Obwohl die Infektionszahlen in Deutschland weiter steigen, beschließen die meisten Bundesländer keine weitreichenden Corona-Maßnahmen - teilweise wird sogar geöffnet. Das kann Professorin Melanie Brinkmann absolut nicht verstehen und dreht am Donnerstagabend bei "Markus Lanz" voll auf. Das Unverständnis der Virologin bekommt dabei insbesondere Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) zu spüren: "So Herr Kretschmer, jetzt haben wir ein Problem!"
"Ich würde mich auch mit Sputnik V impfen lassen", sagt FDP-Politiker Wolfgang Kubicki gleich zu Beginn der Sendung - es ginge darum, "Geschwindigkeit zu bekommen". Was er meint, sind schnellere Verimpfungen der Impfstoffe. Nach Ostern sollen nun auch die Hausärzte in Deutschland impfen dürfen.
Der Bundestagsvizepräsident bleibt in der Manier seiner Partei und ist der Meinung, dass Deutschland nicht auf die Zulassung durch die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) warten sollte, sondern den chinesischen und russischen Impfstoff selbst prüfen sollte. Das sieht Kretschmer nicht so. Er ist der Meinung, dass das Zulassungsverfahren nicht "abgekürzt" werden sollte. Wäre Astrazeneca mit einer Notzulassung zugelassen worden, hätte das Konsequenzen gehabt mit den nun aufgetretenen Nebenwirkungen.
"So einfach ist das nicht, Herr Kretschmer", mischt sich Moderator Markus Lanz direkt ein und sagt, dass die EMA beispielsweise gesagt habe, dass der Impfstoff sicher ist, während Deutschland ihn für bestimmte Gruppen nicht empfiehlt. "Ist Deutschland also kein Teil mehr von Europa?", fragt Lanz provokativ nach. "Genau diese Art von Impfpolitik nervt die Leute", schießt er noch hinterher.
"Das ist an den Haaren herbeigezogen und konstruiert", erwidert der CDU-Politiker und ist der Meinung, dass dem Impfstoff nachgegangen werden müsse, wenn dieser Tote verursache. Doch dem Moderator geht es um die Kommunikation rund um den Impfstoff. Söder sage sogar, wer sich traue, solle sich impfen lassen - Lanz kritisiert dabei das Wort "trauen". Nach nur wenigen Minuten wirkt Sachsens Ministerpräsident genervt: "Ist das wirklich das größte Thema, das wir Anfang April haben? Wir beschäftigen uns mit einem Nebenkriegsschauplatz."
Dann nennt Kretschmer, was in seinen Augen das echte Problem ist: Die Menschen an der Alster und in Berlin draußen. In den vergangenen Tagen hätten sich immer wieder viele Leute versammelt. "Die Leute gehen ihren eigenen Weg", sagt er. Da wird Lanz sauer:
"Eine fatale Kommunikation" - so beschreibt die Expertin Melanie Brinkmann die Leistung der Regierung. Es wurden immer wieder Dinge versprochen, die nicht eingehalten werden konnten. "Es ist schlecht, etwas zu versprechen, was man nicht erreichen kann." Die Virologin ist der Meinung, die Politik müsse "offen und ehrlich" kommunizieren, weil das das Volk "mehr schätze, auch wenn die Wahrheit unschön ist. Die Wahrheit ist auch, dass die Pandemie im Sommer nicht durch ist." Auch mit ausreichend Impfungen würde sich die Situation nicht ändern. Dann muss Lanz vorsichtig nachfragen: "Wann liegt diese Pandemie denn dann hinter uns?"
Fast erschrocken fragt Kretschmer: "Was heißt das, wir werden das Virus nicht los? Wie wahrscheinlich ist denn, dass der Sommer 2021 so wird wie der Sommer 2020?" Die Expertin formuliert es klar: "Wenn wir jetzt nicht die Maßnahmen ergreifen und die Kontakte reduzieren - wie, das ist nicht mein Job, sondern Ihrer - wenn wir das nicht tun, rauschen wir in eine dritte Welle, die die zweite Welle in den Schatten stellen wird. Und wir haben jetzt ganz andere Probleme: Wir haben ausgebranntes medizinisches Personal. Die können nicht mehr. Wir verlieren Pflegepersonal." Mahnend sagt auch Lanz, dass bereits 9.000 Pflegekräfte "abhanden gekommen" seien.
Dann dreht die Virologin noch weiter auf und richtet ihr Wort direkt an den CDU-Politiker: "Sagen wir mal ehrlich, jetzt wo ich Sie so nett neben mir sitzen habe, wozu hat die Wissenschaft schon im Oktober geraten?" Kretschmer versucht sich rauszureden und sagt, er sei mit seinem Land früher in den Lockdown gegangen als der Rest Deutschlands. Zudem habe er die Öffnungen im ganzen Land für falsch gehalten. Man habe nur dem Willen des Volkes entsprochen - wieder bezieht er sich die Bevölkerung.
"Das ist ein bisschen so, wie wenn mein 6-Jähriges quengelt, weil er den Fahrradhelm nicht aufziehen will", sagt Brinkmann zur Begründung des Politikers. "Man muss den Leuten doch klar sagen, was los ist. Ich frage mich, wie kann man solche Entscheidungen treffen? Unsere Modellierungen waren doch eindeutig!"
Den letzten Satz wird die Expertin an diesem Abend noch einige Male wiederholen und ihr Frust ist ihr anzumerken. "Wir machen dieselben Fehler immer und immer wieder", ergänzt sie noch. Doch Brinkmann hat noch mehr auf Lager und packt direkt die nächste Keule aus: "Wir haben noch nie ein einheitliches Ziel formuliert", kritisiert sie die gesamte Regierung in Deutschland. "Was ist das Ziel? Nicht die Intensiv-Betten zu überlasten ist das bescheuertste und nicht einzuhaltende Ziel. Wir kassieren immer noch viele tote Menschen und haben zudem einen Dauer-Lockdown."
Kubicki versucht, ihr etwas entgegenzuhalten und sagt, dass alle Bundesländer sich zumindest auf einen Stufenplan geeinigt hätten. Auch Kretschmer versucht sich zu verteidigen und sagt, dass die Bevölkerung eine Perspektive wollte - und diese hatte man versucht zu geben. Er gibt zu, dass er nicht geglaubt hat, dass die britische Mutante so viel infektiöser sein würde als die Ursprungsvariante des Virus. "Aber das haben wir Ihnen doch gesagt", antwortet Brinkmann. "Wir haben es nicht geglaubt", ist seine Antwort. Er selbst sei auch für die von Angela Merkel ins Spiel gebrachte "Osterruhe" gewesen, die von der Kanzlerin wieder revidiert wurde.
Fakt ist jedoch auch, dass in Sachsen die Schulen im Februar wieder geöffnet hatten und Kinder im Klassenraum keine Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung hatten. "Dass in einer Phase Schulen geöffnet werden, wo die Wissenschaft eindringlich warnt, das verstehe ich einfach nicht", sagt Brinkmann erneut fassungslos. Eine gute Kontaktnachverfolgung sei generell nur möglich, wenn die Inzidenzen niedrig sind, erklärt die Expertin zudem und sagt, dass wir darin "noch nicht gut" seien. "Da kann man viel lernen, viel nachbessern."
Dann wendet sie sich jedoch wieder Kretschmer zu? "Ohne Masken im Unterricht, wieso?" Lanz versucht etwas zu sagen, doch sie bleibt rigoros: "Ich drehe jetzt erst auf. Lassen Sie mich mal! Wieso nimmt man so ein einfaches Mittel wie die Maske nicht in die Hand?" Die Kinder würden damit nicht eingehen, stimmt auch Kretschmer zu, doch es gäbe ja auch Kitas, Krippen und Ähnliches: "Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit", wirft er schnippisch ein.
"Herr Kretschmer, jetzt haben wir ein Problem", dreht sich Brinkmann entschieden zum Ministerpräsidenten. Weil das Infektionsgeschehen so hoch sei, sollen Kinder eine Maske tragen, sagt die Virologin. Das würde ab Ostern ja auch passieren, antwortet Kretschmer. "Warum ist das nicht schon im Februar passiert?" "Jetzt passiert etwas Interessantes", lenkt Kretschmer ab, "wir können jetzt über die Vergangenheit diskutieren oder in die Zukunft schauen." Dann versucht sich auch Kubicki einzumischen, doch Brinkmann bleibt hart: "Jetzt rede ich!" Auch zu Lanz sagt sie: "Eigentlich brauchen wir Sie nicht" - meint es jedoch ironisch.
Die Expertin erklärt erneut: "Wir haben es jetzt mit einer neuen Variante zu tun. Ich muss forschen, und es ist ihr Job, sich darum zu kümmern, Sie müssen klar kommunizieren, man muss das gut erklären." Brinkmann ist der Meinung, dass die Leute das auch verstehen würden.
Warum man immer dieselben Fehler mache und dass das schon an "Idiotie" grenze, fragt Markus Lanz auch die Journalistin Anja Maier. Sie ist der Meinung, dass "Superwahljahr" sei und deshalb viele Entscheidungen von den persönlichen Interessen der Ministerpräsidenten getrieben seien. "Das sind Narrative von Journalisten, die Artikel vollschreiben müssen", tut Kubicki die Vermutung ab.
Dabei sei es doch gerade er, der den Rücktritt mancher Minister fordere und von der Kanzlerin verlange, die Vertrauensfrage zu stellen, erklärt Lanz. Der FDP-Politiker behauptet, er würde nicht sie als Person anzweifeln, sondern ihre Politik. "Wir brauchen ein anderes Management", fordert er.
Am Ende der Sendung geht es darum, wie es weitergehen soll mit der Pandemiebekämpfung. In zwei Wochen ist wieder Ministerpräsidentenkonferenz, wo neue Maßnahmen beschlossen werden sollen. Jedoch fragt sich sowohl Maier als auch Brinkmann zum Schluss: "Wozu noch so lange warten?"