Präsidentschaftswahlen in den USA elektrisieren die Nation – und einen erheblichen Teil der Weltöffentlichkeit: Ein großer Teil der Wahlberechtigten strömt an die Urnen und entscheiden darüber, wer in den kommenden Jahren die politisch mächtigste Person im Land wird.
Wenn am Sonntag der deutsche Bundespräsident gewählt wird, dann elektrisiert das die wenigsten. Das liegt zum einen daran, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht selbst an dieser Wahl beteiligt sind. Und zum anderen daran, dass der Präsident hierzulande nur einen Bruchteil der Macht des US-Staatsoberhaupts hat.
Wichtig ist der Bundespräsident trotzdem. Watson erklärt, wie die Wahl abläuft, welche Macht das Staatsoberhaupt hat – und lässt junge Politikerinnen mit ihren Forderungen an den neuen Präsidenten zu Wort kommen.
Wer wird neuer Bundespräsident?
Der neue Präsident wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der alte: Frank-Walter Steinmeier, seit 2017 im Amt, tritt erneut an – und hat aller Voraussicht nach eine breite Mehrheit hinter sich. SPD, FDP, Grüne und CDU/CSU haben ihre Unterstützung für eine zweite Amtszeit erklärt.
Steinmeiers bisher drei Gegenkandidaten haben faktisch keine Chance, ihre Kandidaturen haben eher symbolischen Wert.
Die AfD hat CDU-Mitglied Max Otte aufgestellt – offensichtlich, um die Unionsparteien zu provozieren. Die CDU-Spitze entzog Otte daraufhin vorläufig alle Mitgliederrechte und brachte ein Ausschlussverfahren gegen ihn auf den Weg – wegen parteischädigenden Verhaltens.
Die vier Kandidierenden: Frank-Walter Steinmeier (von links), Stefanie Gebauer, Gerhard Trabert und Max Otte. Bild: dpa / Kay Nietfeld;Robert Michael;-
Die Linke schickt den Mediziner Gerhard Trabert ins Rennen, der sich gegen Armut und für humanitäre Hilfe für Flüchtlinge einsetzen will. Trabert verglich Anfang Januar das Schicksal Geflüchteter mit dem von Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit und löste damit Empörung aus.
Die Freien Wähler, vertreten in den Landtagen von Bayern, Rheinland-Pfalz und Brandenburg, haben die Astrophysikerin und Kommunalpolitikerin Stefanie Gebauer als Kandidatin vorgeschlagen.
Wie läuft die Wahl ab?
Den Bundespräsidenten wählt die Bundesversammlung: Es ist die größte parlamentarische Versammlung der Bundesregierung. Sie tritt nur für die Wahl des Bundespräsidenten zusammen. Die Bundesversammlung besteht diesmal aus 1472 Mitgliedern.
Die Hälfte davon bilden alle Abgeordneten des Bundestags, in dieser Wahlperiode 736 Personen. Die andere Hälfte besteht aus der gleichen Anzahl an Personen, die die 16 Landtage der deutschen Bundesländer in die Bundesversammlung schicken. Je größer die Bevölkerung eines Bundeslands, desto mehr Menschen kann der jeweilige Landtag in die Bundesversammlung entsenden: aus Nordrhein-Westfalen kommen 156 Delegierte, aus Bremen nur sechs.
In dieser zweiten Hälfte der Bundesversammlung sind zum einen Landtagsabgeordnete, darunter Ministerpräsidentinnen und -präsidenten wie Markus Söder (Bayern) oder Malu Dreyer (Rheinland-Pfalz). Zum anderen entsenden die unterschiedlichen Landtagsfraktionen bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens: Darunter sind so unterschiedliche Persönlichkeiten wie der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel (von der CSU-Fraktion aus Bayern entsandt) und die Berliner Dragqueen Gloria Viagra (geschickt von der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus).
Auch am Sonntag dabei: die Berliner Dragqueen Gloria Viagra.Bild: dpa-Zentralbild / Britta Pedersen
Zu den weiteren prominenten Nicht-Politikern in der Bundesversammlung gehören diesmal Virologe Christian Drosten, die Biontech-Gründerin Özlem Türeci, Astronaut Alexander Gerst, Pianist Igor Levit, Schauspielerin Sibel Kekilli, Moderator und Rettungssanitäter Tobias Schlegl.
Um im ersten Wahlgang zur Bundespräsidentin oder zum Bundespräsidenten gewählt zu werden, benötigt eine Kandidatin oder ein Kandidat die absolute Mehrheit der Stimmen: also von mehr als 50 Prozent der Mitglieder der Bundesversammlung. Bekommt niemand so viele Stimmen, gibt es einen zweiten Wahlgang. Falls es auch dann keine absolute Mehrheit gibt, folgt ein dritter Wahlgang, in dem eine relative Mehrheit reicht: Es gewinnt also die Kandidatin oder der Kandidat, die oder der die meisten Stimmen bekommt.
Wie viel Macht hat der Bundespräsident?
Im internationalen Vergleich ist der Bundespräsident schwach. In Ländern wie den USA ist der Präsident gleichzeitig Regierungschef und Staatsoberhaupt – und damit der mächtigste Politiker der Nation. In Ländern wie Frankreich, Österreich oder Tschechien wird er immerhin direkt vom Volk gewählt und hat mehr (Frankreich) oder weniger großen (Österreich) Einfluss auf die Regierungspolitik
In Deutschland ist der Präsident erheblich weniger mächtig als die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler. Aber er ist mehr als der bloße Frühstücksdirektor der Nation, der dem politischen Treiben machtlos zusieht. Er hat vor allem vier Aufgaben:
Staatsnotar: Ohne die Unterschrift des Bundespräsidenten geht in vielen Bereichen nichts: Gesetze würden nicht wirksam, Bundeskanzler und Bundesminister, Soldaten höherer Ränge oder Bundesrichter könnten ihren Dienst nicht antreten. Der Präsident hat damit eine ähnliche Funktion wie ein Notar bei einem Hausverkauf: Er beglaubigt, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Allerdings kann der Präsident die Entscheidungen, unter die er seine Unterschrift setzt, selbst nur selten beeinflussen.
Hüter der Verfassung: Zu diesen seltenen Fällen gehört die sogenannte formelle und materielle Überprüfung von Gesetzen: Das heißt, Bundespräsidenten durchleuchten jedes Gesetz, das das Parlament schon verabschiedet hat, darauf, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Erst dann fertigen sie aus, geben ihm ihre Unterschrift. Formell korrekt ist ein Gesetz, wenn es alle nötigen Schritte durchlaufen hat. Materiell korrekt ist es, wenn es mit den Inhalten des Grundgesetzes vereinbar ist. Bundespräsidenten haben sich mehrmals geweigert, Gesetze nach der Prüfung zu unterzeichnen. 2006 weigerte sich etwa der damalige Präsident Horst Köhler, das Flugsicherungsgesetz auszufertigen – weil es eine Privatisierung vorsah, die aus Köhlers Sicht unvereinbar mit dem Grundgesetz war.
Die Reservemacht: Die Bundesrepublik Deutschland ist seit 1949 politisch ziemlich stabil. Es gibt aber keine Garantie, dass das so bleibt. Deswegen kann der Bundespräsident in zwei Fällen entscheidend ins politische Geschehen eingreifen: Wenn die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler im Bundestag keine Mehrheit mehr hinter sich hat – und wenn nach einer Bundestagswahl kein neuer Kanzler gewählt wird.
Der erste Fall tritt ein, wenn ein Bundeskanzler die sogenannte Vertrauensfrage im Bundestag stellt und keine Mehrheit bekommt. Dann ist die Regierung nicht mehr handlungsfähig. Der Bundespräsident kann in diesem Fall entweder den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen (was zuletzt 2005 passiert ist). Oder er kann den Kanzler trotzdem ein halbes Jahr lang im Amt belassen. Das ist aber bisher noch nie geschehen.
Der zweite Fall ist auch noch nie eingetreten: Bisher ist nach der Bundestagswahl in Deutschland immer eine Regierungsmehrheit zustande gekommen, und damit auch ein Kanzler gewählt worden. Wenn so etwas aber doch einmal passieren sollte, könnte der Bundespräsident dann den Kandidaten mit den meisten Stimmen zum "Minderheitskanzler" ernennen.
Präsident Steinmeier hat sich aber schon einmal in die Regierungsbildung eingemischt: Nachdem 2017 die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grünen gescheitert waren, traf Steinmeier Vertreter von Unionsparteien und SPD und ermahnte sie, eine Regierung zu bilden. Wenige Wochen später stand die große Koalition.
Die Macht der Worte: Am stärksten haben manche Bundespräsidenten die Bundesrepublik aber bisher durch das geprägt, was sie gesagt haben. Es gibt Bundespräsidenten-Reden, die in die Geschichtsbücher eingegangen sind, weil sie wichtige Debatten ausgelöst oder ein Schlaglicht auf Probleme geworfen haben.
Ein berühmtes Beispiel ist die Rede, die Christian Wulff 2010 zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit hielt. Er sagte: "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland." Ein anderes die Rede Roman Herzogs, der 1997 forderte, durch Deutschland müsse ein "Ruck" gehen. Die wohl einflussreichste Rede eines Bundespräsidenten hielt Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. In ihr bezeichnete er das Kriegsende als erstes deutsches Staatsoberhaupt als "Befreiung".
Frank-Walter Steinmeier übergibt im Dezember dem neuen Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) seine Ernennungsurkunde. Bild: imago images / Frank Ossenbrink
Wie sieht die bisherige Bilanz von Frank-Walter Steinmeier aus?
Frank-Walter Steinmeier ist aller Voraussicht nach der fünfte Bundespräsident, der wiedergewählt wird. Er hat seit seiner ersten Wahl im Februar 2017 wenig falsch gemacht. Steinmeier hat seine politischen Aufgaben erledigt, ohne Anlass für bedeutende Kritik zu geben. Und er hat ein paar bemerkenswerte Reden gehalten. "Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben", sagte er etwa am 8. Mai 2020, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Immer wieder hat sich Steinmeier als Anwalt junger Menschen inszeniert, vor allem seit Beginn der Corona-Krise im Frühjahr 2020. Im April 2020 hielt er eine Ansprache an Familien und junge Menschen, im Juni 2020 bat er Auszubildende zu einer Gesprächsrunde. Im April 2021 lud er Studierende zu einer eine Rede zum Semesterbeginn, über die der watson-Autor und Student Leonard Frick später mit Blick auf Steinmeier schrieb: "Wenigstens schafft er Aufmerksamkeit für die vielen Probleme, mit denen wir derzeit zu kämpfen haben." Im Herbst 2021 überließ er jungen Menschen bei einer Aktion namens "Takeover Bellevue" symbolisch einen Tag lang die Räumlichkeiten seines Amtssitzes, Schloss Bellevue in Berlin.
Jessica Rosenthal, Bundesvorsitzende der Jusos.Bild: dpa / Frank Rumpenhorst
Jessica Rosenthal, Bundesvorsitzende der SPD-Jugendorganisation Jusos und seit Oktober Bundestagsabgeordnete, lobt Steinmeier für sein Verhalten in der Corona-Krise. Gegenüber watson erklärt sie:
"In dieser Zeit setzten sich Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender immer wieder mit jungen Menschen zusammen und hörten ihren Sorgen und Nöten zu. Dass der Bundespräsident jungen Menschen solch ein Forum gibt, ist ein gutes Zeichen."
Franziska Brandmann, Bundesvorsitzende der FDP-Jugendorganisation Junge Liberale (Julis), sieht Steinmeiers Rolle kritischer. Sie erklärt gegenüber watson:
"Ich habe Bundespräsident Steinmeier nicht in erster Linie als Anwalt junger Menschen wahrgenommen. Ich erinnere mich aber noch an einen Gastbeitrag, in dem er an die deutschen Bürgerinnen und Bürger appellierte, sich an die Kontaktbeschränkungen zu halten. Darin forderte er: 'Tun wir es, damit Schulen und Kitas nicht wieder schließen'. Es schien ihm besonders wichtig, Bildungseinrichtungen zu öffnen und der jungen Generationen wieder einen Zugang zu Bildung und zum gemeinsamen Lernen zu ermöglichen."
Sarah Dubiel, Bundessprecherin der Linksjugend, kauft Steinmeier die Rolle als Anwalt junger Menschen überhaupt nicht ab. Sie erklärt:
"Frank-Walter Steinmeier hat sich vielleicht durch Medienberater jugendlich inszenieren lassen, doch wirklich eingegangen ist er nicht auf die Probleme von jungen Menschen in der Pandemie. Wo waren seine Appelle für sicherere Schulen, für ein gutes Studium in der Pandemie oder für bessere Möglichkeiten, nach der Ausbildung einen Job zu bekommen oder überhaupt erst mal eine Ausbildung zu bekommen?"
Aus Dubiels Sicht lässt Steinmeiers politische Vergangenheit als Kanzleramtschef unter SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder ihn unglaubwürdig wirken. Sie meint:
"Zudem ist er mitverantwortlich für Hartz IV und somit auch für Kinderarmut per Gesetz. Kinder und Jugendliche ernst nehmen und sich für ihre Probleme einsetzen, sieht wirklich anders aus."
Sarah Dubiel, Bundessprecherin der Linksjugend. bild: ben gross
Was fordern junge Politikerinnen jetzt von Steinmeier?
Linksjugend-Bundessprecherin Dubiel fordert nach der aus ihrer Sicht enttäuschenden Amtszeit Steinmeiers vom Präsidenten, sich deutlicher für gesellschaftliche Solidarität einzusetzen. Sie schreibt dazu:
"Wir erwarten von Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsident mehr als nur Reden über Solidarität, während im Mittelmeer Menschen ertrinken oder an der Grenze von Polen Geflüchtete erfrieren. Solidarität muss praktisch werden. Wir wollen mehr sehen als ein Instagram-Take-over seines Kanals von jungen Menschen. Wir erwarten von ihm als Bundespräsidenten, dass er sich für junge Menschen einsetzt und ernst nimmt, unsere Probleme in der Gesellschaft bekämpfen wird und nicht nur eine hübsche Fassade des Kümmerers aufrechterhält."
Juli-Bundeschefin Brandmann würde sich über deutlichere Akzente Steinmeiers für ein besseres gesellschaftliches Klima freuen. Brandmann schreibt watson: "Warum nicht auch mit Diskussionsrunden im Schloss Bellevue, zu denen besonders junge Menschen eingeladen werden?"
Franziska Brandmann, seit November Bundeschefin der Jungen Liberalen. Bild: dpa / Michael Kappeler
Mehr Aufmerksamkeit erhofft sie sich zudem für die mentale Gesundheit junger Menschen, gerade angesichts der psychischen Belastung durch die Pandemie. Brandmann meint dazu:
"Ich glaube, es gibt kaum einen jungen Menschen, der nicht mindestens eine Freundin oder einen Bekannten hat, der dringend Hilfe benötigt oder in den vergangenen Monaten Hilfe benötigt hat. Gleichzeitig gibt es ellenlange Wartelisten bei Psychologen, kaum Sozialarbeiter an Schulen und eine anhaltende gesellschaftliche Stigmatisierung von Mental-Health-Problemen. Ich wäre stolz, einen Bundespräsidenten zu haben, der das zu seinem Thema macht und in die Öffentlichkeit trägt."
Die Juso-Bundesvorsitzende Rosenthal meint gegenüber watson mit Blick auf Steinmeiers zweite Amtszeit:
"Weder ist jetzt zum Ende der ersten Amtszeit die Pandemie zu Ende, noch sind viele der Probleme junger Menschen gelöst. Deswegen ist es auch in Zukunft wichtig, dass junge Menschen konsequent gehört und gemeinsam mit ihnen an Lösungen gearbeitet wird. Wenn das auch künftig im Schloss Bellevue geschieht, dann ist das ein guter Start."
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Eigentlich hätte in Rumänien am vergangenen Sonntag die Stichwahl für das Präsidentenamt stattfinden sollen. Das Verfassungsgericht annullierte allerdings den ersten Wahlgang. Grund dafür war ein massiver Einfluss auf die Wahl aus dem Ausland.