Es war die wohl größte Razzia im Bereich Terrorbekämpfung seit der Gründung der Bundesrepublik. Ex-Elitesoldaten, eine Richterin, die für die AfD im Bundestag saß und ein Prinz – sie wollten offenbar das System stürzen. Und dabei auch Gewalt anwenden.
Ihnen wird der Aufbau einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Am Mittwoch hatte man mehr als 130 Wohnungen in elf Bundesländern durchsucht, 25 Menschen wurden festgenommen. Darunter auch die ehemalige AfD-Abgeordnete und Berliner Richterin Birgit Malsack-Winkemann.
Obgleich Razzia und Festnahmen als polizeilicher Erfolg gewertet werden – es gibt auch Kritik. Die Gefahr der Radikalisierung sei lange Zeit nicht ernst genommen worden, meint etwa die Sozial- und Rechtspsychologin Pia Lamberty gegenüber watson.
Wie gefährlich ist die Bewegung der sogenannten "Reichsbürger:innen"? Und: Hätte man dem ganzen schon vorher einen Riegel vorschieben müssen? Watson hat sich umgehört.
Pia Lamberty ist der Überzeugung: Ja, man hätte es vorher sehen können. Auch der Theologe und Esoterik-Forscher Matthias Pöhlmann meint, eine solche Entwicklung habe sich abgezeichnet. "Wir hatten in der Vergangenheit ja Fälle, wo es solche Pläne gegeben hat", sagt Pöhlmann im Gespräch mit watson. Da gab es eine kleine Terrorzelle, die den sächsischen Ministerpräsidenten aus dem Weg räumen wollte, eine andere Gruppe wollte Karl Lauterbach kidnappen.
Und das sind nur die vereitelten Taten.
Pöhlmann sagt:
Der stellvertretende Vorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft DPolG, Manuel Ostermann, sieht in der Razzia hingegen den Beweis, dass "der Rechtsstaat funktioniert". Gegenüber watson sagt er: "Wir dürfen versichert sein, dass ein Anschlagszenario durch die Ermittlungsbehörden verhindert werden konnte."
Das Vorgehen zur Erreichung des polizeilichen Ziels diene der Aussicht auf maximalen Ermittlungserfolg und der Verhinderung von Gefahren für Leib und Leben. Und Ostermann, der auch CDU-Mitglied ist, findet: "Hier ist es wieder einmal in hervorragender Art und Weise gelungen."
"Extremisten nutzen Falschinformationen, bestimmte Taten und politische Entscheidungen, um Einflussbereiche nach außen und Machtstruktur nach innen zu stärken", sagt Polizei-Gewerkschaftler Ostermann.
Laut Verfassungsschutz geht man von rund 20.000 Reichsbürger:innen in Deutschland aus. Doch: "Nicht alle sind gewaltbereit, rechtsextrem oder im Besitz von Waffen", meint Experte Pöhlmann. Der jetzige Fall sei ein Extrembeispiel dafür, wie Reichsbürger:innen auch versuchen, Gewalt auszuüben und dieses System zu kippen. "Und diese Fantasien werden natürlich in dieser Szene sehr stark verbreitet."
Extremismus sei allumfassend eine akute Gefahr für die Menschen in Deutschland. Doch Ostermann hat Vertrauen in die Behörden. Die seien gut aufgestellt. Sie seien "sensibel und konsequent im Kampf gegen Extremismus".
Die Gruppe, die den Umsturz des Systems geplant haben soll, ist offenbar auch dem Esoterik-Bereich zuzuordnen. Neben der Verbreitung verschiedener Verschwörungsmythen sollen für die "Regierungsbildung" Seher:innen gesucht worden sein.
Für den Esoterik-Experten Matthias Pöhlmann ist das kein Sonderfall. Er spricht schon seit langem von einem verschwörungsideologisch esoterischen Zwillingspaar. Schon seit Beginn der Corona-Demonstrationen habe man feststellen können, wie Esoterik, Verschwörungsglaube und Rechtsextremismus miteinander Hand in Hand gingen.
Er sagt:
Esoterische Gruppen nutzten dann ihren Rahmen, um rechtsextremes Gedankengut zu verbreiten. Etwa, wenn es um Vorträge oder Schulungen im Bereich der Natur geht.
Auch würde man in diesem Gefilde immer wieder darauf pochen, die Erinnerungskultur an die Verbrechen der Nationalsozialisten zu brechen. Hier spricht man dann vom sogenannten "Schuldkult".
"Dann heißt es also, Deutschland müsse sich aus der Umklammerung der Illuminaten befreien und das Land müsse endlich wieder eine führende Rolle in der Befreiung dieser Welt einnehmen. Das alles wird im esoterischen Vokabular eingekleidet", sagt der Theologe.
Seit Multimilliardär Elon Musk den Kurznachrichtendienst Twitter übernommen hat, wird auf dem sozialen Medium noch weniger kontrolliert. Kritiker:innen merken an, dass Hass, Hetze und die Verbreitung von Falschnachrichten und Verschwörungserzählungen zunähmen.
Diese Entwicklung habe man auch bei Telegram beobachten können, meint Pöhlmann. Menschen verabredeten sich, schmiedeten Pläne, verbreiteten Gewaltfantasien. Das alles in einem von der Außenwelt abgeschotteten Bereich – vermeintlich ohne Rechtsrahmen. Wenn sich eine solche Tür bei Twitter öffne, könne das ein Riesenproblem sein, meint der Esoterik- und Verschwörungsexperte.
Und:
Laut Pöhlmann sind zunächst eher Männer zwischen 50 und 60 Jahren anfällig für Verschwörungserzählungen. Das heißt aber nicht, dass es keine Gefahr für die Jugend gibt. Denn Reichsbürger:innen und Rechtsextreme gehen auf Nachwuchs-Fang.
Der investigative Autor Tobias Ginsburg hat beispielsweise über Musikgruppen im Hip-Hop berichtet, die ganz offen ihr rechtsextremes Gedankengut in ihre Texte packen.
Ähnliches haben Rechtsextreme 2004 mit dem Projekt Schulhof-CD versucht. Hier verteilte man kostenlose CDs als Werbemaßnahme mit rechtsextremen Inhalten. Pöhlmann sagt: "Die Musik und die sozialen Medien spielen eine große Rolle, um Jugendliche zu erreichen."
Es würden immer wieder Menschen gefunden, die für solche Themen ansprechbar seien. In der Sektenberatung spreche man vom "Passungsmodell". "Menschen, die sich nach mehr Ansehen sehnen, sind anfälliger dafür, weil sie Teil einer Elite sein wollen, ein Gemeinschaftsgefühl suchen. Rechtsextremisten spielen dann mit solchen Emotionen."
"Wir brauchen zielführende Präventionsmaßnahmen", meint der Polizeigewerkschaftler Manuel Osterman. Soll heißen: "Transparenz, Aufklärung und Debatte. Tabuisieren spielt ausschließlich extremistischen Kräften in die Karten." Gerade in der politischen Kommunikation sei Transparenz ein wichtiger Faktor. "Offene Kommunikation und die Probleme der Menschen ernst nehmen, ist ein Fundament wichtiger Präventionsmaßnahmen."
Pöhlmann sieht einen Baustein im Religionsunterricht.
Was vielleicht missionarisch klingt, ist ein eher progressiver Gedanke. Pöhlmann meint, wir lebten in einer religionspluralistischen Gesellschaft. "Und das ist auch gut so." Es sei aber von großer Bedeutung, dass die Lehre verschiedenster Religionen in der Schule gelehrt werde. Und dass so auch der Unterschied zwischen Ideologien und Religion erkannt werde.
Das Thema Verschwörungsmythen sollte Pöhlmann zufolge "eigentlich in jedem Unterrichtsfach vorkommen".