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Energiekrise: So sieht der Gas-Notfallplan der EU für den Winter aus

Nord Stream 1
Aktuell kommt in der Empfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1 kein Gas an.Bild: Picture Alliance dpa / Jens Büttner
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Warum die deutsche Industrie im Winter trotz Gasreserven ein Problem bekommen könnte – und was die EU deshalb plant

15.07.2022, 09:5815.07.2022, 09:59
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Mitten im Hochsommer sind in Hamburg Heizlüfter teilweise ausverkauft. Was absurd klingt, hat mit einer realen Bedrohung zu tun: Deutschland bereitet sich aufs Frieren vor. Die Angst, im Winter in einer kalten Wohnung zu sitzen, wächst.

Was es bedeutet, wenn Russland weniger Gas liefert, ist aktuell zu beobachten. Nach dem Stopp der russischen Lieferungen durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 ist die Einspeicherung von Gas in Deutschland fast zum Erliegen gekommen. Die Sorge ist, dass Russland auch nach der Wartung den Gashahn nicht wieder aufdreht.

Um eine Gasmangellage im Winter zu vermeiden, ist Deutschland aktuell bemüht, seine Gasspeicher so schnell wie möglich zu füllen. Aktuell werde zwar netto noch weiter Gas eingespeichert, sagte ein Sprecher der Bundesnetzagentur am Mittwoch der Nachrichtenagentur dpa. "Aber das bewegt sich auf ganz niedrigem Niveau." Wie aus der Webseite von Europas Gasinfrastruktur-Betreiber (GIE) hervorgeht, stieg der Füllstand der deutschen Gasspeicher zuletzt nur noch um 0,09 Prozent am Tag.

Nord Stream 1
Die Ostseepipeline aus Russland endet in Lubmin bei Greifswald.Bild: picture alliance/dpa / Stefan Sauer

In Deutschland ist klar: Wird das Gas knapp, sind Privathaushalte besonders geschützt. So lautet zumindest das Gesetz. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat dies allerdings bei einem Besuch in Wien in Frage gestellt. Auch Verbraucherinnen und Verbraucher müssten "ihren Anteil leisten". Denn eine längerfristige Unterbrechung von industrieller Produktion hätte massive Folgen für die Versorgung.

Selbst wenn Deutschland genügend Gas für Privathaushalte und Industrie hätte, bedeutet das nicht, dass die Reserven am Ende tatsächlich für die Industrie reichen. Grund dafür ist eine europäische Verordnung. Es gilt das Solidaritätsprinzip. Mit dem Gasnotfallplan will Brüssel nun aber gegensteuern.

Was also droht uns im Winter wirklich? Und was hat Europa damit zu tun? Die wichtigsten Fragen klärt watson für euch.

Was bedeutet eine Gasknappheit für Deutschland?

Insgesamt, meint Götz Reichert vom Centrum für Europäische Politik, hänge die Gasversorgungssicherheit der EU und ihrer Mitgliedsstaaten von unterschiedlichen Faktoren ab. Reichert ist der Fachbereichsleiter für Energie, Umwelt, Klima und Verkehr des Think-Tanks.

Gegenüber watson teilt er mit:

"Wenn Russland seine Gaslieferungen auch nach Ende der Wartung von Nord Stream 1 drosselt oder ganz einstellt, haben einige EU-Staaten – gerade auch Deutschland – ein großes Problem."

Es gebe in der Industrie Prozesse, die nicht oder nur schwer substituierbar seien. Das bedeutet: In manchen Prozessen der Industrie kann Gas nicht ersetzt werden. Besonders treffen würde das, laut dem Institut der deutschen Wirtschaft die Grundstoffchemie. Dort werden Grundchemikalien hergestellt, die für viele weitere Produktionsprozesse benötigt werden. Sie ist also die Basis für quasi die gesamte Chemieindustrie in Deutschland.

Und auch die Wärmeversorgung der Privathaushalte ist gefährdet, wenn der Gashahn abgedreht bleibt. "Jeder Verbraucher kann jetzt etwas tun, auch wenn man aktuell eher an Abkühlung denkt als an eine warme Wohnung im Winter", sagte Ingbert Liebing, Chef des Stadtwerkeverbandes VKU der dpa.

Er fügte an:

"Aber: Fast 20 Prozent des Wärmeaufkommens werden für Warmwasser benötigt. Wer beispielsweise kürzer duscht, hilft jetzt schon mit, die Speicher zu füllen. Und mit Blick auf die Heizperiode sollten wir alle unsere Temperaturen herunterregeln. Eine ein Grad geringere Raumtemperatur spart bis zu sieben Prozent am Energieverbrauch."

Nicht nur Deutschland hängt am russischen Gashahn. Die Abhängigkeit ist ein gesamteuropäisches Problem.

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Wirtschaftsminister Habeck hat die Bevölkerung zum Energiesparen aufgerufen.Bild: picture alliance/ dpa / Michael Kappeler

Wie abhängig ist Europa vom russischen Gas?

Viele europäische Länder sind auf Gaslieferungen aus Russland angewiesen, so beziehen beispielsweise Nordmazedonien, Finnland und Bosnien-Herzegovina 100 Prozent ihres Gases aus Russland. Die Alternative: Pipelines aus anderen Staaten mit Gasvorkommen. Die Leitungen nach Norwegen, Aserbaidschan und Algerien liefen auf Hochtouren, meint Ben McWilliams. McWilliams forscht beim Thinktank "Brussels European and Global Economic Laboratory" (Bruegel).

Auch das LNG-Gas sei eine Möglichkeit, die russischen Kürzungen zu kompensieren. Aber auch hier seien die Kapazitäten ausgeschöpft. McWilliams meint: Weitere Kürzungen müssten durch eine Drosselung des Gasverbrauchs aufgefangen werden.

"Die Länder müssen auf einen kalten Winter vorbereitet sein und können nicht nur auf einen warmen hoffen", sagt McWilliams. Priorität Nummer eins müsse es sein, die Bevölkerung warmzuhalten und auch in den kalten und dunklen Wintermonaten das Licht anzulassen, meint er. Natürlich könne es die Industrie aber schützen, wenn die Regierungen der europäischen Länder klar mit den Menschen kommunizierten – und sie zum Energiesparen aufriefen.

Wieso muss Deutschland andere Staaten mitversorgen?

Im EU-Recht ist festgeschrieben, dass Deutschland im Gas-Notfall seine Nachbarstaaten mitversorgt. Anfang Juli wurde eine entsprechende Absichtserklärung mit Tschechien unterschrieben, im Jahr 2021 mit Österreich. Im Extremfall, meint Götz Reichert vom Centrum für Europäische Politik, könne das auch bedeuten, dass Deutschland nicht alle eigenen Energiebedarfe bedienen könnte. "Dann werden schwierige Zuteilungsentscheidungen zu treffen sein", sagt Reichert.

EU-Regeln sehen vor, dass bei Gasknappheit Haushalte und die kritische Infrastruktur wie etwa Krankenhäuser priorisiert würden. Ben McWilliams von Bruegel erklärt, es sei notwendig, dass schon jetzt 15 Prozent Gas in der EU gespart würde. Die einzelnen Länder müssten ihren Gasverbrauch dafür zwischen Null Prozent und 54 Prozent verringern – je nach Abhängigkeit.

Damit das mit dem Sparen auch wirklich klappt – und um klarzustellen, was im Fall eines Gaslieferstopps passiert – hat die EU-Kommission in Brüssel nun einen ersten Entwurf für einen Notfallplan formuliert. Am 20. Juli soll der finale Plan dann offiziell vorgestellt werden.

Was plant die EU-Kommission für den Notfall?

Der Entwurf für den Notfallplan der Europäischen Kommission sieht vor, dass öffentliche Gebäude, Büros und kommerzielle Gebäude ab Herbst nur noch bis maximal 19 Grad beheizt werden sollen. "Jetzt handeln kann die Auswirkungen einer plötzlichen Versorgungsunterbrechung um ein Drittel reduzieren", heißt es in dem Text, der der Nachrichtenagentur dpa vorliegt.

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Unternehmen, die Gas ersetzen können, sollten ihren Verbrauch reduzieren, heißt es darin. Ziel sei es, Industrien zu schützen, die für die Lieferketten und die Wettbewerbsfähigkeit besonders wichtig sind. Auch Haushalte werden dazu aufgerufen, freiwillig weniger zu verbrauchen. "Jeder kann Gas sparen, jetzt", schreibt die Kommission. Wenn die Stromproduktion in Gefahr sei, könnten Länder die Versorgung von Gaskraftwerken für die Stromversorgung über bestimmte geschützte Verbraucher stellen.

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