Die Reihen füllen sich. Es ist 8.53 Uhr und in wenigen Minuten beginnt die dritte Sitzung des neuen Bundestages. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter betritt den Plenarsaal, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und läuft zu seiner Fraktion, die zwischen SPD und den Unionsparteien CDU und CSU sitzt. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach tippt auf seinem Handy herum.
Eine Etage weiter oben und ein Stück weiter rechts füllt sich eine Tribüne, auf der weder Besucher noch Pressevertreterinnen sitzen: der Balkon der AfD-Fraktion. Dort sitzen jene Abgeordnete, die sich der 3G-Regelung im Plenarsaal widersetzen. Dort oben sitzen sie ohne Maske, dicht beieinander. Zwischenzeitlich zu dicht, weshalb einer der Saalordner einen AfD-Abgeordneten zurechtweist.
Punkt neun Uhr. Der Gong ertönt, alle im Saal erheben sich. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas betritt den Raum und eröffnet die Sitzung. Abgestimmt wird an diesem Tag über den Gesetzesvorschlag von SPD, Grünen und FDP zur Änderung im Infektionsschutzgesetz. 67 Minuten sind für die Debatte im Vorfeld der namentlichen Abstimmung (3. Lesung) angesetzt. Reichen werden sie am Ende nicht.
Genug Ja-Stimmen wird das Gesetz trotzdem bekommen und somit im Bundesrat am Freitag ebenfalls zur Abstimmung stehen. Die epidemische Lage nationaler Tragweite wird demnach am 25. November auslaufen. Auch wenn sich die Union gewünscht hätte, sie würde verlängert.
Die Länderchefs, die im Bundesrat über das Gesetz abstimmen werden, treffen sich bereits am Donnerstag – nach der Sitzung des Bundestages – bei der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), auch dort wird es um das neue Gesetz und die Eindämmung der Pandemie gehen. Auf der Tagesordnung: Bedingungen für 2G-Regelungen, Impfungen und die Aushandlung gemeinsamer Richtwerte bei der Hospitalisierungsrate.
Die Erwartungen an den Gipfel sind hoch. So erhofft sich beispielsweise die Gesundheitssenatorin der Hansestadt Bremen Hilfestellungen für eine bessere Impfquote und eine Unterstützung für die Krankenhäuser in Deutschland. Lukas Fuhrmann, Sprecher der Bremer Senatorin für Gesundheit, Claudia Bernhard (SPD), sagte dazu auf watson-Anfrage:
Auch Bremen müsse mit steigenden Fallzahlen rechnen. "Auch wir wollen weiterhin verstärkt impfen. Deswegen sind die Beschlüsse auch für uns wichtig", so Fuhrmann.
Der Stadtstaat hat die höchste Impfquote der Republik: Was hat Bremen besser gemacht als die restlichen Länder? Fuhrmann erklärt mit Blick auf die Gesundheitssenatorin: "Beim Impfen war es Frau Bernhard von Anfang an wichtig, dorthin zu gehen, wo wir hohe Inzidenzen haben und niedrigschwellige Impfangebote umzusetzen."
Man sei bereits seit Mai flächendeckend in die Stadtteile gegangen, von denen man wisse, dass sie hohe Inzidenzen haben. Dort gebe es oft eine schlechtere medizinische Versorgung, wenig Wohnraum, häufig Armut. Fuhrmann sagt: "Wir haben in diesen Stadtteilen aber nicht nur einfach Impfungen ermöglicht, elementar war die Information und Aufklärung."
Es habe eine eigene Informationskampagne gegeben, die in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Auch habe man sogenannte Multiplikatorinnen und Multiplikatoren eingesetzt, die Informationen in ihre Gruppen getragen haben. "Was man daraus lernen kann, ist, dass es Ziel sein muss, wirklich alle Menschen zu erreichen. Das darf nicht nur formuliert werden, das muss auch umgesetzt werden und das haben wir getan."
Wie das "Redaktionsnetzwerk Deutschland" berichtet, sollen sich die Länderchefs darauf verständigt haben, Ungeimpfte dann mit Zugangsbeschränkungen zu belegen, wenn die Hospitalisierungsinzidenz den Schwellenwert 3 erreicht. Auch auf eine Impfpflicht in bestimmten Berufen sei sich verständigt worden.
Vor allem gehe es aber darum, ein einheitliches Signal zu setzen. Gebraucht werde "ein Weckruf, um ein pandemiemüdes Deutschland wieder ein Stück wachzurütteln", sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der Nachrichtenagentur dpa.
Von Einheitlichkeit kann allerdings zumindest mit Blick auf das neue Infektionsschutzgesetz keine Rede sein: Die Union könnte sich querstellen. Und diese ist in 10 der 16 Landesregierungen vertreten. Das Gesetz braucht für seine Verabschiedung eine absolute Mehrheit im Bundesrat.
So soll beispielsweise Hendrik Wüst, der neue Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, einen Brief formuliert haben, indem er bemängelt, dass die neuen Maßnahmen nicht weitreichend genug seien, das berichtete die "Tagesschau". Wüst soll die Vorlage als "nicht zustimmungsfähig" einschätzen.
Stoppen dürften die Länder mit der Union in der Regierung das Gesetz trotzdem nicht: Am Donnerstagabend gab etwa Bayerns Ministerpräsident Markus Söder nach der MPK bekannt, dass die bayerische Landesregierung dem neuen Infektionsschutzgesetz zustimmen würde.
Schon am Vormittag im Bundestag ist die Luft zum Schneiden dick zwischen der Union und der Ampel in spe. Spitzen werden von beiden Seiten verteilt. So wirft der CSU-Politiker Stephan Stracke der gesundheitspolitischen Sprecherin der SPD, Sabine Dittmar, vor, der Dramatik der aktuellen Lage nicht gerecht zu werden. "Die 'links-gelbe' Koalition macht erste Fehler", sagt er und bemängelt, der Maßnahmenkatalog im neuen Gesetz sei zu lasch. Dittmar entgegnet: "Sie lassen sich von ihren Freistaaten treiben, die Spitzenreiter bei der Inzidenz sind." Gemeint sind hier Sachsen und Bayern, die beide von der Union regiert werden.
Auch der Unionsfraktionsvize Thorsten Frei wirft SPD, Grünen und FDP vor, bei der Bekämpfung der Pandemie in die verkehrte Richtung zu laufen. "Drehen Sie doch bitte um", sagt er, ohne den Satz wie eine Bitte klingen zu lassen. Aus Sicht der Union sei es unverantwortlich, die epidemische Lage nationaler Tragweite nicht zu verlängern.
Doch was wird sich jetzt eigentlich ändern? Konkret wollen SPD, FDP und die Grünen mit diesem Gesetzespaket Entscheidungen über Maßnahmen wieder mehr von den Bundesländern in deren Parlamenten abstimmen lassen. Als Instrumente stehen 3G-Regelungen am Arbeitsplatz und im Öffentlichen-Personen-Nahverkehr, Homeoffice-Pflicht, Testpflichten in Einrichtungen wie Altenheimen und verschärfte Strafen für Impfpass-Fälscher bereit.
Gleichzeitig sollen Länder weiterhin in der Lage sein, harte Maßnahmen ergreifen zu können – allerdings nur, wenn das Landesparlament diesen Maßnahmen zustimmt. Zu diesen harten Eingriffen zählen Einschränkungen und Verbote von Veranstaltungen in Freizeit, Kultur und Sport. Auch Kontaktbeschränkungen wären teilweise möglich. Nicht mehr möglich sein sollen: Verbote von Demonstrationen und Gottesdiensten, umfassende Geschäfts- und Schulschließungen, Verbote innerdeutscher Reisen oder touristischer Übernachtungen.
Aber die Union teilt an diesem Tag im Parlament nicht nur aus, sie muss auch Kritik einstecken. Beispielsweise zeigt sich Manuela Rottmann (Grüne) überrascht davon, dass Hendrik Wüst in seinem Bundesland Karneval feiern ließ, nun aber härtere Maßnahmen fordere, dass Gesundheitsminister Jens Spahn noch im Oktober ein Ende der epidemischen Lage gefordert hatte – seine Partei nun aber genau diese Lage verlängern wolle. Rottmann ist nicht die erste, die an diesem Tag Jens Spahn explizit kritisiert.
Spahn steht daraufhin von seinem Platz auf, läuft zum Podium, auf dem Bundestagspräsidentin Bas sitzt, spricht kurz mit ihr und verlässt die Reihe, in der die Minister sitzen. Er läuft vorbei an der FDP-Fraktion hin zu den Stühlen der Union, setzt sich und wartet, bis er aufgerufen wird. "Eine Kurzintervention des Abgeordneten Jens Spahn", kündigt Bas an. Der Gesundheitsminister will sich verteidigen.
Es sei eine schwierige Lage für eine geschäftsführende Regierung, vor allem wenn sich gerade neue Mehrheiten fänden. Trotzdem hätte die geschäftsführende Regierung dabei geholfen, das neue Gesetz zu formulieren. Er selbst würde sich wünschen, dass die Länder mehr Möglichkeiten bekämen zu reagieren. "Wenn Sie, mit der Mehrheit, die sie hier haben, entscheiden, diesen Weg zu gehen, dann tragen Sie diese Verantwortung", fasst Spahn zusammen. Seine Fraktion jubiliert.
Aus Sicht von Maria Klein-Schmeinke steht den Bundesländern mit dem neuen Infektionsschutzgesetz ein größerer Instrumentenkasten mit verbindlichen 2G, 2G+ und 3G-Regelungen, Abstandsgeboten, Maskenpflicht, Obergrenzen in Einrichtungen und Kontaktpersonennachverfolgung zur Verfügung. Sie ist die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag.
"Es ist jetzt die Zeit, gemeinsam alles zu tun, um die dramatische Entwicklung einzudämmen und den drohenden Kollaps des Gesundheitssystems abzuwenden", schreibt Maria Klein-Schmeinke auf Anfrage der watson-Redaktion. Und führt weiter aus: "Die Länder haben es in der Hand, diese konsequent anzuwenden und zu handeln. Die Zeit zu handeln ist jetzt."
398 Abgeordnete haben an diesem Donnerstag schließlich für die Änderung des Infektionsschutzgesetzes gestimmt: die Fraktionen der Grünen, der SPD und der FPD. Die Abgeordneten der Union haben dagegen gestimmt, ebenso die der AfD. Die dritte künftige Oppositionspartei, die Linksfraktion, hat sich enthalten. Am Freitag werden die Landeschefs abstimmen – sollten auch sie in der Mehrheit zustimmen, wird das Infektionsschutzgesetz geändert und ein gesetzlicher Rahmen nach dem Auslaufen der epidemischen Lage nationaler Tragweite geschaffen werden.