Lars Klingbeil steht an der Reling. Wind fährt durch seine Haare. Seine Augen sind zusammengekniffen. Er lächelt. Der SPD-Chef blickt in Richtung Sonne, während er seiner Genossin Siemtje Möller zuhört. Die Bundestagsabgeordnete deutet auf die großen grauen Schiffe, die hier im Marinehafen Wilhelmshaven vor Anker liegen. Die "Niedersachsen", die "Baden-Württemberg". Graue Giganten, die für die deutsche Marine durch die Weltmeere schippern.
Dass es vor wenigen Minuten noch so stark geregnet hat, dass das Sakko des SPD-Chefs nass war und die Tropfen sein Gesicht herunterliefen, ist in diesem Moment kaum mehr vorstellbar. Genauso wenig wie die Tatsache, dass eine Bucht weiter riesigen Industrieanlagen stehen. Gegenüber dem Weltnaturerbe Wattenmeer. Auf der Nordseite von Wilhelmshaven. Der Ort, an dem bald die deutsche Unabhängigkeit von Russland Realität werden soll.
Wilhelmshaven hat Deutschlands einzigen Tiefwasserhafen, in dem – unabhängig von Ebbe und Flut – auch große, schwere Tankschiffe anlegen können. Also solche, die für die Lieferung von LNG-Gas gebraucht werden.
Der Plan ist, dass hier ab dem 22. Dezember die ersten Schiffe mit Flüssiggas andocken können. So zumindest stellt es sich der niedersächsische Umweltminister Olaf Lies (SPD) vor. Holger Kreetz, der Verantwortliche für Transformation beim Energieunternehmen Uniper, meint, das Terminal werde so schnell wie möglich fertig werden.
Uniper ist einer von Deutschlands wichtigsten Gasimporteuren – und angeschlagen. Aus diesem Grund wird das Unternehmen mit staatlichen Hilfen gestützt. Das Unternehmen stand jüngst in der Kritik, weil es laut Medienberichten bei der umstrittenen Gasumlage mitgeschrieben haben soll. Das Wirtschaftsministerium bestritt die unmittelbare Mitsprache.
Warum der Zeitplan nicht auf den Tag genau sein kann? "Ab Windstärke sieben wird nicht mehr gearbeitet", sagt Kreetz. Auch an diesem Tag, an dem Lars Klingbeil, Olaf Lies und Siemtje Möller auf der Nordsee unterwegs sind, soll es noch Sturmböen bis zur Windstärke neun geben. "Jeder Tag, an dem nicht gearbeitet werden kann, bedeutet ein Tag später fertig", fasst Kreetz zusammen.
Auf dem Deich grasen Heidschnucken. Der Himmel wirkt hier oben am Meer sehr niedrig. Fast zum Greifen nah. Und er ist so blaugrau wie das Meer. Am Horizont sind Windräder zu sehen. Offshore. Vom Land ragt ein Anleger weit hinein in den Jadebusen. Genau hier sollen im kommenden Jahr die Schiffe anlegen, die deutsche Haushalte mit Flüssiggas versorgen sollen.
Gasindustrie in der Nordseeidylle.
Sobald alles fertig ist, werden die Flüssiggasschiffe an die sogenannten FSRU, also schwimmenden LNG-Terminals mit Regasifizierungsanlagen, andocken. Diese Terminals werden das -170 Grad kalte Flüssiggas zurück in den gasförmigen Zustand versetzen und dann permanent in das deutsche Gasnetz einspeisen. 40 Prozent des russischen Erdgases sollen bis zum kommenden Sommer allein in Wilhelmshaven substituiert werden.
Ein Tanker, meint Kreetz, befördere genügend Flüssiggas, um 50.000 Haushalte ein Jahr lang versorgen zu können. Anlegen sollen hier jährlich 50 bis 60 solcher Schiffe. Pro Terminal. Denn das eine, das aktuell gebaut wird, soll nicht das einzige bleiben.
Ein Lichtblick am Ende des Tunnels.
Aktuell schießen die Energiepreise so durch die Decke, dass Betriebe wie Privatpersonen in ihrer Existenz bedroht sind. Wenn Lars Klingbeil von den Sorgen der Unternehmer aus seinem Wahlkreis berichtet, wird seine Stimme sehr ruhig. Ernst. Er erzählt von einem Bäcker, dessen Gasrechnung sich verzehnfachen wird.
Dass Klingbeil diese Sorgen ernst nimmt, ist ihm anzumerken. Und, dass er daran etwas ändern will. Er ist guter Dinge, dass die frisch eingesetzte Gaskommission bis Oktober Vorschläge macht, die die Bürger:innen und Unternehmen konkret entlasten können.
Klingbeil sagt bei einem Bürgergespräch in Oldenburg:
Wichtig sei auch der Strompreisdeckel – auch wenn dieser Eingriff den Staat etwas kosten werde. Auch Klingbeil ist klar, dass die Entlastungspakete nicht alle Belastungen zu hundert Prozent abfedern können. Gerade für Menschen, die ohnehin schon an der Armutsgrenze oder darunter leben, ist die aktuelle Situation extrem. Aus diesem Grund soll nun zwar beispielsweise der Kreis der Wohngeldberechtigten ausgeweitet werden – aber auch das wird die Situation für viele nicht erleichtern. Darüber hinaus brauche es aber einen Eingriff in den Markt.
Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund fordert eine Gas- und Strompreisbremse, um einen wirtschaftlichen Einbruch und Massenarbeitslosigkeit zu verhindern.
Klar wird hier oben im Norden sehr schnell: Niedersachsen möchte Deutschlands Energieland Nummer eins werden. Und zwar nicht nur mit Flüssiggas, sondern in Zukunft vor allem mit grünem Wasserstoff.
Auch dieser soll dann in Wilhelmshaven in das deutsche Energienetz eingespeist werden. Dafür braucht es allerdings neue Import-Terminals. Weitergeleitet wird der Energieträger dann entweder per H2-Pipeline oder aber in Form von Ammoniak per Schiene, Schiff oder LKW.
Trotzdem, so stellen es Umweltminister Lies und Uniper-Mann Kreetz klar, sei die Entscheidung für die schwimmenden Terminals nachhaltig. Damit könne schnell auf grünen Wasserstoff umgesattelt werden. Diese Umstellung müsse auch möglichst schnell erfolgen, denn: "Wenn wir Klimaschutz nicht konsequent voranbringen, zerstören wir unser Weltnaturerbe", sagt Lies.
Er fährt fort: "In Zukunft werden die Länder auf der Welt, die Sonne, Wind und Wasser haben, profitieren." Wilhelmshaven will zu einem Drehkreuz der grünen Energie werden.
Aus diesem Grund gibt es dort den "Runden Tisch Wasserstoff", an dem Politik, Wirtschaft und Belegschaft gemeinsam diskutieren, wie der Wandel gestaltet werden kann. Denn: Die Akzeptanz der Bevölkerung ist essenziell für diesen Transformationsprozess. Das macht der Oberbürgermeister der Stadt Wilhelmshaven, Carsten Feist (Parteilos), mehr als deutlich.
"Die Herausforderungen, die wir hier gerade meistern, können wir nur als Region gemeinsam meistern", sagt er. Es sei richtig, dass Bund, Land und Kommunen zusammenarbeiteten. Genauso wichtig sei es, dass sich auch die Unternehmen, die eigentlich im Wettbewerb miteinander stünden, zusammenschlössen. Um so gemeinsam als Region der nationalen Verantwortung gerecht zu werden und gleichzeitig Wertschöpfung voranzutreiben.
Das meint: Die Ansiedelung neuer Unternehmen, das Nutzen der Abwärme einzelner Anlagen für die Energie anderer Anlagen – eine Entwicklung der Region. Feist stellt außerdem klar: Er erwartet einen Finanzausgleich.
Er sagt:
Akzeptanz für diese Transformation gebe es in der Bevölkerung, meint Feist. Die meisten Bürger:innen sähen, dass die Transformation Chancen mit sich bringe: Arbeitsplätze, Steuern. Gleichzeitig tragen sie die Lasten: Sowohl die Pipelines für das Flüssiggas, als auch die Stromtrassen und Spannwerke brauchen Platz. Wichtig seien hier Transparenz und Dialog.
Ein nachträglicher Glücksfall für Wilhelmshaven: Ein großes Industriegebiet, das bereits in den 70er Jahren entwickelt wurde, liegt bis heute brach. Die Unternehmen, die sich dort hätten ansiedeln sollen, sind nicht gekommen. Unter anderem die deutsche Flüssiggas Terminalgesellschaft.
Lies sagt:
Die in den vergangenen Jahrzehnten ungenutzte Fläche kann jetzt neue Firmen beheimaten – vor allem jene, die bei der Transformation mitwirken wollen. Und so doch noch Steuern nach Wilhelmshaven bringen. Dass nun das Zeitalter des Nordens kommt, davon ist der SPD-Chef Lars Klingbeil überzeugt.
Er sagt:
Die Industrie folge der Energie, meint Klingbeil. Wenn das stimmt, könnten Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern mit ihren Offshore-Energieparks und den Erneuerbaren die neuen wirtschaftsstarken Bundesländer werden.
Was dem SPD-Chef in Wilhelmshaven aber auch klargemacht wird: Genehmigungsverfahren und politische Entscheidungen müssen schneller – politische Lenkung muss stärker werden. Denn erfolgreich wird das Projekt Energiewende nur, wenn Bund, Länder, Kommunen, Bürger:innen und Wirtschaft zusammenarbeiten.