Die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine polarisiert die Deutschen: Laut aktuellem ARD-Deutschlandtrend ist eine knappe Hälfte dafür, die andere dagegen. Dieses Bild spiegeln auch die beiden offenen Briefe entgegengesetzter Haltung wider, die von vielen Prominenten unterzeichnet wurden. Das Thema "Mehr Waffen für die Ukraine – ist das der Weg zum Frieden?" diskutiert Anne Will mit folgenden Gästen:
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk trägt zum 77. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands am 8. Mai 1945 bei Anne Will eine stilisierte Mohnblume am Revers. Sie gilt als Symbol des Gedenkens an die Opfer von Krieg und insbesondere an die in den beiden Weltkriegen gefallenen Soldaten.
Den Gedenktag hat auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zum Anlass für eine kurzfristige Fernsehansprache genutzt, in der er betonte, dass die Deutschen "Recht und Freiheit verteidigen an der Seite der Angegriffenen".
Melnyk kritisiert Scholz' Rede leicht: "Wir würden uns vielleicht viel mehr Konkretes wünsch, da haben wir leider nicht viel Neues gehört." Bei den von Deutschland für die Ukraine in Aussicht gestellten Gepard-Panzern gebe es seit zwei Wochen keine Bewegung, Munition habe man auch keine gefunden. Und auch sonst: "Es wäre wichtig, dass jetzt auch der Bundestag weitere historische Entscheidungen treffen würde."
Der ukrainische Botschafter kritisiert das deutsche Verhalten im Ukraine-Krieg schon lange, intensiv und eindeutig. Doch die Haltung der deutschen Öffentlichkeit ist zwiegespalten, was die Lieferung von schweren Waffen angeht. Zuletzt haben zwei offene Briefe an den Bundeskanzler dies auch noch einmal gezeigt.
Der Soziologe Harald Welzer hat den Brief gegen Waffen unterzeichnet, weil er eine Entgrenzung und ein zufälliges Hineinrutschen in einen größeren Krieg befürchtet. "Die Frage der permanenten Aufrüstung hat ja kein logisches Ende", sagt Welzer. Er befürchtet einen langen Krieg, erinnert an 20 Jahre Afghanistan, und plädiert für das Ausloten einer Verhandlungslösung.
Das bringt den ukranischen Botschafter sofort auf 180. "Das was sie bieten, ist aus unserer Sicht moralisch verwahrlost", sagt er in Richtung Welzer. "Es ist einfach für Sie, in ihrem Professorenzimmer zu sitzen und zu philosophieren ...", schießt er weiter. "Nicht diskreditieren, Herr Melnyk, es sind viele Menschen, die so denken", ruft Anne Will den Botschafter zur Ordnung. Doch Melnyk ist in Fahrt. "Sie wollen, dass sich die Ukraine ergibt", unterstellt er Welzer. Doch das werde sein Land nicht tun. Die Ukraine brauche sofort schwere Waffen für Russland und ein Energieembargo, "und nicht wieder verzögern". So gelinge es, Putin "das Rückgrat zu brechen, Finanzströme auszutrocknen", sodass der russische Präsident von sich aus Verhandlungen mit der Ukraine einleite.
"Egal, was Sie tun, ob sie das wollen oder nicht, wir werden weiterkämpfen", betont Melnyk. Dann eben mit der Unterstützung von Ländern, die dazu bereit seien, die Ukraine mit schweren Waffen zu unterstützen. Und wenn Deutschland nicht in dem Maße unterstütze, sei das ein Zeichen dafür, "dass man da nicht sehr viel gelernt hat aus der Geschichte" . "Die Erinnerungspolitik Deutschlands wird jetzt ganz konkret in der Ukraine auf den Test gestellt." Deutschland sollte nicht so lange "herumsitzen", mahnt Melnyk.
Es sind wuchtig-moralische Argumentationsketten, die Melnyk auffährt und Welzer entgegnet mit der wohl schlagkräftigsten Begründung für die Zögerlichkeit. "Wir haben es mit einer Atommacht zu tun, ein Krieg gegen eine Atommacht kann nicht gewonnen werden."
Doch da widerspricht ihm CDU-Politiker Ruprecht Polenz. Atomwaffen seien eben auch ein Teil Drohkulisse, die nicht unbedingt eingesetzt wird: Die Amerikaner in Vietnam verloren, Russland in Afghanistan nicht gewonnen. Polenz, der den Brief für schwere Waffen unterzeichnet hat, hofft "auf eine aktive Rolle" Deutschlands bei der Unterstützung der Ukraine. "Putin darf nicht gewinnen, wenn wir nicht wollen, dass es morgen in einem anderen Land weitergeht."
Und auch Britta Haßelmann, Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, findet: "Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren." Da sind sich eigentlich alle einig. Uneinigkeit besteht nur über den Weg. Und dafür hat Welzer auch eine einfache Erklärung:
Welzer konfrontiert den streitbaren Botschafter: "Mir fällt das häufig auf, dass Sie unglaublich offensiv mit Gesprächspartnern umgehen. Wo Sie das hernehmen, dass sie über Motive von Menschen einfach urteilen?", wundert er sich. Man müsse den Menschen zugestehen, dass sie auch aus "ganz präsenter Kriegserfahrung" in der Familie ihre Entscheidungen treffen, findet Welzer und kommt dann etwas ins Dozieren, bis Melnyk etwas reinruft und ihn stoppt. "Bleiben Sie mal ein bisschen beim Zuhören, nicht beim Kommentieren", tadelt ihn Welzer von oben herab. "Ich bin kein Student...", springt der Botschafter auf die Provokation an.
Anne Will will zur Sach-Diskussion zurückführen, aber Melzer lässt sich nicht stoppen. Menschen, die sich gegen Waffenlieferungen aussprechen, würden das ja "nicht aus Jux und Dollerei" tun. "Sie tun es aus ernsthafter Überlegung und historischem Wissen." Es gehe darum, "Wege zu suchen, in die Verhandlung zurückzukommen. Wie man daraus eine Aufforderung zur Kapitulation herauslesen kann, ist mir ein Rätsel."
Doch Melnyk ist dieser Argumentation nicht zugänglich und kontert direkt an Welzer gewandt mit der historischen Schuld Deutschlands: "10 Millionen Ukrainer haben Ihre Vorfahren vernichtet, das ist eine Pflicht, das ist eine Schuld gegenüber der Ukraine." Ungeschickt arrogant entgegnet Welzer: "Herr Melnyk, informieren Sie sich über meine wissenschaftliche Arbeit, dann müssen Sie mir mit dem Argument nicht kommen. Das ist einfach borniert."
Die "eskalative Dynamik", die irgendwann nicht mehr zu kontrollieren sei und vor der Welzer im Ukraine-Krieg gewarnt hat, lässt sich in diesem Talk prototypisch beobachten. Auch wenn Talkmasterin Anne Will deeskalierend eingreift, kann sich Welzer einen Schlusspiekser nicht verkneifen. Es gebe viele Wege, sich solidarisch mit der Ukraine zu zeigen, möglich sei "nicht nur der Weg, der von der Ukraine artikuliert wird".
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, sonst nie um eine pointierte Meinung verlegen, fühlt sich angesichts der Stimmung in der Runde unwohl, wie er offen bekennt. Darum wolle er "keine Textexegese betreiben". Er macht sich ernsthaft Sorgen um inneren Zusammenhalt der Gesellschaft, ("an manchen Stellen droht es uns zu kippen") und gerade auch angesichts der Talk-Runde, dass wir die "die Kulturtechnik des darüber Diskutierens verlieren". Und damit watscht er seine beiden Mitdiskutanten Welzer und Melnyk ganz elegant ab.