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EU-Gipfel: Muss Ukraine Landverluste als Preis für den EU-Beitritt zahlen?

A pro Urkrainian manifestation pictured during an EU-Western Balkan meeting, ahead of the European council summit, in Brussels, Thursday 23 June 2022. The leaders of Serbia, Albania and North Macedoni ...
"Freiheit für die Ukraine" steht auf einem Plakat pro-ukrainischer Demonstranten. Sie haben sich am Donnerstag vor dem Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel versammelt.Bild: www.imago-images.de / imago images
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EU-Beitritt der Ukraine als Preis für Landverluste? So realistisch ist die Theorie vom Deal für den Frieden

Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs haben sich für den Status der Ukraine als EU-Beitrittskandidat entschieden. Aber haben sie dabei möglicherweise ganz andere Absichten als die Ukraine selbst? Ein Überblick.
23.06.2022, 20:0923.06.2022, 20:26
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Der Beschluss kommt mit einem Beigeschmack.

Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten haben sich für die Anerkennung der Ukraine und der Republik Moldau als EU-Beitrittskandidaten ausgesprochen. Doch im Hintergrund wabert die Theorie, einige Staaten könnten damit ein ganz anderes Ziel verfolgen, als die Ukraine selbst.

Ein Deal, der entweder verheerend oder am Ende doch gesichtswahrend für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sein könnte. Worum geht es dabei und was hat das mit dem Begriff Diktatfrieden zu tun? Ein Überblick:

Worum geht es?

Konkret geht es darum: Russlands Offensiven im Donbas nehmen immer größere Dimensionen an. Die ostukrainische Stadt Sjewjerodonezk ist zu großen Teilen bereits unter russischer Kontrolle – und in der strategisch wichtigen Nachbarstadt Lyssytschansk werden die Kämpfe immer heftiger und brutaler. Es könnte das Szenario eintreten, dass der russische Präsident Wladimir Putin irgendwann so viele Gebiete in der Ukraine kontrolliert, wie er sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Dann wäre er in der Position, Friedensverhandlungen vorzuschlagen.

Doch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wiederholt fast täglich, dass sein Land die okkupierten Gebiete wieder zurückerobern wolle. Warum also sollte die Ukraine Gebietsverlusten zuzustimmen? Für den Frieden? Und wie sollte Selenskyj das seinem Volk erklären?

Die Überlegung in Berlin (darüber wird zumindest hinter vorgehaltener Hand diskutiert) ist folgende: Selenskyj könnte mit der Integration in die EU argumentieren – und so am Ende gesichtswahrend aus der Sache herauskommen. Im Sinne von: Wir verlieren einen Teil unseres Landes – vermutlich also den Donbas und die Schwarzmeer-Halbinsel Krim –, aber dafür dürfen wir Teil der EU sein.

Der Preis für Gebietsverluste wäre demnach eine unkomplizierte Aufnahme in den europäischen Club.

Wäre das nicht ein Diktatfrieden?

Bundeskanzler Olaf Scholz hatte gerade erst vor wenigen Tagen in einer Regierungserklärung deutlich gemacht: "Einen Diktatfrieden wird es nicht geben." Deutschland werde die Ukraine weiter unterstützen.

Doch würde ein Szenario wie oben beschrieben eintreten – wäre das dann ein solches Friedensdiktat?

Nein.

Chancellor of Germany Olaf Scholz arrives for arrives for an EU-Western Balkan meeting, ahead of the European council summit, in Brussels, Thursday 23 June 2022. The leaders of Serbia, Albania and Nor ...
Bundeskanzler Olaf Scholz trifft in Brüssel ein.Bild: www.imago-images.de / imago images

Bei einem Diktatfrieden wird ein Friedensvertrag zwischen dem Gewinner und dem Verlierer eines Krieges geschlossen. Im Gegensatz zu einem Verständigungs- oder Kompromissfrieden legt der Sieger die Bedingungen für diesen Vertrag fest. Der Verlierer hat kein Mitspracherecht.

In einem solchen Szenario hätte Putin zwar einen Teilsieg errungen – nämlich die von ihm gewünschten Gebiete unter seine Kontrolle gebracht und demnach der Ukraine entrissen – aber er hätte damit nicht über die Ukraine gesiegt. Die hätte nämlich durchaus Mitspracherecht bei etwaigen Verhandlungen.

Es würde sich also um einen Kompromissfrieden handeln.

Ist das nur eine Theorie oder steckt wirklich etwas dahinter?

Tatsächlich handelt es sich erstmal nur um Gerüchte beziehungsweise Diskussionen einiger Politikerinnen und Politiker im Hintergrund. Bisher hat sich noch keiner der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zu einem solchen Plan geäußert.

Interessant ist allerdings, dass es führende Politikerinnen und Politiker der SPD bisher offenbar noch nicht übers Herz gebracht haben, auszusprechen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen soll. Selbst Bundeskanzler Olaf Scholz spricht nur davon, man müsse die Ukraine bei ihrer Verteidigung unterstützen.

Besonders zeigt sich dies in einem Interview, das der Journalist Christoph Heinemann mit Bundesverteigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) im "Deutschlandfunk" geführt hat.

Er fragt viermal auf unterschiedliche Weise danach, ob die Ukraine den Krieg gewinnen soll. Lambrecht bringt das Wort "gewinnen" kein einziges Mal über die Lippen.

Selbst, als er besonders konfrontativ vorgeht, spricht Lambrecht nur von Verteidigung.

Heinemann: "Sie muss gewinnen!"
Lambrecht:
"Sie muss sich gegen diesen brutalen Angriffskrieg verteidigen können. Das ist unser Anliegen."

Wie realistisch ist so ein Szenario?

Osteuropa-Experte Andreas Umland sieht für einen solchen Kompromiss keine Grundlage mehr. Auf Anfrage von watson sagt er:

"Bis März 2022 wäre womöglich ein derartiger Deal betreffs des Donbas und der Krim noch möglich gewesen. Nach Bekanntwerden der Massenverbrechen in Butscha, Mariupol und anderen besetzten Ortschaften ist allerdings eine Art ukrainische Abtretung okkupierter Gebiete an Russland kaum noch möglich."

Der Analyst beim Stockholm Centre for Eastern European Studies meint, mit einem solchen Deal würde die ukrainische Regierung die Bevölkerung der besetzten Teile der Ukraine einem Terrorregime überantworten. Ein Regime, "das mordet, foltert und deportiert. Das kann kein Land der Welt tun – auch nicht die Ukraine."

Der Politikwissenschaftler Eduard Klein von der Forschungsstelle Osteuropa ist der festen Überzeugung, dass es früher oder später zu Verhandlungen kommen muss – doch offizielle Gebietsabtretungen hält auch er für unwahrscheinlich.

Klein erinnert auf watson-Anfrage an die Versprechen Selenskyjs, alle von Russland besetzten Regionen des Landes zurückzuerobern. Doch er sagt auch: "Ob das der Ukraine angesichts der russischen militärischen Übermacht gelingt, ist trotz der westlichen Waffenhilfen fraglich."

Gleichzeitig komme aber auch die russische Offensive im Donbas kaum voran. Mittelfristig werde es vermutlich keine der beiden Seiten schaffen, einen militärischen Sieg zu erringen – deshalb müsse es zu ernsthaften Verhandlungen kommen.

June 19, 2022, Lysychansk, Ukraine: The bridge from Lysychansk to Severodonetsk is nearly completely destroyed by the war between the Russians and Ukrainian forces. After nearly 5 months of fighting,  ...
Die Brücke zwischen den beiden ostukrainischen Städten Lyssytschansk und Sjewjerodonezk ist fast vollends zerstört.Bild: www.imago-images.de / imago images

Doch Klein sagt auch: "Dass die Ukraine bereit sein wird, ihre 'temporär besetzten' Gebiete offiziell an Russland abzutreten, halte ich für eher unwahrscheinlich." Umfragen zeigten, dass 82 Prozent der Bevölkerung jegliche territorialen Kompromisse gegenüber Russland ausschließen, selbst wenn diese den Krieg beenden würden. Unter anderem eben auch wegen Bekanntwerden der Gräueltaten in Butscha und Mariupol.

Selenskyj, der aktuell sehr großen Zuspruch genießt, würde mit solchen territorialen Kompromissen laut Klein seine Glaubwürdigkeit verspielen und letztlich seine politische Zukunft gefährden. Klein sagt: "Ich denke aber, er will noch über die aktuelle Amtszeit hinaus Präsident bleiben."

Gibt es ein anderes Szenario?

Eduard Klein hält in der Tat ein anderes Szenario für wahrscheinlich. Er glaubt, die Ukraine könne versuchen, mit der EU auf eine Art Zypern-Szenario hinzuarbeiten: "Zypern ist 2004 offiziell mit dem gesamten Territorium der EU beigetreten, das europäische Recht wird in der nicht anerkannten selbsternannten 'Türkischen Republik Nordzypern' allerdings nicht angewendet."

Auf ein ähnliches Szenario könne es demnach hinauslaufen, ohne dass die Ukraine ihre Gebiete an Russland auf Drängen einzelner EU-Staaten offiziell abtreten müsse.

Russland verliert täglich mehr Soldaten als es rekrutieren kann

Im August hat der russische Präsident Wladimir Putin die Prämien für neue Soldat:innen deutlich erhöht. Ziel war es, mehr Rekrut:innen für den Krieg zu gewinnen. Mittlerweile bekommen die Anfänger:innen eine Pauschalzahlung von 400.000 Rubel (etwa 3700 Euro).

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