierbar". Sie kann sich eher vorstellen, dass man Maßnahmen wie Social Distancing in den Risikogruppen kombiniert mit der Nutzung der geplanten Tracing-App, um Infektionsketten zu durchbrechen. "Man sollte sich, glaube ich, trauen, stückweise zu öffnen", um zu schauen, wie es sich entwickelt.
Immer wieder kommt die Diskussion bei Markus Lanz aber auf einen Punkt zurück: Alte Menschen als Schutzmaßnahme wegsperren – ja oder nein? Und eins wird dabei besonders deutlich: Vor allem Lanz geht das Thema nah. So nah, dass es irgendwann aus ihm herausplatzt:
Er verstehe Palmers Gedanken, die Freiheit von wenigen zu beschränken, um die Freiheit von vielen möglich zu machen, erklärt der Moderator. Aber es gehe hier nicht um Datenschutz, sondern um Menschen, teilweise vielleicht am Ende ihres Lebens. Und er habe Bauchschmerzen damit, dass man diese Frage mathematisch kalt erfasse.
(jei)