"Es gibt tatsächlich eine Diskussion darüber, ob die Inzidenz von 35 als Ziel für etwas breitere Öffnungen gekippt werden soll. Ich fände das falsch, ganz klar", sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach zu Beginn der Sendung "Stern TV" am Mittwochabend – und zeigte sich dann auch entsprechend enttäuscht über die neuen Beschlüsse von Bund und Ländern, die genau das am Ende beinhalteten.
Lauterbach und Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie der Universität Bonn, waren per Video zugeschaltet und sich erneut ganz und gar nicht einig darüber, welches Vorgehen in der Pandemie denn nun richtig ist. Vor Ort war zudem Katharina Witt, zweifache Olympiasiegerin im Eiskunstlauf und Betreiberin eines Sportstudios in Potsdam. Die Bund-Länder-Beratungen liefen zu Beginn der Sendung noch. Durchgesickert war da aber bereits, dass der Lockdown bis zum 28. März verlängert werden soll.
Lauterbach schaute immer wieder auffällig auf sein Smartphone und schien abgelenkt zu sein, wollte aber keine frühzeitigen Ergebnisse verraten. Er plädierte dafür, die Inzidenz von 35 als Voraussetzung für Lockerungen beizubehalten. Andernfalls würde man "das Risiko einer schweren dritten Welle eingehen", so Lauterbach.
Sein Kollege Streeck war da, wie zu erwarten, anderer Meinung. Er gab Lauterbach zwar recht darin, dass man beobachten müsse, wie sich die Infektionszahlen verhalten, aber riet davon ab, sich zu sehr auf die Inzidenzen zu konzentrieren. "Das ist die Absurdität, dass wir uns ganz auf die Infektionszahlen verlassen. Das spiegelt überhaupt nicht das Infektionsgeschehen wider", so Streeck.
"Nehmen wir mal an, eine Öffnungsstrategie wird mit einer guten Teststrategie verbunden – wenn massenweise getestet wird, werden auch die Inzidenzen nach oben gehen. Dann brauchen wir andere Parameter", sagte Streeck.
Auch Witt vertrat eine klare Meinung: "Ich finde es wichtig, dass die Bürger eingebunden werden". Sie plädierte für eine vorsichtige Öffnung mit Teststrategie. In vielen Fitnessstudios könne man beispielsweise bereits jetzt einen sicheren Betrieb gewährleisten. Moderator Steffen Hallaschka brachte eine Tabelle des Robert-Koch-Instituts über Infektionsrisiken ein, darin seien viele Branchen mit einem niedrigen Ansteckungsrisiko eingeordnet, zeigte der Moderator auf.
"Eine solche Tabelle wie die vom Robert-Koch-Institut, die ja im Prinzip auf Daten basiert, die in Deutschland erhoben worden sind, die unvollständig sind, ersetzt ja nicht die wissenschaftliche Literatur dazu", erwiderte Lauterbach. "Wir wissen aus der Literatur, wo das Ansteckungsrisiko höher ist. Und in Fitnessclubs oder Restaurants ist durch die Aerosolübertragung das Ansteckungsrisiko sehr hoch", so Lauterbach. Er plädierte erneut für ein systematisches Testen: an dem Tag, an dem man getestet wurde, könne man dann beispielsweise die Außenbereiche der Gastronomie besuchen.
Witt widersprach ihm: "Ich finde schon, dass es da individuelle Lösungen geben muss. Mir fehlt die Augenhöhe mit uns Unternehmern." Streeck sah das ähnlich, man solle nicht nach Branchen, sondern anhand individueller Hygienekonzepte öffnen. "Wir können diese Unterscheidung gar nicht machen, ob Blumenläden oder Fitnessstudios durch die Bank gute Hygienekonzepte haben. Wir müssen die Bereiche öffnen, die die besten Hygieneregeln haben", unterstützte er Witt.
Im Laufe der Sendung verkündete Merkel dann die neuen Beschlüsse: Die zuletzt als zentraler Maßstab geltende Sieben-Tage-Inzidenz von 35 für Lockerungen auf breiter Front ist Geschichte - nun gilt der Wert 50. Hinzu kommt: Es kann nun eingeschränkte Öffnungen etwa im Handel mit festen Einkaufsterminen bereits dann geben, wenn lediglich der Wert 100 unterschritten wird.
"Ich glaube, dass das ein Bumerang ist", kommentierte Lauterbach die Beschlüsse. "Wir öffnen, bevor die Antigen-Teststrategie ausgebaut ist. Die Fallzahlen werden steigen, die dritte Welle kommt, dann ist man ruckzuck viel näher an der 100 als an der 50", sagt Lauterbach.
Der SPD-Gesundheitsexperte wagt im Anschluss eine düstere Prognose. Er sagt:
Das würde bedeuten, dass es maximal für einen Monat Lockerungen gibt – bevor dann erneut ein Lockdown mit strikten Maßnahmen folgt. Schließlich soll ab dem Inzidenzwert 100 eine Notbremse greifen, wie Bund und Länder beschlossen haben.
Lauterbachs Fazit: "Von daher überzeugen mich die Beschlüsse auf den ersten Blick die nicht".
(pas)