Ein langer Wahlkampf liegt hinter den Parteien. Gespickt mit Empörungswellen (unkorrekte Lebensläufe und unangebrachte Lacher) und Katastrophen (Afghanistan und die Flut in Westdeutschland). An diesem Sonntag haben die Wähler ihre Stimme abgegeben – und damit mitentschieden, wie sich das Land in Zukunft entwickeln soll. Wir waren auf den Wahlpartys der vier größten Parteien und haben erlebt, wie sie mit den Ergebnissen umgehen.
Es ist etwa 19 Uhr, als Angela Merkel weg ist. Die schwarze Limousine der Noch-Bundeskanzlerin mit ihren getönten Scheiben fährt an der Straße vor dem Konrad-Adenauer-Haus vorbei, der CDU-Zentrale. Zwei japanische Journalisten, die gerade ein CDU-Mitglied interviewen, drehen sich um und rufen: "Byebye, Merkel!" Die Kanzlerin ist nur eine knappe Stunde geblieben an dem Abend, der das Ende ihrer Ära einleitet.
Drinnen versuchen sie inzwischen, das Ergebnis möglichst positiv zu deuten. Etwas über 24 Prozent der Zweitstimmen haben CDU und CSU am Ende von den Wählern bekommen, über 8 Prozentpunkte weniger als 2017. Das mit Abstand schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Paul Ziemiak, der CDU-Generalsekretär, spricht tapfer von einer "Zukunftskoalition" mit FDP und Grünen, die man jetzt bilden könne. Und Armin Laschet, CDU-Chef und Kanzlerkandidat, spricht sogar von einem "klaren Auftrag", den die Union erhalten habe. Er werde "alles tun", um eine Regierung zu bilden.
Es ist ein schlechtes Ergebnis. Aber die große Katastrophe, auf die Umfragewerte rund um 20 Prozent gedeutet hatten, bleibt für CDU und CSU aus.
Auf die Union kommen schwere, schmerzhafte Fragen zu: In welche Richtung wird sie sich jetzt weiterentwickeln? Kann Armin Laschet der starke Mann in der CDU bleiben? Wie viel Toleranz gegenüber Laschet hat die CSU, mit ihrem ungebrochen selbstbewussten Chef Markus Söder? Erste Antworten könnte es schon am Montag und Dienstag geben: nach der Vorstandssitzung der Partei, nach den ersten Sitzungen der nächsten CDU-Bundestagsfraktion.
Wohin es gehen soll, das ist für Winter klar – nach Jamaika, in eine Koalition mit Grünen und FDP. Winter sagt: "Ich wünsche mir, dass wir in eine Jamaika-Koalition gehen und richtig gute Klimapolitik machen – auf Basis der sozialen Marktwirtschaft."
Das Problem ist: Ob das klappen kann, das liegt nicht mehr in der Hand von CDU und CSU. Die SPD wird am Ende wohl die stärkste Partei dieser Bundestagswahl. Ob sie trotzdem mit CDU und CSU zusammengehen, das werden Grüne und FDP zu entscheiden haben. Die Alternative liegt auf der Hand: die Sozialdemokraten um ihren Kanzlerkandidaten Olaf Scholz.
"Die SPD hat den Regierungsauftrag, sie ist die Gewinnerin des Wahlkampfs", erklärt Saskia Esken im Willy-Brandt-Haus. Ihr ginge es hervorragend, sagt die SPD-Chefin auf watson-Nachfrage. Und fährt fort:
Die Stimmung bei den Sozialdemokraten ist an diesem Wahlabend großartig. Schon bevor die ersten Hochrechnungen offiziell von der ARD bekannt gegeben werden, ist die Stimmung locker und ähnlich einem Volksfest – allerdings ohne die Blasmusik. "Ich bin sehr zufrieden mit dem Wahlkampf und dem Schlussspurt. Wir haben dran geglaubt, dass es wird und um 18 Uhr wird sich zeigen, ob es reicht", sagt Vize-Juso-Chefin Hannah Reichhardt.
Das Willy-Brandt-Haus füllt sich, nur Kanzlerkandidat Olaf Scholz und die SPD-Spitze lassen auf sich warten. Bei der Verkündung der Hochrechnungen um 18 Uhr sind sie noch nicht da, der Stimmung tut das keinen Abbruch. Der erste Balken ist rot – 25 Prozent für die SPD. Die Menge jubelt. Als dann die Hochrechnungen für Berlin und Mecklenburg-Vorpommern folgen, wird der Jubel immer lauter.
Menschen mit Platzangst haben an diesem Abend ein Problem: Das Haus ist voll, es ist heiß und stickig. Journalisten, Politikerinnen, die SPD-Basis, alles drängt durcheinander. Um 19 Uhr, eine Stunde nach den ersten Hochrechnungen, treffen auch Olaf Scholz, Saskia Esken und Norbert-Walter Borjans im Willy-Brandt-Haus ein: die Menge tobt. Ganz leise tönt aus einer Ecke das alte Arbeiterlied "Die Internationale", verstummt aber auch gleich wieder. SPD-Fahnen werden geschwenkt.
„Pragmatismus, Zuversicht und Geschlossenheit werden wir auch in der kommenden Zeit zeigen“, sagt Scholz. Wenn ein endgültiges Wahlergebnis da ist, will er sich an die Arbeit machen. Seine abschließenden Worte: "Schönen Tag noch". Und den werden die Genossen haben: später gibt es im Hof Livemusik. "So sehen Sieger aus Schalalalalala" wird angestimmt und "Ein Hoch auf uns".
Die Sozialdemokraten sehen sich als klaren Gewinner dieser Wahl. Um zu regieren, brauchen sie nach aktuellen Hochrechnungen allerdings nicht nur die Grünen, sondern auch die FDP.
Bei der FDP will sich keine und keiner die Freude an diesem Abend nehmen lassen. Am Ende haben die Liberalen sich wohl minimal verbessert, um knapp weniger als einen Prozentpunkt im Vergleich zur Bundestagswahl 2017. Ob das jetzt ein großer Erfolg war oder ein kleiner? Zum einen ist es kaum mehr als ein Jahr her, dass die FDP in den Umfragen an der Fünf-Prozent-Hürde herumkrebste. Zum anderen durfte die Partei in den vergangenen Wochen auf ein Ergebnis rund um 13 Prozent hoffen.
Aber wer an diesem Abend mit Liberalen spricht, der blickt in grinsende Gesichter und hört freudige Stimmen. FDP-Generalsekretär Volker Wissing freut sich besonders darüber, dass die Partei bei jungen Wählerinnen und Wählern so gut angekommen ist: bei Erstwählern hat die Partei nach Nachwahlbefragungen zwischen 21 und 23 Prozent geholt, dort waren die Liberalen erst- oder zweitstärkste Partei. Wissing kommentiert das gegenüber watson so: "Das ist ein großer Vertrauensbeweis für uns." Wissing versprach: "Es muss jetzt einen Aufbruch geben. Unser Land muss moderner und digitaler werden. Ein weiter so darf es nicht geben."
Ihre Freude begründen FDP-Politiker vor allem mit der politischen Macht, die sie nach dem Wahlergebnis haben. Es sind Liberale und Grüne, die darüber entscheiden werden, wer Kanzler wird: der Christdemokrat Laschet oder der Sozialdemokrat Scholz. FDP-Chef Christian Lindner macht am Wahlabend nochmals deutlich, dass er mit der Union die größeren Überschneidungen sehe.
Die Frage ist aber, wie viel von dieser Aussage ernstes Flirten mit den Konservativen ist – und wie viel davon Strategie, um in Verhandlungen mit der SPD den Preis für eine Koalition hochzutreiben. Denn in den Wochen vor der Wahl waren auch von führenden Liberalen ziemlich skeptische Töne über CDU und CSU zu hören. Aus der Führungsetage der Partei war unter anderem zu hören, die Unionsparteien seien unfähig dazu, Deutschland zu reformieren.
Die FDP-Bundestagsabgeordnete Gyde Jensen, Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag und jüngste Parlamentarierin, bringt die Position der Partei gegenüber watson so auf den Punkt: "Klar ist, dass ohne die Freien Demokraten eine Regierungsbildung aus der Mitte des Parlaments nicht möglich sein wird. Ich glaube, dass wir eine sehr gute Ausgangslage für mögliche Gespräche in den nächsten Wochen haben."
Die Stimmung bei den Grünen ist gut, allerdings auch etwas verhalten. Verständlich, nach diesem Wahlkampf: Das Ziel einer grünen Kanzlerin hat die Partei verpasst. Trotzdem ist das Ergebnis der aktuellen Hochrechnungen, das beste, das die Partei jemals erreicht hat.
So fasst es auch die Vize-Vorsitzende Ricarda Lang zusammen. Gegenüber watson erklärt sie:
Trotzdem stehen die Grünen beisammen, trinken Bier, unterhalten sich hinter der Columbiahalle, in der sie ihre Wahlparty veranstalten. Die Stimmung: familiär. Zu essen gibt es vegane Burger, vegane Currywurst und Ofenkartoffel. Auf einer Leinwand wird die Elefantenrunde übertragen. Daneben – stumm geschaltet – ein DJ, der Musik auflegt.
Dieser DJ ist in der Columbiahalle. Dort wird ausufernd getanzt. Der eine oder die andere Grüne scheint erleichtert zu sein, dass die taffe Wahlkampfzeit vorbei ist. Und dabei wird es nach der Wahl nicht weniger anstrengend, davon geht zumindest Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt aus.
Sie rechnet damit, dass die Grünen Teil der Regierung sein werden und sich ganz zentral mit der Frage beschäftigen müssen, wie Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit zusammengebracht werden könnten. Gegenüber watson sagt sie:
So spannend der Wahlkampf in den vergangenen Wochen wurde, so spannend ist das Wahlergebnis. Ab jetzt wird also sondiert, Koalitionen gesucht und versucht mit dem Votum der Bürgerinnen und Bürger eine Regierung zu bilden.