Da vorne ist Mahatma Gandhi. Auf der Berliner Prachtstraße Unter den Linden trägt ihn ein Mann auf dem Fahrrad spazieren. Der indische Freiheitskämpfer ist auf ein Schwarz-Weiß-Foto gedruckt, das eingeklemmt ist in einem schmalen Doppelhalter. "Frieden Freiheit Liebe" steht darunter. Wenige Meter weiter trägt einer eine breite schwarz-weiß-rote Flagge spazieren, das Erkennungssymbol der Reichsbürger.
38.000 Menschen sind laut der Berliner Polizei am Samstag auf der Demonstration gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung gewesen. Gegen die Pflicht, Mund und Nase in der Öffentlichkeit zu bedecken, gegen Abstandsregeln, gegen die Aufrufe zur verstärkten Handhygiene, gegen die Verbote von Großveranstaltungen. Aus der Sicht der Demonstranten sind das unerträgliche Einschnitte in die persönliche Freiheit, für etliche von ihnen sogar Symptome einer Diktatur.
Halb zehn, 30 Minuten vor dem angekündigten Demonstrationsbeginn. Unter den Linden tummelt sich bereits eine Reihe Demonstranten. Es gehen Menschen mit Reichsflaggen neben solchen mit Regenbogenflaggen, die für Frieden und sexuelle Vielfalt stehen, daneben USA-Flaggen. "Sind ja nur Glatzköppe hier", sagt einer der Männer, der gerade durch die Eingangsschleuse zur Demo gestoßen ist. Auf die Frage, was er denn erwartet habe, entgegnete er "keine Reichskriegsflaggen".
Eine Frau, sie stellt sich selbst mit dem Namen Ulrike Schmidt vor, sagt, dass hier niemand rechts sei. Während sie das sagt, laufen zwei Männer mit Reichsflaggen vorbei. Ulrike Schmidt sagt: "Gut, ein paar Ausreißer, aber wir sind eher die esoterische Mitte." Ein paar Schritte weiter drei Leute, einer von ihnen bezeichnet sich selbst als Musiker, ihre Namen wollen sie nicht in den Medien lesen. "Es gibt hier keine Nazis, nur ein paar friedliche Demonstranten", sagen sie. Der Musiker beschwerte sich, dass er aktuell kein Einkommen habe, deshalb sei er zur Demo gegangen. Die Pandemie leugnet er nicht, sie sei aber bei weitem nicht so schlimm, wie das dargestellt werde.
Diese Demo eine bunte Mischung zu nennen, ist untertrieben.
Da sind die Trommler mit langen, grauen Haaren, die an der Ecke zwischen Rosmarinstraße und Friedrichstraße stehen und minutenlang auf ihre Instrumente einhämmern. Eine Frau, die ihren Namen nicht nennen will, sagt, sie seien "Menschen, die sich für die Grundrechte einsetzen". Was sie damit genau meint? Dass sie weiter auf Demos stehen und trommeln dürften. "Dass das weiter so ist. Und dass wir keine Maske mehr tragen müssen."
Neben ihnen Impfgegner, ganz offensichtlich. Eine Frau reckt ein Schild in die Luft "Ihr Gesundheitsheuchler macht uns krank" steht darauf, darunter steht etwas von "Impf-Terror".
Ein paar Meter weiter stehen zwei Männer auf ihren Fahrrädern. Einer trägt eine gelbe Warnweste mit Leuchtstreifen, auf der ein großes "Q" steht, neben ihm ein zweiter Mann, der auf einem Schild "Pädos + Politverbrecher nach Guantanamo" fordert, ins berüchtigte US-Gefängnis für mutmaßliche Terroristen. Das ist die Chiffre des "QAnon"-Verschwörungsmythos. Eine versteckte Elite, glauben dessen Anhänger, regiere die Welt, foltere und missbrauche Kinder – und ihr Widersacher sei US-Präsident Donald Trump. Die QAnon-Gläubigen wollen nicht mit Reportern sprechen.
Erst recht nicht wollen das die Rechtsradikalen weiter vorne: Eine junge Frau mit einem schwarzen T-Shirt steht da, auf ihrem Rücken "Aryan Girl", arisches Mädchen, darunter die Nummer 18, die bei Rechtsextremen für die Buchstaben A und H steht, die Initialen von Adolf Hitler.
Mit der Demo selbst geht es nicht weiter. Um 11 Uhr geht der Zug los, für die Anti-Corona-Demonstranten sollte es eigentlich von der Friedrichstraße aus weitergehen Richtung Tiergarten, bis zur Siegessäule und dann über die breite Straße des 17. Juni zum Brandenburger Tor. Eigentlich. Denn nach ein paar hundert Metern müssen sie hier in der Friedrichstraße stehen bleiben, werden aufgehalten von der Polizei. Aus einem Einsatzwagen erklärt ein Beamter, warum: Die Demo-Strecke ist überfüllt. Dann kommt die erste Warnung der Polizei: Kaum jemand hält sich an die vorgeschriebenen Abstandsregeln. Die Demonstranten müssen Mund und Nase bedecken. Aber niemand, wirklich niemand trägt hier einen Mund-Nasen-Schutz. Und niemand macht Anstalten, einen aufzusetzen.
Wie soll es jetzt weitergehen? Ein Mitglied von Querdenken 711, der Organisation, die die Demo veranstaltet hat, versucht gegen 12 Uhr, die Veranstalter zu erreichen. Er bekommt keine Antwort, weiß auch gar nicht, wie die Route genau weitergehen soll. Die Organisation habe ein Kommunikationsproblem, sagt er und ergänzt: "Gerade ist es nur anstrengend.“ Es sei nicht das erste Mal, dass die Kommunikation so scheitere. Seinen Namen will auch er nicht nennen.
Einen Katzensprung von dem Einsatzwagen entfernt stehen Zwillinge. Beide sind People of Color, beide 25 Jahre alt und aus Magdeburg nach Berlin gekommen, um an der Demo gegen die Corona-Maßnahmen teilzunehmen. Ihre Namen wollen sie nicht verraten. Warum sie hier sind, schon. Einer der beiden sagt: "Wir sind hier, um unser Demonstrationsrecht wahrzunehmen. Um Raum zu haben, um unsere Kritik an den Corona-Maßnahmen zu äußern." Er sei nicht grundsätzlich gegen alle Maßnahmen gegen die Pandemie, gerade am Anfang sei vieles richtig gewesen. Aber jetzt gehe vieles zu weit, vor allem die Einschränkungen an den Schulen. "Wir brauchen offene Debatte statt Hetze", sagt er.
Was er davon hält, dass ein paar Meter von ihm entfernt Menschen schwarz-weiß-rote Reichsflaggen durch die Luft schwenken? "Das finde ich nicht cool", sagt er. Er selbst, meint er, sei politisch links. Aber es gebe eben keine linke Alternative zu den Coronademos, keine linke Demo, die "sich mit den Maßnahmen auseinandersetzt". "Was soll ich machen?", fragt er noch in Bezug auf Rechtsradikale, die bei den Corona-Demos. "Soll ich die aus der Demo wegtreten?" Und überhaupt: Auf den Demos, auf denen er gewesen sei, hätten die Leute nicht "Ausländer raus" gerufen. Sondern "Nazis raus".
"Nazis raus", das schreit dann tatsächlich auch ein Teilnehmer der Corona-Demo. Die Polizei hat die Demonstration gerade offiziell aufgelöst. Die Begründung, per Durchsage aus dem Lautsprecherwagen: Niemand habe sich an die Hygienevorschriften gehalten, Abstand gehalten oder Mund und Nase bedeckt. Und, zwei Dutzend Schritte vom Polizeiwagen entfernt, steht nun dieser Mann, mittelalt, schwarze, kurze Haare und ein schwarzes, ärmelloses Shirt, rudert mit den ausgebreiteten Armen und ruft "Nazis raus", immer wieder. Er schreit es in Richtung von Gegendemonstranten, alle mit Maske auf dem Mund. Ein paar von ihnen filmen den Mann, fast alle rufen ihm entgegen "Ihr marschiert mit Nazis und Faschisten!"
Die Gegendemonstranten sind schon früh zusammengekommen, auf dem Bebelplatz vor der Staatsoper, 300 Meter Luftlinie entfernt von der Friedrichstraße, wo die Demo später zum Stehen kommen wird. Sie tragen allesamt Masken oder Tücher vor dem Mund, halten Abstand zueinander. Ordner verteilen rot-weißes Absperrband aus Plastik, in 1,5 Meter lange Streifen geschnitten, mit dem jeder die Distanz zu den Menschen neben sich messen soll.
Die Maske scheint das wichtigste Symbol zu sein an diesem Tag. Die Corona-Demonstranten lehnen sie ab, als Symbol des "Corona-Hypes", der "Hygiene-Diktatur", wie sie einige nennen. Die Gegendemonstranten achten penibel aufs Masketragen. Wer mit nacktem Gesicht über den Bebelplatz geht, wird schnell von Ordnern angesprochen.
Einer der Gegendemonstranten ist Til, 27 Jahre alt, Student. Über dem maskenbedeckten Kopf trägt er ein Schild, auf dem steht: "Bitte nehmt Euren Eltern YouTube weg". Die Videoplattform und Messengerdienste wie Telegram, sagt er, seien ein "Katalysator für Leute, die sich Verschwörungserzählungen hingeben". Nein, mehr seien die Verschwörungsgläubigen nicht geworden, glaubt er. Aber es gebe mehr, "die sich zu radikalen Schritten verleiten lassen". Deswegen, sagt er, gehe er heute auf die Straße. Knapp 200 Gegendemonstranten sind es kurz vor halb elf, die auf dem Bebelplatz stehen. "Wir sind die Guten, uns gehört die Stadt!", sagt eine Rednerin.
Viele von den anderen, von den Corona-Demonstranten, wissen irgendwann nicht weiter. Nachdem die Polizei die Versammlung aufgelöst hat, gehen einige von der Friedrichstraße zurück zu Unter den Linden. Hinter ihnen rücken linke Gegendemonstranten nach, die Polizei hält die Gruppen auseinander. Das schaffen sie aber nicht ganz.
Ein Gegendemonstrant, Tuch über den Mund und Union-Berlin-Kappe auf dem Kopf, eine Corona-Demonstrantin ihm gegenüber, blaue Bluse mit Rüschenärmel, unbedeckter Mund.
Der Gegendemonstrant: "Ich demonstriere gegen die Nazis!"
Die Corona-Demonstrantin: "Aber ich bin kein Nazi!"
Er: "Aber bei Euch sind die dabei!"
Sie: "Ja, die drei Leute! Die anderen gehen für Freiheit und Grundrechte auf die Straße!"
So ähnlich geht das weiter, ein paar Minuten lang, laut, aber friedlich.
So bleibt es nicht überall. Die Polizei berichtet von Stein- und Flaschenwürfen auf Polizisten ein paar hundert Meter weiter, von einem brennenden Baucontainer, von Hindernissen, die auf die Fahrbahn gelegt werden. Journalisten schreiben auf Twitter von Angriffen auf die Presse.
Am anderen Ende der Friedrichstraße, im S-Bahnhof, scheint die Lage unter Kontrolle. Die Polizei lässt nur Menschen zu den Gleisen, die Mund und Nase bedeckt haben. Dann, im S-Bahn-Waggon, trägt jeder Passagier eine Maske über dem Gesicht. Die Demo, sie scheint hier schon ganz weit weg zu sein.