Große Fußballturniere haben in Deutschland spätestens seit dem "Sommermärchen" 2006 eine besondere Magie. Weit über das rechte und bürgerliche Lager hinaus, bis ins linksliberale Milieu und selbst in so manches autonomes Zentrum hinein verspüren Menschen den Drang, sich ein Deutschlandtrikot überzustülpen. Doch viele zweifeln.
Denn die Stimmung im Land ist aufgeladen. Da wäre einerseits die viel diskutierte Umfrage der ARD, die ergeben hat, dass ein Fünftel der Befragten sich mehr weiße Spieler in der Nationalmannschaft wünscht.
Zwar betonte Nationalspieler Joshua Kimmich in Reaktion darauf, die Mannschaft wolle "das ganze Land hinter sich vereinen". Wer das "ganze Land" ist, darüber herrscht aber anscheinend Uneinigkeit.
Spätestens nach dem hohen AfD-Ergebnis bei der Europawahl stellt sich erneut die Frage nach dem "Wir". Vor diesem Hintergrund haben viele Menschen ein besonders mulmiges Gefühl. Ist es in Ordnung, bei der EM mit Deutschlandflagge zu jubeln?
Die Sehnsucht nach einem erneuten "schwarz-rot-geilen" Turnier findet ihren Ursprung im sogenannten Sommermärchen 2006. Für viele war das damalige Fußballfest während der WM in Deutschland Ausdruck eines deutschen weltoffenen Patriotismus.
Auch Sozialpsychologe Ulrich Wagner hat "erfreuliche Erinnerungen" an das Turnier. Er habe viele Spiele mit ausländischen Kolleg:innen gesehen. "Wir haben zusammengesessen und uns auf Englisch gegenseitig Abseits erklärt." Die Stimmung war nicht davon gekennzeichnet, sich als unterschiedliche Nationen gegenseitig abzuwerten. Deutschland als "offenes, buntes Gastgeberland", das könne es auch 2024 wieder geben.
Für Sporthistoriker Diethelm Blecking zeigte sich der Patriotismus 2006 jedoch nur nach außen hin weltoffen. "Nationale Affekte" liefen aber weiter. Er verweist darauf, dass vor dem Gruppenspiel zwischen Deutschland und Polen T-Shirts verteilt wurden, mit dem Spruch: "1939 wurde Polen in 28 Tagen besiegt, 2006 reichen 90 Minuten."
Auch für Sportsoziologe Sven Ismer gab es 2006 "besorgniserregende Tendenzen" wie "die damalige Diskussion über 'No-Go-Areas' für nicht-weiße Menschen".
Doch was macht Party-Patriotismus so gefährlich? Und kann man nicht auch Deutschland anfeuern, ohne dabei Ausländerfeindlichkeit zu fördern? Sozialpsychologe Wagner findet: Ja, das kann man:
Er warnt jedoch vor anderen Formen des Anfeuerns bei solchen internationalen Turnieren.
Die anderen zwei Experten sind skeptischer und sehen nur wenig Spielraum für einen harmlosen Party-Patriotismus. Sporthistoriker Blecking weist darauf hin, dass der Begriff des Patriotismus eher ein Verhältnis zur Verfassung eines Landes ausdrückt – in Deutschland also zum Grundgesetz. Das hieße: auch zum Recht auf Asyl und zur Ablehnung jeglicher Diskriminierung.
Damit habe der sogenannte "Party-Patriotismus" jedoch nur wenig gemein. Besonders in Niederlagen zeige sich das. Exemplarisch hätten das etwa Mesut Özils Worte nach der WM 2018 gezeigt: Dieser beklagte damals, er sei "Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ein Immigrant, wenn wir verlieren."
Auch Sportsoziologe Ismer sieht bei Fußballfans "eher puren Nationalismus", der die "Höherwertigkeit" der eigenen Nation gegenüber der Nation "des Gegners" betont. Der Übergang des Party-Patriotismus etwa zum Party-Faschismus – wie zuletzt auf Sylt – ist laut Blecking fließend. Ein Beleg für die Gefahr darin seien etwa Untersuchungen, die einen Anstieg von Nationalismus in der Bevölkerung nach der WM 2006 nachweisen konnten.
Was bei der Heim-EM 2024 im Vergleich zum Sommermärchen 2006 noch hinzukommt: Die Stimmung im Land ist vor dem Turnier eine ganz andere. Mittlerweile gebe es soziale Bewegungen und politische Vertretungen in den Parlamenten gegen Migrant:innen, Geflüchtete und Fremde, meint Blecking.
"Offenes Zurschaustellen von rechtsradikaler Gesinnung ist mittlerweile alltäglich", ergänzt Ismer und verweist auf das Sylt-Video.
Eins steht fest: Sportliche Großereignisse – in Deutschland besonders Fußball-WM und -EM – bedeuten vielen Fans die Welt. Sogar eher linke Menschen, die bei anderen Gelegenheiten nie auf die Idee kommen würden, Deutschlandflagge zu tragen, feuern die DFB-Elf dann an.
Dieter Blecking erklärt das mit der "unwiderstehlichen Verführungskraft" des Sports:
Was sollen Fans der deutschen Nationalmannschaft also nun tun, um die DFB-Elf anzufeuern – ohne dabei an der weiteren Enttabuisierung von Nationalismus mitzuwirken? Denn viel mehr Zugehörigkeitssymbole zur Mannschaft als die Deutschlandflagge gibt es nicht, wie Wagner betont: Für viele stehe die Identifikation mit der Mannschaft im Vordergrund – "doch diese hat kein eigenes Symbol wie etwa Klubmannschaften".
Eine kreative Lösung, um nicht einfach nur die deutsche Nationalflagge als Symbol zu tragen, ist es, weitere hinzu zu addieren. Wagner schlägt exemplarisch Überzieher mit Europafahne statt Deutschlandfahnen auf Autospiegeln vor. Es gehe darum zu zeigen, dass man nicht nur Deutscher ist, sondern auch "Teil einer Gemeinschaft. Deutschland ist ein Teil von Europa."
Auch Ismer wünscht sich "zumindest eine klare visuelle Abgrenzung" zu Rechtsradikalen:
Auch wenn Party-Patriotismus unumstritten problematisch ist, gibt es also Wege, um auch als kritischer Fan die DFB-Elf beim Public Viewing anzufeuern. Ohne schlechtes Gewissen. Und ohne Ausgrenzung.