Wer lässt sich in Deutschland gegen das Coronavirus impfen – und wer nicht? Die Frage beschäftigt die Regierenden und die Gesundheitsbehörden seit Monaten – und sie ist politisch heikel. Gerade, wenn es um Menschen mit Migrationsgeschichte geht.
Franziska Giffey, seit Dezember Regierende Bürgermeisterin von Berlin, hat es nach der ersten Sitzung ihrer Landesregierung Anfang Januar so ausgedrückt: "Die Frage der Inanspruchnahme des Impfens ist auch eine integrationspolitische Frage." Manche Menschen bräuchten eine "persönliche Ansprache im direkten Umfeld", am besten durch Vertrauenspersonen. Sie schob nach: "Ich weiß genau, über welche Familien wir hier sprechen", so Giffey.
Virologe Christian Drosten sprach im Coronavirus-Podcast des NDR von "informationsfernen" Menschen, die besonders häufig ungeimpft seien und ergänzte: "Das sind Leute mit Migrationshintergrund. Das sind bildungsferne Leute, die älter sind, die müssen unbedingt geschützt werden."
An diesen pauschalisierenden Aussagen gab es Kritik. "Es gibt keine Studie, die Menschen mit Migrationsgeschichte Impfskepsis zuweist", hatte Katarina Niewiedzial, Berlins Integrationsbeauftragte, damals dem rbb gesagt. Am Donnerstag wurde nun eine Datenerhebung veröffentlicht, bei der gezielt je 1000 Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte zum Thema Impfen befragt wurden.
Die Untersuchung des Robert-Koch-Instituts (RKI) stützt nun zwar die These, dass unter Menschen mit Migrationsgeschichte der Anteil der Geimpften niedriger ist. Doch die Daten legen auch nahe, dass im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich viele Ungeimpfte bereit sind, sich impfen zu lassen.
Wie passt das zusammen? Und was lässt sich tun, um mehr Menschen mit Migrationsgeschichte zur Impfung zu bewegen?
Ja. Eine Erkenntnis der Erhebung ist, dass die Impfquote der befragten Personen mit Migrationsgeschichte mit 84 Prozent etwas niedriger war als bei denen ohne Migrationsgeschichte (92 Prozent).
Gleichzeitig ist bei ungeimpften Menschen mit Migrationsgeschichte die grundsätzliche Bereitschaft zu einer Impfung größer als bei denen ohne: Sie liegt laut der Erhebung 16 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Bei Menschen ohne Migrationsgeschichte liegt die Impfbereitschaft bei bislang Ungeimpften dagegen 20 Punkte unter dem Durchschnitt.
Daraus lässt sich folgern, dass unter den Menschen mit nicht-deutschen Wurzeln noch ein höherer Anteil dazu bewegt werden kann, sich impfen zu lassen.
Studienleiterin Elisa Wulkotte nannte mehrere mögliche Gründe dafür, dass Menschen mit Migrationsgeschichte sich bisher nicht zu einer Covid-19-Impfung entschlossen haben:
Die Erhebung widerlegt damit das Vorurteil, dass sich Menschen mit Migrationsgeschichte aus kulturellen Gründen seltener impfen ließen. Studienleiterin Wulkotte sagte dazu am Donnerstag:
Junge Erwachsene sind laut der RKI-Erhebung besonders häufig geimpft: Unter den jüngsten Erwachsenen zwischen 18 und 29 ist die Quote relativ hoch, bei 93 Prozent, mit fast gleich hohen Werten unabhängig von der Migrationsgeschichte.
Bei den anderen Altersgruppen gilt laut Studienleiterin Wulkotte: Je älter die Person ist, desto eher ist die Person geimpft. Bei den 30- bis 39-Jährigen sei die Impfquote besonders niedrig, danach steige sie im Zusammenhang mit dem Alter.
Damit widersprechen die Erkenntnisse der Erhebung auch der Aussage Christian Drostens, dass ältere Menschen häufiger ungeschützt seien.
Bremen gilt in Deutschland als Vorbild der Impfkampagne. 89,4 Prozent der Bevölkerung hat im kleinsten Bundesland mindestens eine Dosis erhalten. In Sachsen, dem Land mit der niedrigsten Quote, sind es nur 64,8 Prozent. Bremen ist das Land mit dem höchsten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund (36,5 Prozent). Der Stadtstaat hat also offensichtlich auch viele Menschen mit nicht-deutschen Wurzeln von der Impfung überzeugt.
Der Arzt Kay Bultmann, der seit Januar 2021 an der Bremer Impfkampagne beteiligt ist und mehrere Monate lang ein Impfzentrum im Stadtteil Vegesack geleitet hat, beschrieb beim Pressegespräch, was das Land Bremen getan habe, um Menschen mit Migrationsgeschichte anzusprechen.
Bultmann sagte, man sei von Beginn der Impfkampagne an mit mobilen Impfteams zu den Menschen gekommen und sei "gerade auch in die Stadtteile gefahren, die hier als sozial benachteiligt gelten". Unter anderem seien Impfteams zu den Tafeln gegangen, wo sich bedürftige Menschen mit Lebensmitteln versorgen. Man habe Vertreter von christlichen wie muslimischen Glaubensgemeinschaften angesprochen. Es habe eine Infoveranstaltung in einem großen Jugendzentrum gegeben, in der Stadt sei Infomaterial in zwölf verschiedenen Sprachen verteilt worden. Und man sei gezielt auf Falschmeldungen eingegangen, die in unterschiedlichen Communities kursiert seien: etwa die, dass die Impfung unfruchtbar mache oder die männliche Potenz bedrohe.
Bremen, das scheint aus Bultmanns Schilderung hervorzugehen, hat genau die Probleme ins Visier genommen, die laut der RKI-Erhebung die Impfbereitschaft bei Menschen mit Migrationsgeschichte senken können: fehlende Deutschkenntnisse, niedriger sozialer Status, mangelndes Vertrauen in Institutionen und die Medizin.
Zu diesem Ansatz passt auch, was Moskjan Ehrari bei der Vorstellung der Studie sagte. Die Journalistin ist Projektleiterin beim Informationsportal "Handbook Germany", das auf Deutsch und in acht anderen Sprachen von Persisch bis Französisch Informationen über das Leben in Deutschland bereitstellt – unter anderem zum Coronavirus. Menschen mit Migrationsgeschichte seien eine "ganz heterogene Gruppe". Man müsse es bei der Impfkampagne schaffen, Menschen unterschiedlicher Herkunft "bei ihren Ängsten abzuholen", meinte Ehrari.