Die Wege zum Reichstagsgebäude in Berlin sind versperrt an diesem verregneten Mittwoch im Januar. Die Abgeordneten des Bundestages diskutieren an diesem Tag über die allgemeine Impfpflicht. Ergebnisoffen. Abgestimmt wird noch nicht.
Trotzdem treibt die Debatte viele Menschen auf die Straße. "Lasst die Finger von unseren Kindern" und "Impfdiktatur" wird unter den Linden, der Straße, die zum Brandenburger Tor führt, skandiert.
Das Parlament, das Herz der Demokratie, ist abgesperrt. Die Straßen sind von Polizeibeamten und Mannschaftswagenblockiert. Wasserwerfer, Hubschrauber, Polizeihunde. Abgesehen von der Präsenz der Beamten, merkt und hört man auf dem Parlamentsgelände, zwischen Reichstag und Paul-Löbe-Haus, nichts von den Corona-Demos.
Der Plan ist, dass die Abgeordneten über eine Impfpflicht frei nach ihrem Gewissen abstimmen sollen. Das bedeutet, dass sich nicht, wie bei anderen Themen üblich, die meisten oder alle Abgeordneten der Position der Partei anschließen. Die Debatte ist genauso offen.
Gegen 15 Uhr am Nachmittag geht es los. Zu Beginn ermutigt die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Abgeordneten, sich offen auszutauschen und respektvoll zu bleiben. "Bedenken wir, dass die Menschen von uns vor allem Orientierung erwarten", sagt sie.
Lange hatten die Regierenden in Bund und Ländern die allgemeine Impfpflicht ausgeschlossen, der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gab sogar zu Beginn der Impfkampagne mehrfach sein Wort, dass es eine solche Pflicht nicht geben würde. Seit im vergangenen Herbst aber in mehreren Teilen Deutschlands Krankenhäuser wegen der Belegung mit Covid-19-Patienten an die Belastungsgrenze kamen, sind die Forderungen nach einer allgemeinen Impfpflicht lauter geworden.
Auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich persönlich für die Einführung einer solchen Pflicht ausgesprochen.
Bei dieser "Orientierungsdebatte", wie die erste Sitzung zur Impfpflicht heißt, geht es nicht einfach um ein absolutes Ja oder Nein, sondern auch um mögliche Zwischenlösungen. Und um die wichtige Frage, ob eine Impfpflicht Spannungen in der Gesellschaft auflösen kann oder sie verschärft. Es ist der allererste Schritt zu einer möglichen Pflicht. Einen Termin für die Abstimmung gibt es noch nicht.
Nach den Vorstellungen von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) könnte eine Impfpflicht – falls Bundestag und Bundesrat ihr zustimmen – im April oder Mai wirksam werden. Danach wäre demnach noch ausreichend Zeit, möglichst viele Menschen impfen zu lassen, bis sich im Herbst die pandemische Lage wieder zuspitzen könnte.
Trotzdem: Dass die Frage einer allgemeinen Impfpflicht nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Parlament kontrovers und emotional aufgeladen ist, das stellt diese offene Debatte unter Beweis.
Die Besuchertribüne des Plenarsaals ist so voll, wie es zu Coronazeiten erlaubt ist. Während der Debatte wechselt die Besuchergruppe. Viele Bürgerinnen und Bürger nehmen an diesem Tag ihr Recht wahr, das gläserne Parlament zu besuchen.
Insgesamt wird bei der Debatte klar: So divers wie die Gruppenanträge, so divers sind die Meinungen zur Impfpflicht im Plenum.
So stellt beispielsweise die Grünen Politikerin Kirsten Kappert-Gonther heraus, dass aus ihrer Sicht eine Impfpflicht für Menschen über 50 Jahren zu kurz greife. Stattdessen müsse es eine allgemeine Verpflichtung für jeden Menschen über 18 Jahren geben. Ihre Begründung: Long Covid. Eine gesellschaftliche Spaltung durch die Einführung einer Impfpflicht sehe sie nicht, vielmehr eine Befriedung.
Ihre Parteikollegin Paula Piechotta, die an diesem Tag ihre erste Rede im Bundestag hält, sieht das anders. Sie geht in ihrer Rede darauf ein, dass sie aus Sachsen kommt. "Als Mensch, der in Sachsen wohnt, reicht der Glaube, dass die Impfpflicht nicht zur Spaltung führt, für mich nicht aus", sagt sie. Sie wirbt für einen "Mittelweg", eine Impfpflicht für Menschen über 50 Jahre. Und sie wirbt auch dafür, in der Debatte andere Sichtweisen und Perspektiven anzuhören und zu reflektieren.
Auffällig ist an diesem Tag im Parlament aber nicht nur, dass sich Mitglieder der gleichen Fraktion gegenseitig widersprechen und für unterschiedliche Wege werben, sondern dass gleichzeitig unabhängig von Fraktion oder Koalition applaudiert wird – nur die Union hält sich hier zurück. Und die AfD wird ebenfalls außen vor gelassen.
Immer wieder fangen Abgeordnete der AfD an zu grölen, wenn andere Politikerinnen und Politiker, über die Impfpflicht oder die Stimmung im Land sprechen.
Dirk Wiese (SPD), Unterzeichner des Gruppenantrags der allgemeinen Impfpflicht ab 18 Jahren, bewertet die Debatte gegenüber watson folgendermaßen:
Emotional wird es bei dem Linken-Politiker Matthias Birkwald. Er hat seinen Impfpass dabei, um klarzustellen, dass er sich gegen alles impfen lässt, was empfohlen wird. Er habe sich auch gegen Corona impfen lassen – samt Booster. Obwohl er nach eigenen Angaben seit der zweiten Impfung Schmerzen an der Einstichstelle hätte. Und obwohl sein Vater am Tag nach dessen Impfung gestorben sei – einen offiziellen Zusammenhang gebe es nicht, aber eben dieses Gefühl.
Birkwald stellt das alles klar, um sich dann gegen eine Impfpflicht auszusprechen. Er sagt: "Ich habe mich nach Abwägen des Risikos und des Nutzens dafür entschieden." Und diese freie Entscheidung wünsche er sich für jeden Menschen.
Abstimmen sollen die Abgeordneten später über Gruppenanträge, die fraktionsübergreifend erarbeitet werden können. Im Raum steht zum Beispiel die Idee, eine Pflicht für Menschen ab einem bestimmten Alter einzuführen. In Griechenland sind etwa Menschen über 60 Jahre zu einer Impfung verpflichtet. Österreich hat mittlerweile die allgemeine Impfpflicht mit Bußgeldern als Strafe eingeführt.
Einer der Gruppenanträge für eine Impfpflicht stammt von Vertretern und Vertreterinnen der Ampel-Regierungsmehrheit. Sie sprechen sich für eine Impfpflicht ab 18 Jahren aus und planen, nach der Orientierungsdebatte einen Gesetzentwurf zu präsentieren. Unterzeichnet wurde die Ankündigung unter anderem von Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Janosch Dahmen (Grüne), Heike Baehrens (SPD) und Dirk Wiese (SPD).
In der Ankündigung des Gesetzentwurfs heißt es:
Ein weiterer Gruppenantragsentwurf stammt von FDP-Politikern rund um Wolfgang Kubicki. Sie sprechen sich gegen die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht aus. Als Grund haben einige von ihnen auf eine frühere watson-Nachfrage vor allem auf die Durchsetzbarkeit einer solchen Impfpflicht verwiesen, die sie nicht gegeben sehen.
Nach dem Antragsentwurf der Gruppe um Kubicki, soll der Bundestag laut Informationen der Nachrichtenagentur dpa feststellen, "dass es in der Bundesrepublik Deutschland keine allgemeine Impfpflicht gegen Sars-CoV-2 geben wird". Der Bundestag verbinde dies "mit dem Appell, dass sich weiter möglichst viele Menschen bestmöglich gegen Covid-19 schützen, indem sie die empfohlenen Angebote einer Coronaschutzimpfung wahrnehmen".
Christine Aschenberg-Dugnus, die gesundheitspolitische Sprecherin, führte gegenüber watson außerdem aus:
Ein dritter Gruppenantrag, der nach der Orientierungsdebatte als Gesetzentwurf vorgelegt werden soll, ist die Ü-50-Lösung. Also Menschen, die älter sind als 50 Jahre, sollen verpflichtet werden, sich impfen zu lassen. Eingebracht werden soll der Entwurf von einer Gruppe von Parlamentariern um den FDP-Politiker Andrew Ullmann.
Die Union will nach Informationen der FAZ einen eigenen Gruppenantrag im Anschluss an die Debatte erarbeiten. Die Zeitung bezieht sich dabei auf den gesundheitspolitischen Sprecher der Fraktion, Tino Sorge. Der Antrag der Union solle ein "differenzierter Vorschlag, der auch zur Befriedung in der Diskussion beitragen wird" sein.
Für Befriedung sorgt Sorge an diesem Mittwoch allerdings nicht, vielmehr stichelt er, wie auch seine Parteikollegin Andrea Lindholz, gegen die Regierung.
Aber auch die Politiker sind bei weitem noch nicht alle entschieden. So plädiert zum Beispiel Bundesjustizminister Marco Buschmann vor einer Entscheidung dafür, zunächst alle milderen Alternativen zu prüfen. Er sagt: "Ich traue mir da heute keine abschließende Meinung zu."
Einer der Unentschiedenen, der der Debatte heute aufmerksam folgen möchte, ist auch der Linken-Politiker Ates Gürpinar. Im Vorfeld der Diskussion trifft Watson ihn vor dem Brandenburger Tor. Ein Hubschrauber kreist darüber, Polizisten sind postiert, ebenso wie Mannschaftswagen. Die Straße zum nebenan liegenden Reichstagsgebäude ist abgeriegelt. Gesichert durch Polizei und Wasserwerfer, die eine Eskalation der Impfgegner-Demos verhindern sollen.
Der Linken-Abgeordnete ist pflegepolitischer Sprecher seiner Fraktion im Bundestag. Er ist hier wegen einer parallel stattfindenden Demo von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, nicht wegen der Coronaleugner. Gürpinar sagt: "Wie die Debatte über die Impfpflicht geführt wird, halte ich für überzogen". Auf der einen Seite rette die Impfung tausende von Leben, auf der anderen gebe es auf der Welt nicht genug Impfstoff. Dass die Debatte so stark aufgeladen ist, sei absurd. Es gehe um die Entscheidung, dass die Impfung nützlich ist. Und demokratische Parteien seien sich einig, dass die Impfung eben kein Problem ist.
"Es gibt aber einige, die das Thema nutzen, um Angst zu schüren", sagt Gürpinar. Er selbst frage sich, wie in der aktuellen Situation die Impfpflicht weiterhilft. "Die Frage, die sich stellt: Was bringt die Maßnahme für weitere Wellen?" sagt er. Das, so hofft er, könne in Teilen diskutiert werden.
"Die Debatte ist wichtig", erklärt der Linken-Abgeordnete. Denn auch in Gürpinars Fraktion, der kleinsten im Bundestag, gingen die Meinungen auseinander. Es sei aber besorgniserregend, dass die Regierung sich nicht mehr für weltweite Verteilung des Impfstoffes einsetze. "Hier haben die EU und Deutschland eine besondere Aufgabe", sagt er. Mit Blick auf die Impfpflicht in der Pflege sagt er: "Das war schwierig, auch weil sie als ein Schritt hin zur allgemeinen Impfpflicht verstanden wurde. Und es gibt Probleme mit der Umsetzung.“