Wie politisch sind sechs Farben? Das ist die Frage, um die sich das lauteste Fußball-Theater der vergangenen Tage und Stunden dreht. Die sechs Farben gehen von Rot bis Lila, sie bilden die Regenbogenflagge, seit Jahrzehnten ein Symbol des Kampfs um die Rechte von LGBTQI.
Das Fußball-Theater dreht sich um die Frage, ob das Münchner Stadion, das vor und nach der Europameisterschaft Allianz Arena heißt, mit den Regenbogenfarben beleuchtet werden soll, wenn Deutschland in seinem letzten Vorrundenspiel gegen Ungarn spielt.
Die Hauptdarsteller:
Am Mittwoch, in den Stunden vor dem Spiel Deutschland gegen Ungarn, wurde das Theaterdonnern richtig laut: Orbán kündigte an, er werde (anders als ursprünglich geplant) nicht nach München reisen, um das Spiel anzuschauen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nannte das Gesetz eine "Schande". Es verstoße "gegen die Menschenwürde, den Gleichheitsgrundsatz und grundlegende Menschenrechte", sagte sie in Brüssel. Und ergänzte: "Bei diesen Prinzipien gehen wir keine Kompromisse ein."
Mehr als die Hälfte der 27 EU-Mitgliedsstaaten hat inzwischen einen Protestbrief gegen das Gesetz an die ungarische Regierung unterzeichnet.
Und die UEFA?
Der europäische Fußballverband versandte am Mittwochmittag einen Tweet, in dem er schrieb, er sei stolz, "die Farben des Regenbogens zu tragen". Man habe die UEFA-Entscheidung, die Münchner Arena nicht in den Regenbogenfarben zu beleuchten, fälschlicherweise als politisch betrachtet. Am Ende des Tweets steht:
Es stellt sich nach diesem Tweet für viele Menschen vor allem eine Frage:
Hä?
Wie soll noch zu verstehen sein, was die UEFA hier behauptet? Der Regenbogen: kein politisches Symbol.
Die Münchner Arena in Regenbogen: sehr politisch, weil es gegen eine politische Entscheidung in Ungarn geht.
Es lässt sich nur verstehen, wenn man genauer hinschaut: auf das seltsame Verhältnis zwischen mächtigen Fußballdachverbänden wie der UEFA und dem Weltverband FIFA einerseits – und den Trägern politischer Herrschaft anderseits. Regierungschefs, demokratische wie autoritäre.
Politische Macht und Sportverbände wie UEFA und FIFA haben regelmäßig miteinander zu tun. Damit Staaten Sportevents wie Fußballturniere im eigenen Land ausrichten können, müssen sie Geld ausgeben: für Pläne und Werbekampagnen und – falls es klappt – für den Ausbau von Stadien oder zumindest für den Bau von Straßen, Bahngleisen, Bahnhöfen dorthin. Über diese Ausgaben entscheiden Politiker, weil es ja um öffentliches Geld geht. Und die Sportverbände sind darauf angewiesen, dass dieses öffentliches Geld fließt. So weit, so normal.
Viele Länder geben das Geld gerne aus: Gerade Fußballturniere sind Prestigeprojekte für die Gastländer. "Die Welt zu Gast bei Freunden", unter diesem Motto präsentierte sich Deutschland bei der WM 2006, die Bilder von den Sommerpartys mit zigtausenden Fans in deutschen Straßen gingen um die Welt – und haben bei den Menschen in vielen anderen Ländern das Bild der korrekt-geordneten, aber eher langweiligen Deutschen aufpoliert.
Fußballturniere sind also in aller Regel eine Win-Win-Situation, für die Verbände wie für die Regierungen. Keiner der beiden Profiteure will auf seinen Gewinn verzichten. Größer ist der Druck aber für die Fußballverbände: Für die UEFA und die FIFA sind Welt- und Europameisterschaften ein entscheidender Teil ihrer Existenzberechtigung.
Wer will es sich da mit der Regierung eines Turnier-Gastgeberlands verscherzen?
Mit Russland, wo 2018 die WM stattfand – und wo Präsident Wladimir Putin und seine Machtelite seit Jahren Andersdenkende schikanieren, wo Journalisten ermordet und Homosexuelle verfolgt werden? Mit Aserbaidschan, wo mehrere Partien der diesjährigen EM gespielt werden – ein autoritär regiertes Land, in dem Oppositionelle unterdrückt werden und das 2020 einen brutalen Krieg gegen das Nachbarland Armenien führte? Im kleinen Wüstenstaat Katar, wo 2022 die Weltmeisterschaft zu Gast ist – wo Homosexuelle eingesperrt werden und Arbeiter auf den Stadionbaustellen unter unmenschlichen Bedingungen schuften und Tausende von ihnen sterben?
Mit Ungarn, wo 2021 ebenfalls EM-Spiele stattfinden – und wo die Regierung Orbán die Pressefreiheit und die kritische Zivilgesellschaft zurückdrängt und jetzt LGBTQI ins Visier nimmt?
Nein, dagegen etwas zu sagen, so die Sprachregelung der UEFA, wäre ja politisch.
Auf den allerersten, oberflächlichen Blick tut etwa die UEFA einiges für eine offene, vielfältige Gesellschaft: Kampagnen gegen Rassismus und Homophobie unter Schlagwörtern wie "Respect" und "Equal Game". Aber wenn es dann um Regierungen geht, die rassistisch oder homophob handeln, die Respekt und Gleichbehandlung mit Füßen treten, bleibt sie still.
Wie jetzt im Streit um das LGBTQI-Gesetz in Ungarn.
Timm Beichelt, Professor für Europa-Studien an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, hat zum Verhältnis zwischen Fußball und politischer Macht geforscht. 2018, vor der WM in Russland, veröffentlichte er das Buch "Ersatzfeldspieler".
Zur Kontroverse um Ungarn und die Regenbogen-Flagge sagt Beichelt gegenüber watson:
In Streits wie dem um Ungarn sagen diejenigen, denen Menschenrechtsverletzungen oder sonstiges unethisches Verhalten vorgeworfen wird, gerne: Man muss Politik und Fußball trennen. Sie meinen damit: Mischt Euch nicht ein. Und FIFA und UEFA mischen sich ja auch nicht ein.
Dieses Verhalten habe mit wirtschaftlichen und sportpolitischen Interessen der Fußballverbände zu tun, meint Beichelt im Gespräch mit watson – und mit der engen Verflechtung von Politik und Fußball-Elite.
Beichelt sagt: "Vor allem in den nationalen Fußballverbänden autokratischer Länder reicht die Verbindung zwischen Politik und Fußball bis ganz nach oben."
Beichelt meint aber auch: Wer sich jetzt einfach auf die UEFA einschießt, der mache es sich zu leicht. Auch andere politische Akteure verhielten sich scheinheilig.
Er verweist darauf, dass unter den Unterzeichnern des Münchner Stadtratsantrags die CSU-Fraktion ist – also Vertreter der Partei, die bis 2018 den ungarischen Premier Orbán zu wichtigen Veranstaltungen einluden, um ihm bayerische Solidarität in der Flüchtlingspolitik zu versichern. Reichelt meint: "Und jetzt tut man so, als sei Orbáns Politik mit den Werten der CSU nicht vereinbar."
Er ergänzt:
Auch manche scheinbar steinharte Statements, die aus dem deutschen Fußball selbst kommen, werden auf den zweiten Blick wachsweich: Manuel Neuer etwa, der bei den EM-Spielen in diesem Jahr mit einer Kapitänsbinde in Regenbogenfarben am Arm aufläuft – aber Jahr für Jahr mit Bayern München nach Katar ins Trainingslager fliegt: dem Land, in dem Homosexualität mit Gefängnisstrafen und, bei Muslimen, mit dem Tod bestraft werden kann. Qatar Airways, die nationale Fluglinie Katars, ist einer der wichtigsten Sponsoren der Bayern.
Ja zur Toleranz – solange es nichts kostet. Diesem Motto folgt eben nicht nur die UEFA.
Die Haltung der UEFA zu den Regenbogenfarben auf der Münchner Arena ist also nur auf den ersten Blick seltsam. Eigentlich ist sie typisch für das Verhältnis zwischen Fußballverbänden und politisch Mächtigen.
Gegen Rassismus, für die Gleichberechtigung von LGBTQI einstehen? Natürlich. Aber nur, solange wir keiner Regierung auf die Füße treten, die rassistisch handelt oder LGBTQI unterdrückt.