"Haben Sie ein bisschen Zeit für mich?", fragt die Frau mit bayerischem Akzent und blauem T-Shirt hinter der Biergarnitur eine andere Frau. Die Frau in Blau drückt der anderen eine Klappkiste in die Hand, wirft Kartoffeln hinein.
Weiter geht es die Biergarnitur entlang. "Wollen Sie Wirsing oder Brokkoli? Pak Choi und Möhren?", fragt die Frau in Blau. Die andere nickt. Brokkoli nimmt sie, Möhren auch und eine Zwiebel. Und weiter die Biergarnitur entlang, zu einer Frau im rosa T-Shirt, die Paprika, Tomaten, Zucchini und Salat ausgibt.
Was an eine Mischung aus Einkaufsladenspielen, Markt und Mensa erinnert, ist das normale Treiben an der Berliner Tafel in der Gropiusstadt.
Jeden Montag kommen 200 bis 250 Menschen in die Dreieinigkeitskirche, um dort Lebensmittel für einen symbolischen Euro einzukaufen. In ganz Berlin waren es 2021 130.000 Menschen, die sich bei der Tafel mitversorgen. Eine von ihnen ist Gisela H..
H. hat ohne Berufsausbildung gearbeitet. Früher konnte sie von ihrem Geld gut leben. Dann wurde sie Mutter und konnte weniger arbeiten. Heute reicht ihre Rente nicht, um über den Monat zu kommen. H. ist glücklich, dass es Unterstützungsangebote gibt. Sie habe sich daran gewöhnt, in der Schlange zu stehen. Mittlerweile, denn: Der Gang zur Tafel ist nach wie vor mit Scham behaftet.
Aufgrund dieser Scham blickt Karsten Böhm dem Herbst mit sorgenvollem Gesicht entgegen. Böhm ist Sozialarbeiter und Diakon bei der Dreieinigkeitskirche. Er ist festangestellt für "Leib und Seele", den Zusammenschluss hinter der Tafel in der Gropiusstadt. Die Inflation, meint Böhm, wird die Menschen am Rand der Armutsgrenze dann besonders treffen. Steigende Energiepreise on top. Gleichzeitig sei aber auch bei vielen die Scham zu groß, beim Amt um Hilfe zu bitten.
Bei der Tafel darf nur einkaufen, wer beim Amt um Hilfe gebeten hat. Menschen, die einen Nachweis mit sich führen, dass sie berechtigt sind. SGB-II-Beziehende, Mini-Rentner:innen, Geflüchtete. 50 bis 70 Familien aus der Ukraine werden mittlerweile in der Gropiusstadt mitversorgt. "Hier ist es wie auf einem Dorfplatz", sagt Böhm – jede und jeder könne auf das Angebot angewiesen sein.
Seit der Pandemie haben die Berechtigten für ihren Einkauf ein fixes Zeitfenster vorgegeben. Die Ehrenamtlichen bei der Ausgabe sorgen dafür, dass auch die Letzten noch Lebensmittel abbekommen. In die Kirche selbst dürfen nur Geimpfte. Für jene, die sich nicht haben spritzen lassen, gibt es vor den Toren der Kirche eine gesonderte Ausgabe.
Die Ungeimpften stehen in einer gesonderten Schlange. Anders als die Geimpften haben sie nicht die Möglichkeit, auszuwählen, was sie gerne in ihren Korb legen möchten. Stattdessen packen Freiwillige von "Leib und Seele" Körbe zusammen. Gemüse, Obst, Milchprodukte, Fleisch, Fisch und Brot: Die gleiche Produktpalette wie bei den Geimpften also.
Diese vorgepackten Körbe werden dann von Ehrenamtlichen einzeln herausgetragen. Die Tafelgänger:innen ohne Impfzertifikat stellen die Kiste auf den Boden und wirbeln, wie am Wühltisch, durch das Angebot. Was man nicht möchte, wird zurückgelassen, Glück für den Nächsten.
Die Lebensmittel, die ausgegeben werden, stammen aus den Discountern im Einzugsbereich – im Fall der Dreieinigkeitskirche sind das zum Beispiel ein Teil von Berlin-Rudow, der Gropiusstadt und Neukölln. Die Berliner Tafel hat außerdem eine Lagerhalle, wo Produkte aus dem Großhandel gelagert werden. Auf die Tische kommt, was nur noch für kurze Zeit haltbar ist.
"Es ist schon faszinierend, was hier ab und an bei uns ankommt", sagt Böhm. Sein Team von "Leib und Seele" besteht aus 50 Ehrenamtlichen, die montags, in aller Frühe, damit beginnen, den Tag vorzubereiten: Abklappern der Lebensmittelmärkte, Sortieren und Auslegen der Ware.
Dass es aber überhaupt etwas zu sortieren gibt, dafür sorgen zum Beispiel Ulf König und Wolfgang Lehmann. Sie starten schon früh in den Tag, denn zuerst müssen sie mit dem "Leib und Seele"-Transporter die Bestände holen.
Im Anschluss geht die Tour los: Von Einkaufsmarkt zu Einkaufsmarkt, ehe sie zum Schluss einen Abstecher zum Tafel-Lager in Berlin-Moabit machen. Etliche Kisten schleppen die beiden Rentner aus dem Auto und auf den Rollwagen.
"Wenn ich heute Abend heimkomme, weiß ich, was ich getan habe", sagt König. Ihm macht die Arbeit Spaß. Und auch Lehmann, der schon seit zehn Jahren Teil des Teams ist, hat seine Freude daran. Zeit für Muskelkater haben die beiden kaum, denn die ehrenamtliche Arbeit bei der Tafel kann fast schon als Vollzeitjob durchgehen – wenn die Freiwilligen das möchten.
Für König und Lehmann geht es direkt am Dienstag weiter: Die Kisten müssen zurück zu den Discountern, damit diese sie wieder auffüllen können. Donnerstag und Freitag heißt es dann wieder: Lager auffüllen. Die Tafel in der Gropiusstadt ist in einer privilegierten Position, meint Karsten Böhm. Denn: In der Kirche gibt es Lagerräume und Kühlschränke. So müsse nicht alles am Ausgabetag eingesammelt werden. Die beiden Fahrzeuge von "Leib und Seele" würden zudem den Transport erleichtern.
Eigentlich sollen bei der Tafel selbst nur Lebensmittel ankommen, die noch genießbar sind – das klappt aber nicht immer. Karsten Böhm sagt: "Wir sind auch Entsorger. In der Spitze haben wir 1,5 Tonnen Bio- und Restmüll." Geblähte Plastikverpackungen, faules Obst, auch so etwas findet sich in den Lebensmittelkisten. Aus diesem Grund starten die Frauen ihre Frühschicht mit dem Sortieren.
An den Biergarnituren hängen Müllsäcke, darunter stehen schwarze Eimer. Jede Obst- und Gemüsekiste wird durchgeschaut und sortiert. Ein Geruch von faulem Salat und weichen Bananen hängt in der Luft. Die Frauen, überwiegend Rentnerinnen, sind routiniert und schnell. Die Tomaten landen bei den Tomaten. Außer die ekligen, die kommen in den Müll. Salat und Porree werden gezupft, damit sie wieder ansehnlich sind.
Das schon weiche Steinobst wird in eine extra Kiste gelegt, ansonsten landen Avocados, Mangos, Maracujas, Pfirsiche, Aprikosen und Zwetschgen alle in derselben Kiste. Zwischen Bananen, Melonen und Ananassen.
Die Frauen an den weiteren Stationen sind ebenso routiniert: Sind die Putenmedaillons noch gut? Ein Blick auf die Verpackung lässt darauf schließen. Da das Mindesthaltbarkeitsdatum aber weit überschritten ist, wird die Plastikfolie aufgerissen. Ein süßlich-penetranter Geruch erfüllt die Luft. Gut riecht anders. Die Medaillons müssen in der schwarzen Tonne entsorgt werden.
Aber auch ohne die Lebensmittel, die tatsächlich nicht mehr genießbar sind, ist eine Fülle an Waren auf den Tischen und in den Boxen dahinter, dem sogenannten "Warenlager". Überall sind sie aufgestapelt. Und immer legen die Freiwilligen neue Lebensmittel nach. Besonders beliebt: Butter. Allerdings ist dieses Gut schon vor Beginn der Ausgabe kaum vorhanden. Die wenigsten der Bedürftigen werden etwas davon abbekommen.
Was es an diesem Montag aber zur Genüge gibt: Brot, Tomaten und Bananen. Aber auch sonst reichen die Lebensmittel, die die Freiwilligen an diesem Tag zusammengesammelt haben, für alle. Niemand geht leer aus, alle Stationen sind gut gefüllt. Kaum etwas bleibt am Ende übrig. Die wenigen Kisten, die noch bestückt sind, werden um 17.30 Uhr, als endlich Ruhe einkehrt, zurück ins Lager gebracht.
Verderbliches werden Ulf König und Wolfgang Lehmann am nächsten Tag zu einer anderen Ausgabestelle bringen. "Ich freue mich jetzt darauf, meine Beine hochzulegen", sagt Lehmann. Und auch die anderen Freiwilligen sehen am Ende des Tages geschafft aus. Klar ist aber auch: Spätestens in der kommenden Woche werden sie wieder hinter den Biergarnituren stehen und Joghurt, BraTee und Tiefkühlpizza ausgeben.