Mehrere Hundert Demonstranten, viele von ihnen aus der Szene der sogenannten Reichsbürger, liefen mit Fahnen und zum Teil auch mit Geschrei die Treppe zum Besuchereingang des Reichstags hoch, wo nur ein paar Polizisten standen. Niemand wurde verletzt. Trotzdem stellen sich die Fragen: Wie konnte das passieren – und war es tatsächlich so dramatisch, wie es zunächst wirkte?
Vor dem Reichstagsgebäude, dem Sitz des Bundestags, standen am Samstagabend als Sicherheitsmaßnahme Absperrgitter und Polizisten. Nach Darstellung der Polizei strömten gegen 19.00 Uhr viele Demonstranten vom Brandenburger Tor zum Reichstag und dem Platz davor. Die Polizei verlagerte sich zum Teil zu dieser Seite des Gebäudes, um den Zustrom zu bremsen. Gleichzeitig rief laut Polizei eine Frau auf der Bühne der Reichsbürger-Kundgebung direkt vor dem Reichstag dazu auf, das Gebäude zu stürmen. 300 bis 400 Menschen schoben daraufhin die Absperrgitter und Polizisten zur Seite und liefen die Treppe hoch.
Zwar räumten weder Innensenator Andreas Geisel (SPD) noch die Polizeipräsidentin am Montag konkrete Fehler ein. Und der Einsatzleiter Stephan Katte sagte, es seien 250 Polizisten zum Schutz des Reichstagsgebäudes abgestellt gewesen, das sei grundsätzlich genug gewesen. Allerdings zeigte der Ablauf der Ereignisse, dass die Polizei eine Zeit lang wohl zu wenig Leute hinter den Absperrgittern hatte und überrumpelt wurde. Das deutet zumindest auf einen Fehler an der Stelle hin. Ein Polizeisprecher hatte am Samstagabend von einer "Lücke", die genutzt wurde, gesprochen. Nur wenige Minuten später wurde die Treppe von herbeieilender Verstärkung zügig geräumt.
Überwiegend seien Menschen aus der Reichsbürgerszene beteiligt gewesen, so die Polizei. Außerdem ein kleinerer Teil von Demonstranten, "die sich selbst als Patrioten oder Bürgerwehr bezeichnen". Die angemeldete Kundgebung vor dem Reichstag veranstaltete der Verein Staatenlos, dem Reichsbürger angehören. Dieser Verein sei bekannt und schon öfter bei Demonstrationen aufgetreten, so die Polizei. Ein Aufruf zum Sturm des Reichstags gehöre demnach zur üblichen und ständigen Propaganda dieser Szene. Reichsbürger erkennen den deutschen Staat, seine Regierungen, Parlamente und die Polizei nicht an und vertreten zum Teil extremistische Ansichten.
Die Polizei ermittelt gegen die Demonstranten, die die Treppe hochrannten. Es geht um den Verdacht des Landfriedensbruchs. Auch gegen die Frau, die von der Bühne zum Besetzen der Treppe aufrief, laufen Ermittlungen. Die Polizei kennt ihre Identität. Wie in einem Video zu hören ist, forderte die Frau allerdings vor allem dazu auf, sich friedlich auf die Treppe zu setzen. Von einer konkreten Eroberung des Gebäudes ist nicht die Rede.
Auf Videos sind mindestens drei Polizisten zu sehen, die auf dem oberen Absatz vor dem Eingang stehen. Sie arbeiten in einem Polizeiabschnitt in der Berliner Innenstadt. Weitere Polizisten standen in der Nähe. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) sprach von insgesamt sieben Polizisten an der Stelle.
In manchen Videos vom Besetzen der Treppe ist zwar eine aufgeheizte Stimmung festzustellen. Andere Aufnahmen vermitteln aber eher den Eindruck eines abstrusen Happenings. Viele Menschen gehen die Treppe eher gemäßigt hoch, nur die vorderen laufen. Gewalttätigkeiten sind nicht zu sehen, die Situation wirkt nicht wirklich bedrohlich. Laut Polizei ist auch nicht bekannt, dass Gebäudeteile beschädigt wurden oder jemand versuchte, in das Haus einzudringen. Zwei der drei Polizisten halten der Menge Schlagstöcke entgegen. Angegriffen werden sie nicht.
Der Bundestag hat eine eigene Polizei. Die Polizeigewalt in diesem eigenen Polizeibezirk übt der Bundestagspräsident aus, wie im Internet erläutert wird. Offiziell heißt sie Polizei beim Bundestag. Die Zuständigkeit anderer Polizeibehörden werde damit im Bereich des Bundestags ausgeschlossen, heißt es. Zu dem Bereich zählen Gebäude und Grundstücke. Wie viele Polizisten dazu gehören, wurde am Montag nicht verraten. Für den äußeren Schutz der Parlamentsgebäude gibt es allerdings Absprachen mit der Berliner Polizei.
Früher gab es eine sogenannte Bannmeile um den Bundestag, in der nicht demonstriert werden durfte – Ausnahmen waren aber möglich. Seit 1999 gibt es laut Datenhandbuch zur Geschichte des Bundestags "keine Bannmeile mehr um das Parlament in Berlin, sondern einen befriedeten Bezirk". Dem Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes zufolge sind öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel dort zwar grundsätzlich verboten - aber zuzulassen, "wenn eine Beeinträchtigung der Tätigkeit des Deutschen Bundestages und seiner Fraktionen" nicht zu erwarten ist. Davon ist demnach in der sitzungsfreien Zeit des Parlaments in der Regel auszugehen.
(hau/dpa)