Vor einigen Tagen hatte Russland angekündigt, demnächst einen ersten Impfstoff gegen Corona zulassen zu wollen. Am Dienstag gab der russische Präsident Wladimir Putin nun genau dies bekannt. Schon bald sollen die ersten Ärzte und Lehrer geimpft werden. Grundsätzlich sehen Experten eine Impfung als wirksamstes Mittel zur Bekämpfung der Corona-Pandemie an.
Kann der russische Impfstoff das leisten? Was wissen wir über das Mittel und wie weit sind andere Impfstoffe in ihrer Entwicklung bisher? Ihr habt Fragen – watson hat die Antworten.
Insgesamt wenig. Der Wirkstoff ist unter dem Namen "Gam-COVID-Vac Lyo" in einer Datenbank für klinische Studien registriert. Nach Angaben von Präsident Putin soll er unter dem Namen "Sputnik-V" vermarktet werden. Bei dem Impfstoff handelt es sich um einen sogenannten Vektorimpfstoff. Dabei wird ein harmloses Virus – hier Adenoviren – als Transporter genutzt, um genetische Informationen für ein Eiweiß des Sars-CoV-2-Virus in den Körper zu schleusen. Ziel ist es, das Immunsystem dazu zu bringen, Antikörper gegen das Eiweiß zu bilden und andere Abwehrreaktionen hervorzurufen. Bei Kontakt mit Sars-CoV-2 ist der Körper dann vorbereitet und kann die Infektion besser eindämmen.
Das staatliche Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau, das den Impfstoff entwickelt hat, hatte bereits im Mai von erfolgreichen Tests mit dem Wirkstoff gesprochen. Anfang August teilte der Gesundheitsminister Michail Muraschko der Staatsagentur Tass zufolge schließlich mit, diese klinischen Tests seien abgeschlossen. Die Ergebnisse wurden allerdings noch nicht für eine unabhängige Bewertung veröffentlicht.
Bei der Entwicklung eines Impfstoffes setzt die Forschung auf ein stufenweises Vorgehen: Zunächst werden Impfstoffkandidaten in Zell- und Tierversuchen auf Sicherheit und Wirksamkeit getestet. Bei positiven Ergebnissen dieser präklinischen Untersuchungen können die Impfstoffe an Menschen getestet werden. In der Regel durchläuft ein Kandidat drei Phasen der klinischen Prüfung, bevor er zugelassen werden kann. Darin werden Verträglichkeit, Sicherheit, Wirksamkeit und Anwendungsschemata getestet und nach und nach immer mehr Probanden eingeschlossen.
Seltene Nebenwirkungen könnten insbesondere in der Phase-III-Prüfung mit mehreren Tausend Probanden erkannt werden, erläuterte Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts im hessischen Langen. Von einer abgeschlossenen Phase-III-Studie mit dem russischen Impfstoff ist nichts bekannt, laut Gesundheitsminister Muraschko soll diese Testphase unabhängig von der Zulassung anlaufen. Ein sehr ungewöhnliches Prozedere.
Ohne konkrete Daten ist es auch für Fachkollegen schwer, die Qualität und Wirksamkeit des Impfstoffes einzuschätzen. Insgesamt sind die Reaktionen verhalten. "Ich sehe die Zulassung sehr, sehr zurückhaltend", sagt etwa der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. "Gerade wenn Impfstoffe aus nicht ganz so freien Systemen kommen, ist eine unabhängige Begutachtung besonders wichtig. Sonst kann da jede Firma irgendwas erzählen."
Ärztepräsident Klaus Reinhardt kritisierte das Vorgehen Russlands. "Die Zulassung eines Impfstoffs ohne die entscheidende dritte Testreihe halte ich für ein hochriskantes Experiment am Menschen", sagte er der Düsseldorfer "Rheinischen Post" (Mittwoch). Es dränge sich der Eindruck auf, dass es sich um eine populistische Maßnahme handele, so der Präsident der Bundesärztekammer. "Es ist unverantwortlich, ganze Bevölkerungsgruppen bereits in diesem Stadium der Entwicklung zu impfen."
Damit ein Impfstoff in Deutschland auf den Markt kommen kann, benötigt er eine behördliche Zulassung. Für eine nationale Zulassung ist das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zuständig. Alternativ kann eine zentrale europäische Zulassung durch die EU-Kommission erteilt werden. Sie wird unter Mitwirkung des PEI von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA koordiniert.
Eine Impfung soll den Körper dazu anregen, Antikörper gegen Bestandteile des Erregers zu bilden. Diese können das Virus bei einem späteren Kontakt direkt bekämpfen. Gleichzeitig werden im Idealfall Gedächtniszellen gebildet, die auch nach längerer Zeit noch blitzschnell auf einen Erreger reagieren und passende Antikörper produzieren können. Schließlich spielen sogenannte T-Zellen bei der Immunantwort eine wichtige Rolle.
Ob ein Impfstoff gegen Corona diese schützenden Reaktionen des Körpers hervorrufen kann und wie lange diese gegebenenfalls bestehen bleiben, ist bisher offen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass auch zunächst erfolgversprechende Impfstoffkandidaten in späteren Untersuchungen nicht den gewünschten Schutz hervorrufen. Ein Impfstoff kann aber auch schon dann wertvoll sein, wenn er zwar nicht die Ansteckung, aber zumindest schwere Krankheitsverläufe verhindert. Grundsätzlich gehen Experten davon aus, dass es nicht einen Impfstoff gegen Corona geben wird, sondern mehrere.
Derzeit laufen weltweit mehr als 170 Impfstoffprojekte, aber nur sechs befinden sich nach Angaben der WHO in der fortgeschrittenen Phase III der klinischen Prüfung. Aus Deutschland mischt das Mainzer Unternehmen Biontech ganz vorne mit, das seinen Kandidaten in einer kombinierten Phase-II/III-Studie zunächst in den USA prüft. Am Dienstag teilte das Unternehmen mit, bei erfolgreicher Prüfung im Oktober den Antrag auf eine Marktzulassung stellen zu wollen. Auch beim Unternehmen Curevac aus Tübingen laufen Testreihen.
Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres – dies ist der Zeitrahmen, den viele Experten nennen. Immer vorausgesetzt, die klinische Prüfung verläuft erfolgreich, wie PEI-Präsident Klaus Cichutek kürzlich dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sagte. Erfolgt aufgrund einer positiven Bewertung die Zulassung, muss der Impfstoff in möglichst großen Mengen produziert werden. Unter diesen Annahmen könnten "wir Mitte 2021 über einen Impfstoff verfügen, der auf breiter Basis eingesetzt werden kann", sagte WHO-Chefforscherin Soumya Swaminathan kürzlich der Deutschen Presse-Agentur.
(lau/dpa)