Dutzende junge Menschen pilgern in der Morgen-Sonne an der Spree entlang und am Kanzleramt vorbei hin zum Haus der Kulturen der Welt – auch bekannt als die schwangere Auster. Was die Jugend ins Regierungsviertel in Berlin treibt? Sie wollen mitreden. Den Finger in die Wunde legen. Deutlich machen, mit welchen Problemen sie sich gerade herumschlagen müssen.
Eine Generation, die mitten in multiplen Krisen aufwächst. Der Corona noch in den Knochen steckt und der durch die Klimakrise die Zukunft unsicher erscheint. Die Menschengruppen sind auf dem Weg zu den Jugend-Politik-Tagen, die an diesem Wochenende in Berlin stattfinden. Die jungen Menschen sollen in Workshops gemeinsam Ideen erarbeiten – Empfehlungen für die Politik, wie bei diversen Themen die junge Perspektive mitbedacht werden könnte.
Doch bevor die Phase der Arbeitsgruppen beginnt, haben die Teilnehmenden noch die Möglichkeit, mit Podiumsgästen über Jugendbeteiligung in Krisenzeiten zu sprechen. Die Podiumsgäste sind neben den drei Bundestagsabgeordneten Emilia Fester (Grüne), Max Mordhorst (FDP) und Emily Vontz (SPD) auch Florian Bastick von der Jugendpresse und Bettina Bundszus, Leiterin der Abteilung Kinder und Jugend im Familienministerium. Die Diskussion, der sich die fünf stellen müssen, hat es in sich.
Auch Familienministerin Lisa Paus (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) waren bereits anwesend. Die beiden Regierungsmitglieder mussten sich ebenfalls den Fragen der Jugendlichen stellen. Mussten Position beziehen.
Einige der Teilnehmenden waren vom Auftritt des Kanzlers enttäuscht. "In den zwei Stunden, in denen er hier war, ist nicht viel passiert", sagt Johanna. Sie hätte sich gewünscht, dass Scholz sich ehrlich gemacht hätte. Dass er klipp und klar gesagt hätte: Das, was die Regierung tut, reicht noch nicht. Und dabei, meint Johanna, geht es ihr nicht nur um die Klimakrise, sondern auch um soziale und gesellschaftspolitische Fragen.
Ähnlich beschreiben es die anderen drei Teilnehmer:innen, die bei Johanna stehen. Sie hätten zwar Spaß, glaubten aber nicht daran, dass die Veranstaltung am Ende wirklich einen Effekt habe. Carolin ist Klimaaktivistin, auch für sie war die Fragerunde mit Scholz zu wenig konkret. Trotzdem erklärt sie: "Letztlich ist es eine Form von Aktivismus hier zu sein und negativ auf die Aussagen zu reagieren."
Ihr Ziel sei es auch, die Seite der Aktivist:innen zu repräsentieren – denn ansonsten seien auch viele Mitglieder von Jugendorganisationen oder von Kinder- und Jugendparlamenten anwesend. Sinnvoll, vor Ort zu sein, sei es also. Trotzdem sind sich die vier einig: Wenn die Politik Interesse an der Sichtweise junger Menschen hat, weiß sie, wo sie zu finden sind. Dafür brauche es einen solchen Gipfel nicht zwingend. Froh dabei zu sein und sich vernetzen zu können, sind sie dennoch.
Das Ziel der Veranstaltung ist es, dass innerhalb der Arbeitsgruppen Empfehlungen für den Nationalen Aktionsplan für Kinder- und Jugendbeteiligung entwickelt werden. Eine Weiterentwicklung der Jugendstrategie der Bundesregierung. Die Ergebnisse werden außerdem veröffentlicht und über die interministerielle Arbeitsgruppe Jugend in die Bundesministerien gehen.
Solche Arbeitsgruppen gibt es zu allen möglichen Themen, zum Beispiel sexuelle Selbstbestimmung, Klima oder auch Jugendbeteiligung.
Aber nicht nur innerhalb der Arbeitsgruppen nutzen die Jugendlichen die Möglichkeit, zu debattieren. Auch bei der Podiumsdiskussion mit Fester, Mordhorst, Vontz, Bundszus und Bastick sind sie nicht auf den Mund gefallen.
Bevor die Diskussion und das Löchern der Podiumsgäste aber starten kann, dürfen alle Teilnehmenden abstimmen, über welche Krisen gesprochen werden soll. Und da kommt einiges zusammen: Klima, Inflation, Krieg, mentale Gesundheit, Bildung, Rechtsextremismus, Karl Lauterbach und das Corona Management sind nur einige der aufgeworfenen Themenfelder. Doch um über all das zu sprechen, sind die angesetzten zwei Stunden zu kurz.
Um Unterbrechungen möglichst zu umgehen, hat sich der Kongress darauf geeinigt, in Gebärdensprache zu klatschen. Hunderte Handpaare werden deshalb immer wieder in die Luft gestreckt und geschüttelt. Ein Zeichen der Zustimmung.
In Schlangen stehen die jungen Menschen an den Mikrofonen, ob die eigene Frage gerade wirklich zum Thema passt, ist egal. Die Hauptsache: Die Chance ergreifen und das loswerden, was sie selbst auf dem Herzen haben. Und das ist offensichtlich so einiges. Auf Kapitalismuskritik folgt Klimaangst. Auf die Sorge vor Altersarmut, folgt die Forderung, Antidiskriminierung endlich umzusetzen.
Deutlich wird: Es liegt viel im Argen. Die Gäste auf dem Podium hören zu und positionieren sich zu den Fragen. Sie verstehen die Probleme, so macht es den Eindruck. Und sie nehmen sie ernst. Dabei haben alle drei Bundestagsabgeordneten verschiedene Herangehensweisen – so wie es eben auch bei den Ampel-Parteien ist.
Nimmt Mordhorst zum Beispiel Kapitalismuskritik als Forderung, den Kommunismus auszurufen auf, so pocht Fester auf der anderen Seite auf eine umfassendere Kindergrundsicherung. Vontz währenddessen macht deutlich: Sie will, dass die soziale Frage und Inklusion in allen Belangen mitgedacht wird. Dafür mache sie sich zum Beispiel im Bauausschuss stark.
Die zwei Stunden, die die Jugendlichen mit den Vertreter:innen des Bundestages, sowie Bundszus und Bastick haben, rasen davon. Doch auch im Anschluss stehen Vontz, Mordhorst und Fester weiter für Fragen und Gespräche bereit. Hören zu und nehmen womöglich neue Perspektiven mit.
Im Gespräch mit watson sagt Fester:
Es habe sie nicht überrascht, dass so viele verschiedene Themen besprochen wurden. "Jugend ist unfassbar politisch, kann sich zu unfassbar vielen Themen äußern und hat zu Recht Angst vor der Zukunft und auch teilweise vor der Gegenwart", sagt sie. Und fährt fort: "Da müssen wir jetzt politisch in die Handlung kommen und deswegen ist der Druck von genau solchen Orten hier sehr, sehr wichtig."
Und auch Magda, Caroline, Hannah und Johanna sind überzeugt: Auch wenn die Empfehlungen vielleicht nicht angenommen und in Gesetze übertragen werden, ist es besser dabei zu sein und es versucht zu haben, als diese Chance verstreichen zu lassen.