Nach über einem Jahr Pandemie gibt es inzwischen in ganz Deutschland so genannte Modellstädte, in denen Alternativen zum Lockdown ausprobiert werden.Eine davon ist Rostock. Hier werden mithilfe der "Luca"-App Kontakte nachverfolgt und damit unter anderem wieder unbeschwertes Shoppen ermöglicht. Wo die Gesundheitsämter im vergangenen Herbst an ihre Grenzen kamen, nämlich bei der Nachverfolgung der Kontakte, sollen das Smartphone und der gesunde Menschenverstand nachhelfen. Das Motto in Rostock: Wir alle sind Gesundheitsamt.
Die "Luca"-App ist nicht unumstritten. Erst kürzlich legte ZDF-Moderator Jan Böhmermann offen, wie leicht sich die App manipulieren lässt. Auch die Weitergabe der Daten an die Gesundheitsämter ist freiwillig. Am Ende ist entscheidend, dass die Bevölkerung auch wirklich mitspielt und die eigenen Daten korrekt einträgt und weitergibt. Dass das nicht selbstverständlich ist, hat der vergangene Sommer gezeigt, als in vielen Restaurants und Cafés falsche Namen in die Anwesenheitslisten eingetragen wurden. Trotzdem setzt Rostock vor allem auf die "Luca"-App, Corona-Tests sind vor dem Shopping-Besuch aktuell noch nicht erforderlich.
Wer durch die inzwischen wieder recht belebte Innenstadt bummelt, muss sich zwar nach wie vor an die geltenden Regeln mit Abstand und Mund-Nase-Schutz halten, kann aber ohne Voranmeldung in die Geschäfte gehen. Alles, was dafür getan werden muss, ist, einen QR-Code am Eingang des Ladens zu scannen. Zwischenzeitlich fanden sogar zwei Veranstaltungen in der Modellstadt Rostock statt: ein Heimspiel des Fußball-Drittligisten Hansa Rostock vor einigen hundert Zuschauern, das als Modellprojekt im Ostseestadion stattfand, und eine öffentliche Theateraufführung vor Publikum.
In Rostock wird dank Nachverfolgung per App wieder geshoppt und gebummelt.Bild: watson / Lukas Weyell
Der Rostocker Weg wird bundesweit gespannt beobachtet. Einen guten Anteil daran hat die mediale Präsenz von Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen.Der gebürtige Däne ist seit 2019 Chef der Stadtverwaltung der Hansestadt und gefragter Gast in deutschen TV-Sendungen. Dort präsentiert er seine Strategie und verteidigt sie auch gegen die Kritik, die Lockerungen seien zu riskant.
Madsen ist inzwischen derart populär, dass die Pressestelle mit den Antworten nicht mehr hinterherkommt. Auf die Anfrage von watson rief Madsens Pressesprecher zurück und entschuldigte sich vielmals, ein Interview sei aktuell aufgrund der Flut an Anfragen nicht mehr zeitnah zu realisieren. Es tue ihm wahnsinnig leid, aber man könne teilweise nicht mal mehr alle E-Mails sichten.
Madsen ist inzwischen so etwas wie ein Popstar unter den Bürgermeistern. In der Rostocker Innenstadt wirbt ein Frisör damit, denselben Haarschnitt wie den des Oberbürgermeisters zu verpassen. Im Schaufenster wird mit dem Konterfei des Dänen geworben. In der Stadt scheint er so etwas wie ein Held zu sein.
Um das Rostocker Modell zu verstehen, muss man aber auch nicht zwangsläufig mit dessen bekanntesten Vertreter sprechen. Eine Erkundungstour durch die Rostocker Innenstadt führt zu Gesprächspartnern, die Vor- und Nachteile erläutern können. Watson hat die Hansestadt besucht.
Johannes: "Neulich war jemand aus München da"
Johannes ist Barista und verkauft Kaffee-Spezialitäten am Universitätsplatz.Bild: watson / Lukas Weyell
In der Rostocker Innenstadt drängen sich Menschen vor Essensständen und Eingängen von Geschäften. Natürlich alles mit dem gebotenen Abstand und mit Maske. Es riecht nach Bratwurst, Backwaren und Pizza. Hier und da bildet sich eine Schlange vor einem Kleidungsgeschäft. Insgesamt verhalten die Menschen sich aber vorsichtig und rücksichtsvoll. Auch in den Geschäften kommt es nicht zu größeren Gruppenbildungen.
In der Mitte der Rostocker Innenstadt am Universitätsplatz duftet es nach frischem Kaffee. Das liegt an Johannes' Coffee Bike. Johannes ist Mitte zwanzig und arbeitet als Barista und Filialleiter einer Café-Kette. Zwar ist seine Filiale nach wie vor geöffnet, aber durch die Corona-Beschränkungen kann auch dort nur Coffee to go gekauft werden. Dafür reicht ein Mitarbeiter, erzählt er. Also hat Johannes kurzerhand einen Kaffeestand auf dem Universitätsplatz aufgebaut. Mit seinem Coffee Bike verkauft er dort Kaffeespezialitäten. Auch bei ihm kann man sich per "Luca"-App einchecken.
Johannes findet es an sich gut, dass nun so gelockert wird. Für die Gastronomie sei das durchaus hilfreich. Bevor Rostock zur Modellstadt wurde, lief es für viele nicht so gut. Der Dezember sei hart gewesen. Nun profitiert das Coffee Bike von dem Fluss an Passanten, den die geöffneten Läden anziehen. "Teilweise kommen die Leute sogar von weiter weg. Neulich war jemand aus München da", erzählt Johannes, der in Rostock aufgewachsen ist. Das ärgert ihn allerdings. "Niemand kontrolliert, ob die Leute auch wirklich aus Rostock sind, die hier shoppen." Das könnte dazu führen, dass Menschen aus anderen Landkreisen mit hoher Inzidenz die Viruslast nach Rostock tragen.
Anja: "Ich habe das Shoppen nicht vermisst"
Anja wohnt direkt um die Ecke.Bild: watson / Lukas Weyell
Direkt neben Johannes auf dem Rostocker Universitätsplatz ist Anja unterwegs. Sie ist Mitte dreißig und hat zwei Kinder. Gerade hat sie sich bei Johannes einen Kaffee geholt und genießt die Sonne, die sich zwischen die Wolken geschoben hat. Für die neue Freiheit in Sachen Shopping hat sie wenig Emotionen übrig. Sie verbringe viel Zeit in der Natur, erzählt sie. Sie habe sich im vergangenen Jahr an die neuen Umstände durch die Corona-Pandemie gewöhnt. Die neue Normalität, die auch weniger Konsum bedeutete, sei für sie kein Verlust gewesen.
"Ich habe während der Corona-Zeit gemerkt, wie wenig ich brauche, ich habe das Shoppen nicht vermisst." Hin und wieder sei sie trotzdem in der Innenstadt, wenn etwas Dringendes für die Kinder benötigt werde, aber das komme selten vor. Sie wohnt sowieso um die Ecke, nahe der Rostocker Altstadt, also könne sie schnell mal vorbeischauen. Viel lieber verbringe sie die Zeit aber in ihrem umgebauten Bus und an der Küste. Oder bei Freunden in Berlin oder Hamburg.
Iwan: "Für mich ist das gut"
Iwan ist Straßenmusiker. Er profitiert von den Lockerungen der Corona-Maßnahmen.Bild: watson / lukas Weyell
Ein Stück weiter die Einkaufsstraße hinunter erklingt Klaviermusik. Um einen jungen Mann mit einem umgebauten mobilen Klavier hat sich eine kleine Menschenmenge gebildet, alle mit Abstand und Maske. Iwan hat einige Fans um sich versammelt.
Iwan ist Straßenmusiker aus Belarus. Mit seinem mobilen Klavier spielt er behände Coverversionen bekannter Charthits und Klassiker, die die Passanten zum Stehenbleiben und Staunen bringen. Für ihn ist die Wiedereröffnung der Einkaufsstraße ein Segen. Nun strömen wieder Menschen durch die Innenstadt, manche lauschen ihm und werfen ihm ein paar Cents oder Euros in seinen Becher. "Für mich ist das gut", erklärt er mit einem Lächeln, das sich unter seiner Maske und entlang der Augen abzeichnet.
Sarah: Ein Stückchen Normalität
Gegenüber von Iwan hat sich eine kleine Schlange vor einem Markendiscounter gebildet. Am Ende der Schlange steht Sarah. Sarah ist Anfang zwanzig, möchte aber unerkannt bleiben. Der Grund hierfür ist denkbar einfach: Sie ist eine derjenigen, die nur zum Shoppen nach Rostock kommen, sich hier aber gar nicht aufhalten dürften. Zumindest eigentlich. Rechtlich gesehen kann Rostock Tagestouristen aus anderen Gegenden nämlich nicht davon abhalten, die Geschäfte zu betreten, erklärt ein Sprecher der Stadt auf Nachfrage von watson.
Aber es ist eben nicht Sinn der Sache und auch nicht gerne gesehen. Wenn Touristen die Infektionszahlen in die Höhe treiben, kann bald Schluss sein mit dem Pilotprojekt. Dann greift spätestens bei einer Inzidenz von 100 die Notbremse. Manche Läden kontrollieren daher auch die Adressen der Kunden, wie es heißt.
Sarah kann den Ärger darüber durchaus nachvollziehen, aber sie hat einfach keine Lust mehr auf Shutdown. Was sie sich wünscht, ist für viele in ganz Deutschland durchaus nachvollziehbar: ein Stückchen Normalität nach einem Jahr Ausnahmezustand. Online-Shopping sei eben nicht dasselbe wie ein richtiger Bummel durch die Innenstadt. "Ich muss die Sachen mal direkt vor mir gesehen und angefasst haben. Und beim Anprobieren weiß ich dann auch, ob es mir passt oder nicht und muss nicht wieder alles zurückschicken."
Kommt der harte Lockdown auch für Rostock?
Außerdem sei so noch Platz für ein Eis oder eine Currywurst mit Pommes. Wenn die Sonne nun hoffentlich bald wieder rauskommt und es wärmer wird, freut sich Sarah auf längere Shoppingtrips in Rostock – sollte das Modellprojekt dann noch so stattfinden. Denn das ist aufgrund der bundespolitischen Entwicklung der Coronalage immer unwahrscheinlicher.
Doch der Oberbürgermeister will gerne an seinem Konzept festhalten. Kurz vor Ende des Besuchs in Rostock meldet sich die Pressestelle der Hansestadt dann doch noch mit einem Statement von Oberbürgermeister Madsen bei watson. Er erklärt: "Wir wollen am Ansatz des Rostocker Piloten festhalten und weiter Wissen während der Pandemie sammeln, um so gemeinsam einen Weg mit Corona zu finden. Kontaktnachverfolgung und medizinische Kapazitäten bleiben zentrale Indikatoren. Das öffentliche Leben setzt sich aus dem Verhalten von uns allen zusammen, jede und jeder Einzelne kann durch eigenes Verhalten einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten und für die Öffnungen im privaten Verhalten einstehen."
Rostocks Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen will am Pilotprojekt festhalten.Bild: www.imago-images.de / Norbert Fellechner
Ob das möglich ist, ist fraglich: Aktuell liegt die Sieben-Tage-Inzidenz im Kreis Rostock bei ungefähr 70. Das ist weit über dem Schwellenwert von 50, bei dem Kontakte noch gut nachverfolgt werden können. Daher soll ab kommender Woche auch ein Selbsttest vor dem Einkaufsbummel erforderlich sein. Ob dann überhaupt noch eingekauft werden kann oder ein kompletter Lockdown das gesamte Land lahmlegt, wird letzten Endes die Bundesregierung zusammen mit den Ländern entscheiden. Die Zeichen stehen auf kompletten Lockdown, für den sich auch die Bundeskanzlerin ausgesprochen hat.
Sehr wahrscheinlich wird das Motto nach dem kommenden Corona-Gipfel also auch in Rostock "harter Lockdown" heißen und nicht "wir alle sind Gesundheitsamt". Dann wird auch Rostock seine Innenstadt wieder schließen müssen. Da kann der Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen in noch so viele Talkshows gehen.
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