Jubel in der SPD-Zentrale. Bild: imago images / Daniel Lakomski
Vor Ort
27.09.2021, 00:4727.09.2021, 01:09
Die SPD, so scheint es, hat die Bundestagswahl gewonnen – knapp vor der CDU. Auf der Wahlparty in der SPD-Zentrale in Berlin-Kreuzberg war die Stimmung dementsprechend gut.
Doch auch in anderen Teilen Berlins wurde mitgefiebert und mancherorts gefeiert. watson hat sich bei jungen Menschen an diesem Abend umgehört, wie sie die Entscheidung bei dieser Bundestagswahl erlebt hat.
Nora, 27
Vor dem Wahllokal in der Ernst-Abbe-Gymnasium in Berlin-Neukölln herrscht reger Betrieb. Am Sonntag um 17.14 Uhr, kurz bevor die Wahllokale schließen, wollen noch viele Menschen ihre Stimme abgeben. Zu ihnen gehört Nora. Die 27-jährige Berlinerin wünscht sich einen Regierungswechsel, sie hat Hoffnung auf eine Veränderung.
Der Politik bescheinigt sie ein "jahrelanges Versagen." Themen wie Bildung und die Klimakrise, die ihr wichtig sind, seien unter der unionsgeführten Bundesregierung zu kurz gekommen, sagt sie. Jetzt wünscht sie sich eine rot-grün-rote Regierung.
Nora kommt gerade aus dem Wahllokal in der Sonnenallee.bild: watson/leonard laurig
Ein paar Straßen weiter laufen bereits die Vorbereitungen für eine Wahlparty. In der Bar Donau115 steht die "Election Night" auf dem Programm. Auf Englisch erklären zwei Podcaster deutsche Politik. Mit Power-Point-Präsentation und einer dazugehörigen Portion Comedy erläutern sie sonderbare Bezeichnungen wie "Ampel-Koalition" oder "Jamaika-Bündnis".
Einer von ihnen trägt einen blauen Overall mit Europaflagge, der bis über den Kopf geht. Ein anderer hat eine Papierkette in Deutschlandfarben um den Hals hängen. Wer gewählt hat, will er von den Gästen wissen. Diese reagieren mit Rufen und Klatschen. Auf den Tischen stehen Teelichte und Sonnenblumen. In gepolsterten Sesseln und auf Bierbänken sitzen die Politikinteressierten nebeneinander und schauen auf die Leinwand. Parallel läuft die Wahlberichterstattung der ARD.
Pascal (31)
Pascal hofft auf eine linke Mehrheit. bild: watson/leonard laurig
In einer Ecke der Bar sitzt Pascal, 31 Jahre als und Gleisbauer von Beruf. Ursprünglich kommt er aus der Nähe von Osnabrück, seit drei Jahren wohnt er in Berlin. Er hat schon vor zwei Wochen seine Stimme abgegeben. Per Briefwahl. Aber "nur durch Wahlen ist leider wenig zu machen", sagt er. Das liege an dem "starren System". Trotzdem wünscht er sich eine linke Mehrheit nach der Bundestagswahl. Seine favorisierte Konstellation wäre eine rot-grün-rote Regierung. Olaf Scholz von der SPD als Kanzler wäre für ihn "weniger schlimm" als Armin Laschet.
Wichtige Themen sind für ihn vor allem soziale Gerechtigkeit. Mieterrechte und gute Bezahlung nennt er als sein Kernanliegen. Das Konzept der Enteignung von großen Immobilienkonzernen, wie es etwa in Berlin von einer Initiative gefordert und nun als Volksentscheid zur Wahl steht, findet er "interessant".
Als um 18 Uhr auf der Leinwand die farbigen Balken für die erste Hochrechnung hochschnellen, zieht er die Augenbrauen hoch. 25 Prozent für die SPD und ebenso 25 Prozent für die CDU. Es verspricht, ein spannender Wahlabend zu werden.
Fabian (27), Jonathan (23), Matthias (24) und Till (21)
Fabian , Jonathan , Matthias und Till sind mit den ersten Prognosen sehr zufrieden.bild: watson/leonard laurig
Zur gleichen Zeit feiert die SPD Fiedrichshain-Kreuzberg ihre Wahlparty im Biergarten auf dem RAW-Gelände. Wo sonst bei großen Turnieren Fußballspiele übertragen werden, laufen nun die Wahlberichte auf der Leinwand. Liegestühle und Stehtische sind aufgebaut. Es gibt Bier aus Plastikbechern und Macarons mit SPD-Verzierung. Unter den Gästen werden Einwegkameras verteilt. Der Wahlsieg, den sie sich hier alle wünschen, soll fotografisch festgehalten werden.
Doch noch sei die Situation "angespannt", sagt Matthias (24). Gemeinsam mit Fabian (27), Jonathan (23) und Till (21) wartet er gespannt auf die nächste Hochrechnung. Alle vier studieren unterschiedliche Studiengänge oder arbeiten parallel bereits. Von Physik bis VWL. "Damit wärst du doch eigentlich bei der FDP gelandet", scherzt Till in Richtung des VWL-Studenten Jonathan.
"Es hat sich in den letzten 16 Jahren viel aufgestaut. Die Menschen erkennen langsam, dass es eine Trendwende braucht."
Jonatahn (23), SPD Friedrichshain-Kreuzberg
Als dann um kurz vor 19 Uhr die nächste Prognose verkündet wird, bricht Jubel aus. Die SPD liegt jetzt knapp vor der CDU und könnte tatsächlich Wahlsieger werden. Für Matthias war das erwartbar. Auch, wenn er vor ein paar Monaten damit noch nicht gerechnet hat. Damals lag die SPD in den Umfragen noch bei mageren 15 Prozent.
"Vor einem Jahr hat unser Parteivorsitzende Norbert Walter-Borjans davon geredet, dass 25 Prozent das Ziel für die SPD sein könnte. Damals wurde er dafür belächelt", sagt Matthias.
Jetzt scheint das Ziel erreicht, Olaf Scholz hat eine realistische Chance auf das Kanzleramt. Als Grund für den rasanten Aufstieg sieht Matthias einen guten Wahlkampf. "Wir haben prägnante Themen gesetzt. Soziale Gerechtigkeit, Mindestlohn und Klimaschutz. Außerdem haben wir einen guten Kandidaten."
Jonathan glaubt, dass nach der Ära von Angela Merkel nun wieder die Zeit ist für einen Kanzler aus der SPD. "Es hat sich in den letzten 16 Jahren viel aufgestaut. Die Menschen erkennen langsam, dass es eine Trendwende braucht." Alle vier wünschen sich eigentlich eine rot-grüne Regierung. Aber die Hochrechnungen lassen dieses Szenario nicht zu, darüber sind sie sich bewusst. Die Ampel, als eine Regierung aus SPD, Grüne und FDP, halten sie für am wahrscheinlichsten. "Nur vor Jamaika habe ich Angst", sagt Matthias. Das würde bedeuten, dass die CDU gemeinsam mit den Grünen und der FDP regiert. Auch falls sie knapp hinter der SPD landen sollten, wäre das theoretisch möglich.
Hex, Tanja und Firlefranz, alle vermutlich älter als 19
Tanja und Firlefranz haben Sympathie für einander und Die Partei. Hex, wollte sich nicht fotografieren lassen. bild: watson/leonard laurig
In der Oranienstraße in Kreuzberg steigt gegen Abend der Alkoholpegel. Bars und Restaurants reihen sich aneinander. In manchen läuft ein Fernseher, der die Interviews mit den unterschiedliche gelaunten Kanzlerkandidaten zeigt. Vor dem SO 36, dem ehemaligen legendären Lokal und heutigem Veranstaltungssaal, hat sich eine Menschentraube gebildet. Viele von ihnen tragen graue Anzüge, hellblaue Hemden, rote Krawatten und Papierhüte. Hier wird nicht nur Mineralwasser getrunken.
Ein vorläufiges Wahlergebnis gibt es aber eigentlich noch gar nicht zu feiern. Die Satirepartei "Die Partei" hat hier ihre Wahlparty und eine Hochrechnung für den Stimmenanteil von der Partei gibt es noch nicht. Kleinparteien sind bei jungen Wählerinnen und Wählern sehr beliebt. Laut Hochrechnungen entfallen bei den unter 30-Jährigen insgesamt 14 Prozent auf die Kleinparteien. Auch "Die Partei" könnte davon profitieren.
Dementsprechend sei die bisherige Prognose "beschissen", sagt Hex, der seinen echten Namen nicht nennen will. Gemeinsam mit Tanja und Firlefranz, der im echten Leben bestimmt auch anders heißt, steht er an einem Stehtisch am benachbarten Späti und trinkt Flaschenbier. Sie seien 19 Jahre alt, sagen sie augenzwinkernd. Tatsächlich könnten sie aber auch 10 Jahre älter sein.
Erklärtes Wahlziel seien mindestens fünf Prozent, mit drei Mandaten in den Bundestag einzuziehen und dann als Königsmacher in die Regierung zu kommen, erklärt Hex. Realistisch ist das eher nicht. Doch wirklich ernst gemeint ist die Zielsetzung von Hex sowieso nicht. Er trägt kurze Haare, einen Vollbart und eine Papierkrone auf dem Kopf, auf die er das Logo der Partei geklebt hat.
Seit der Europawahl 2019 ist er Mitglied bei "Die Partei", weil dort der Mitgliedsbeitrag am günstigsten ist, behauptet er. Außerdem sei die Parteimitgliedschaft mit der verhältnismäßig hohen Anzahl an Parteimitgliedern. "Man macht viel zusammen", erklärt er. Dabei geht es nicht nur um Politik. "Die Hälfte ist einfach nur Spaß".
"Die Partei ist eine weniger absurde Protestpartei als die AfD"
Firlefranz
Tanja und Firlefranz sind nicht Parteimitglieder. Firlefranz, von Beruf Apotheker, hat sie trotzdem gewählt. Tanja ist Krankenschwester und hat Die Linke gewählt. "Man muss ja auch immer gucken, wo die Probleme liegen", begründet sie ihre Wahlentscheidung. Sie arbeite auf einer Intensivstation. "Gerade jetzt bei Corona habe ich gesehen, dass die Politik da handeln muss. Da fand ich das Programm der Linken ganz interessant." Beide bezeichnen sich aber eher als Wechselwähler. Firlefranz könnte sich auch vorstellen, mal die SPD zu wählen, wenn es darum geht eine andere Partei, wie die CDU zu verhindern. Die Partei bezeichnet er als "weniger absurde Protestpartei als die AfD". In wichtigen Themen beziehe "Die Partei" Stellung – obwohl es eigentlich abseits von Dauerironie keine Parteilinie gibt.
Ziel sei es, dass die Leute die Partei irgendwann nicht mehr wählen, sagt Hex. Weil im besten Fall die anderen Parteien gute Arbeit machten und "Die Partei" damit überflüssig werde. Auch, wenn das Ergebnis bei dieser Wahl nicht gut sein sollte, wollen sie deshalb an diesem Sonntag feiern.
Das Wort Saufen kommt in seiner Erzählung öfters vor. Auch an diesem Abend sieht es danach aus. Mit einem frischen Flaschenbier verschwindet Hex wieder im SO 36. Auch andere umherstehende Parteimitglieder gehen jetzt wieder rein. Die Polizei hat sie ermahnt, nicht in großer Zahl auf der Straße zu stehen.
Barış (26) und Alena (24)
Gegen 22 Uhr sitzen Barış (26) und Alena (24) mit einem Freund in einer Pizzeria in Neukölln und schauen auf ihr Handy. Bis jetzt haben sie die vorläufigen Ergebnisse der Wahl noch nicht verfolgt. Jetzt analysieren sie die Zahlen und möglichen Koalitionsoptionen. "Die Ampel wäre eindeutig mein Favorit", sagt Barış. Er trägt schwarze Lederjacke und Basecap. Momentan macht er eine Ausbildung zum Bankkaufmann und hat bei dieser Bundestagswahl zum ersten Mal gewählt. Er hat sich für die FDP entschieden. "Weil die sich meiner Meinung nach am meisten bei der Digitalisierung einsetzten", erklärt er. Außerdem hätten in die Wirtschaftskonzepte überzeugt.
Alena (24) studiert Veterinärmedizin. Sie hat die Grünen gewählt. Auch für sie ist die Digitalisierung ein wichtiges Thema. Für noch dringender hält sie allerdings die Klimapolitik. Dass die Grünen vermutlich Teil der neuen Regierung seien werden, findet sie gut. Sie hofft, dass sich die Parteien möglichst schnell auf einen Koalitionsvertrag einigen. Die Berichterstattung um die Bundestagswahl verfolgt sich eher weniger. "Ich bin auch ein bisschen froh, wenn das alles vorbei ist", sagt sie und lacht.