Bei den Demonstrationen am vergangenen Wochenende in vielen europäischen Großstädten – auch in Deutschland – haben sich zigtausende Menschen versammelt, um gegen das Bombardement des Gazastreifens durch die israelische Armee zu protestieren. Dabei kam es auch immer wieder zu antisemitischen Äußerungen und Aufmärschen vor Synagogen.
Auch in den sozialen Netzwerken fanden zuletzt Boykott-Aufrufe gegen israelische Produkte und Waren statt. Vielen ist nicht klar, dass sie damit antisemitische Botschaften verbreiten. Martin Kloke ist Politik- und Sozialwissenschaftler und Experte im Bereich Antisemitismus. Er forscht seit längerer Zeit zu dem Thema. Bei watson erklärt er, wo die Kritik an der Regierungspolitik Israels endet und wo Antisemitismus beginnt.
"Natürlich darf die Politik Israels, wie die eines jeden anderen Staates auch, kritisiert werden. Genau das passiert täglich, seit Jahrzehnten", so Kloke. "Noch nie gab es in Deutschland oder anderswo ein Tabu, Israel und die israelische Regierung zu kritisieren – etwa mit Blick auf die Siedlungspolitik in der Westbank oder in Bezug auf tatsächliche beziehungsweise vermeintliche Menschenrechtsverletzungen Israels."
Das habe zunächst einmal nichts mit Antisemitismus zu tun, so Kloke, sondern mit der Frage, ob eine bestimmte Kritik berechtigt ist oder nicht. Auch in Israel sei es durchaus Teil der politischen Kultur, die Regierung zu kritisieren. "Ein Blick auf Israels Medienlandschaft zeigt, wie kritisch und selbstkritisch die multikulturelle israelische Gesellschaft aufgestellt ist, wie sehr Israelis die kontroverse Debatte lieben." Auch in Israel wurden in der Vergangenheit Militäreinsätze kritisiert oder die Siedlungspolitik in Frage gestellt.
Es gebe aber eine Linie, bei der legitime Kritik an der Politik Israels zu Antisemitismus werde. Als Faustregel nennt Kloke den sogenannten 3D-Test. Wenn Dämonisierung von Juden, Doppelstandards bei der Bewertung des Vorgehens Israels und die Delegitimierung des Staates Israels stattfinde, dann sei die Grenze zum Antisemitismus überschritten.
Auch in Deutschland richtete sich die Wut vieler Demonstrierender gegen die in Deutschland lebenden Juden und jüdische Einrichtungen. Vor Synagogen wurde demonstriert und jüdische Denkmäler geschändet. Der Comedian Shahak Shapira kritisierte, dass er als in Deutschland lebender Jude immer wieder für die Politik Israels verantwortlich gemacht werde.
Dabei tragen in Deutschland lebende Juden keine Verantwortung für die Politik im Nahen Osten, wie Martin Kloke betont:
In den sozialen Netzwerken wurde im Zuge der jüngsten Eskalation des Nahostkonflikts der Boykott israelischer Waren gefordert, unter anderem auch von den Aktivisten von Fridays for Future. Der deutsche Ableger der Klimaschutzorganisation distanzierte sich von dem Aufruf. Aber auch in Deutschland haben sich viele dem Boykott angeschlossen. Dabei ist die Boykott-Bewegung, die sich unter dem Slogan "Boykott – Desinvestment – Sanctions" (BDS) formiert, auch zumindest in ihrer Wirkweise antisemitisch, so Experte Kloke.
In Deutschland seien diese Boykottaufrufe bisher noch wenig vertreten gewesen, da sie zu sehr an die NS-Zeit erinnern und an die Parole "Kauft nicht bei Juden" der Nationalsozialisten. Trotzdem gebe es auch hier in diversen Milieus die Überzeugung, keine israelischen Waren kaufen zu wollen.
Zwar sei boykottieren eine bessere Option als Bomben zu legen und Raketen abzufeuern, so Kloke, doch die Verbindungen der BDS-Bewegung zu palästinensischen Terrorgruppen auch in Berlin zeigten, dass BDS nur eine Variante unter vielfältigen antiisraelischen Aktivitäten sei.
Auf den Demonstrationen am vergangenen Wochenende waren viele Anhänger mit palästinensischen Flaggen zu sehen. Diese Flaggen sind an sich nur eine Solidaritätsbekundung mit den Palästinensern und nicht antisemitisch. Immer wieder gibt es aber auch Flaggen und Logos, die Israel und die palästinensischen Gebiete eingefärbt mit der palästinensischen Flagge zeigen. Diese Flaggen sind laut Antisemitismus-Experte Kloke, "visueller Ausdruck der Überzeugung, Israel habe kein Existenzrecht."
Und diese Überzeugung sei weit verbreitet, so Kloke. Viele Unterstützer der #freepalestine-Bewegung sehen die Staatsgründung Israels 1948 nach wie vor als unrechtmäßig an und fordern das gesamte Gebiet des heutigen Israels für die Palästinenser. Dass bereits 1947 ein Vorschlag der Vereinten Nationen für eine Zwei-Staaten-Lösung auf dem Tisch war, wird oft vergessen. Letztendlich scheiterte eine friedliche Lösung auch daran, dass die arabische Welt einen jüdischen Staat in der Region ablehnte. Heute haben viele arabische Staaten das Existenzrecht Israels anerkannt, jedoch nicht alle Palästinenser.
Insbesondere nach der sogenannten "Flüchtlingskrise" 2015/16 wurde von vielen Seiten thematisiert, dass mit der Zuwanderung vieler Menschen aus dem arabischen Raum auch ein neuer Antisemitismus nach Deutschland gekommen sei. Dass aber ausschließlich Muslime für den wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft verantwortlich sind, will Antisemitismus-Experte Kloke nicht unterschreiben.
Allerdings sieht auch er mit wachsender Sorge, wie stark Antisemitismus in der muslimischen Community verankert ist. Ihm bereite es vor allem Sorge, dass sich bei den israelfeindlichen Demonstrationen am Wochenende gezeigt habe, welche Parallelgesellschaft sich in Deutschland etabliert habe. Der Einfluss von "islamistischen TV-Sendern der Türkei" und der libanesischen Hisbollah sei in diesen Kreisen deutlich größer als der deutscher Medien.
Politik und Gesellschaft hätten zu lange weggeschaut, um einer kritischen Islam-Debatte auszuweichen, so Kloke. Sowohl in der schulpädagogischen Prävention wie in der strafrechtlichen Repression der Hassprediger sei zu wenig getan worden. Um dem entgegenzuwirken, fordert er nun mehr zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus.