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Nordirak und Syrien: Warum die Türkei und Iran kurdische Regionen angreifen

November 4, 2022, Istanbul, Turkey: Protester holds a placard during the demonstration. Protesters organized a demonstration following the death of Mahsa Amini. Mahsa fell into a coma and died after b ...
Weltweit unterstützen Menschen die Freiheitsbestrebungen der Bürger:innen im Iran – das Regime macht vor allem Kurd:innen verantwortlich.Bild: IMAGO/ZUMA Wire / imago images
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Bomben und Raketen: Was hinter den Attacken auf den Nordirak und Syrien steckt

21.11.2022, 15:5421.11.2022, 15:57
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Eine ganze Region ist in Aufruhr: Da sind die Bürger:innenproteste im Iran, die zu einer Revolution anwachsen. Da ist der Irak, ein Land zwischen IS-Terror und dem Weg zur Demokratie. Da ist die Türkei, die immer wieder mit Säbelrasseln gegen ihre Nachbarländer auffällt. Da ist Syrien, ein Land, das seit dem Arabischen Frühling 2011 nicht zur Ruhe kommt.

Eine Weltregion kommt nicht zur Ruhe: Der Iran greift aktuell Regionen im Nordirak an, die Türkei in Syrien.
Eine Weltregion kommt nicht zur Ruhe: Der Iran greift aktuell Regionen im Nordirak an, die Türkei in Syrien.Bild: screenshot watson / googlemaps

Und in der Region fallen Bomben. Nicht im Rahmen von Bürger:innen-Kriegen, sondern in Form eines Angriffs auf staatsfremdes Territorium. Der Iran und die Türkei greifen kurdische Stützpunkte in Syrien und im Irak an.

Was ist da los? Die wichtigsten Fragen klärt watson für euch.

Wieso greift der Iran Ziele im Nordirak an?

Die iranischen Revolutionsgarden greifen Ziele im Nordirak mit Raketen und Drohnen an. Konkret geht es um vermeintliche Stützpunkte kurdischer Separatistengruppen. Das zumindest berichtet die iranische Nachrichtenagentur Tasnim auf Twitter.

Bereits in den vergangenen Wochen hatte die Islamische Republik immer wieder Stellungen im Nordirak bombardieren lassen. Teheran wirft den kurdischen Gruppen im Nordirak vor, die landesweiten Proteste gegen die Regierung und das islamische Herrschaftssystem im Iran zu unterstützen.

Seit dem Tod der jungen kurdischen Iranerin Mahsa Amini Mitte September machen viele Landsleute ihrer Wut öffentlich Luft, Tausende zogen auf die Straßen. In den iranischen Kurd:innengebieten, zuletzt in der Stadt Mahabad, geht der Sicherheitsapparat mit Härte gegen Demonstrierende vor.

Der persischsprachige Nachrichtensender "Iran International" schreibt etwa von Straßen, die wie Schlachtfelder aussehen – "Terroristen" zu stoppen, sei das Ziel der Revolutionsgarden. Zumindest laut Statements des Regimes.

Luftangriffe: Was treibt die Türkei an?

In der Türkei ist keine Revolution im Gange und trotzdem attackiert Ankara kurdische Gebiete in Syrien und im Nordirak. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan begründet die türkische Offensive mit einem Bombenanschlag in Istanbul Mitte November. Denn Erdoğan macht kurdische Gruppen für das Attentat verantwortlich.

Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Kurd:innenmiliz YPG haben jegliche Verantwortung für den Anschlag mit sechs Toten in Istanbul von sich gewiesen. Die Gruppierung unterstütze keine Angriffe, die direkt gegen Zivilist:innen gerichtet seien.

Turkey President Recep Tayyip Erdogan gestures as he speaks during a press conference on the sidelines of the G20 Leaders' Summit at Nusa Dua in Bali, Indonesia on Wednesday, Nov. 16, 2022. (AP P ...
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan macht kurdische Gruppen für den Anschlag in Istanbul verantwortlich.Bild: AP / Firdia Lisnawati

Expert:innen halten es für unwahrscheinlich, dass kurdische Gruppen hinter dem Anschlag stecken. Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik, erklärt zum Beispiel bei "ntv":

"Der Anschlag erleichtert es der Regierung, eine erneute Intervention in Syrien international zu rechtfertigen. Deshalb macht ein solcher Anschlag für die Kurden in Syrien keinen Sinn."

Auf das Attentat folgte tatsächlich eine Intervention. Bei Luftangriffen der Türkei seien mindestens 31 Menschen getötet und Dutzende zum Teil schwer verletzt worden, meldete die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Dem türkischen Verteidigungsministerium zufolge wurden 89 Ziele in Nordsyrien und im Nordirak "zerstört". Zudem seien "Terroristen in großer Zahl neutralisiert" worden.

Wie Hürcan Asli Aksoy vom Centrum für angewandte Türkeistudien auf watson-Anfrage einschätzt, haben die Angriffe das Ziel, das Hauptquartier der YPG in Kobane zu vernichten. Der Grund dafür: "Die mutmaßliche Attentäterin des Terroranschlags in Istanbul, behauptet die türkische Polizei, hätte ihre Anweisungen 'aus Kobane'", fasst die Expertin zusammen. Das türkische Verteidigungsministerium habe angekündigt, es sei die "Abrechnungszeit" gekommen.

Experten gehen davon aus, Ziel der Türkei könne sein, türkisch besetzte Gebiete westlich und östlich von Kobane zu verbinden.
Experten gehen davon aus, Ziel der Türkei könne sein, türkisch besetzte Gebiete westlich und östlich von Kobane zu verbinden.Bild: screenshot watson / googlemaps

Türkei meldet erste Raketenbeschüsse aus Syrien

Aksoy geht von einer weiteren Eskalation der Lage aus, denn die Syrian-Democratic-Forces-Allianz (SDF), die neben der kurdischen YPG aus christlich-assyrischen und muslimisch-arabischen Kräften besteht, habe bereits angekündigt, die Luftangriffe nicht unbeantwortet zu lassen. Die Türkei meldet bereits erste Raketenbeschüsse aus Syrien.

Erdoğan hält es laut Medienberichten für möglich, Bodentruppen zu schicken. "Ob das von den USA, Russland und Iran geduldet wird, ist es eine andere Frage", erklärt die Expertin.

Die Türkei nannte unter anderem die nordirakischen Orte Kandil, Asus, Hakurk und die syrischen Orte Tall Rifat, Kobane, Dschasira und Al-Malikija als Ziele. Das Verteidigungsministerium in Ankara beruft sich auf das Recht zur Selbstverteidigung. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hatte in der Vergangenheit bei ähnlichen Einsätzen allerdings bezweifelt, dass diese mit dem Völkerrecht vereinbar seien.

Aksoy geht wie andere Expert:innen davon aus, dass Ankara in Nordsyrien einen Korridor errichten möchte, um türkisch besetzte Gebiete westlich und östlich der syrischen Stadt Kobane zu verbinden. Aksoy nennt drei Ziele der Türkei in Nordsyrien:

  1. Die türkischen Kurd:innen sollen von Kurd:innen in der autonomen Administration in Nord- und Ostsyrien getrennt werden.
  2. Syrische Geflüchtete in der Türkei sollen umgesiedelt werden.
  3. Die Gründung eines autonomen kurdischen Staates soll verhindert werden.

Kobane hat unter anderem für viele Kurd:innen einen starken symbolischen Charakter. Die Kurd:innen befreiten die Stadt mit internationaler Hilfe vom IS.

Die Kurden: Ein Volk ohne Staat

Der Ursprung des Kurd:innenkonflikts geht auf den Zerfall des osmanischen Reiches zurück. Wie die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in einer Publikation zusammenfasst, haben damals die Groß- und Kolonialmächte von Kurd:innen bewohnte Gebiete auf verschiedene Staaten aufgeteilt. Der Grund: Machtinteressen. Die neu gezogenen Grenzen hätten Familien getrennt und wirtschaftliche Bindungen zerschnitten.

Bis heute haben die 24 bis 27 Millionen Kurd:innen keinen eigenen Staat. Stattdessen ist das Volk auf fünf Länder verteilt: Türkei, Iran, Irak, Syrien und Armenien. Das Problem: Keines der Länder ist bemüht, die kurdische Volksgruppe einzubinden.

ARCHIV - 10.04.2016, Hamburg: Teilnehmer einer Gegendemonstration von Kurden und linken Gruppen schwenken bei einem Demonstrationsmarsch die Fahne der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. (zu dpa ...
Der rote Stern auf gelben Grund ist das Symbol der PKK. Diese Organisation ist verboten.Bild: dpa / Lukas Schulze

Die Türkei hat nach ihrer Staatengründung einen nationalistischen Kurs gefahren – kurdische Traditionen und auch die Sprachen wurden unterdrückt. So kam es bereits in den 1920er-Jahren zu Aufständen. Besonders radikal wurden diese in den 1980ern. Die neu formierte, marxistische Untergrundgruppe PKK begann nach einem Militärputsch 1980 den bewaffneten Kampf. Entführungen, Morde und Selbstmordattentate gehörten zum Repertoire der Terror-Gruppe.

Bis heute ist es laut bpb das Ziel Ankaras, die PKK – eine kurdische Untergrundgruppe – völlig vernichten zu wollen. Aber nicht nur Milizen der Untergrundgruppe werden vom türkischen Staat verfolgt – auch Repräsentant:innen der moderaten pro-kurdischen HDP haben es schwer. Diverse Abgeordnete sitzen im Gefängnis oder befinden sich im Exil.

Ähnlich erging es Kurd:innen in Syrien. Dort gerieten sie ab Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend unter Druck des erstarkenden arabischen Nationalismus. Während einer außerplanmäßigen Volkszählung verloren viele Kurd:innen 1962 ihre Staatsangehörigkeit und wurden als Ausländer:innen angesehen. Später wurden Kurd:innen, die in Grenznähe lebten, umgesiedelt, enteignet und durch arabische Siedler:innen vertrieben.

KOBANE, SYRIA - JUNE 20: (TURKEY OUT) A Kurdish People's Protection Units, or YPG's woman fighter controls her AK-47 in a camp at the outskirts of the destroyed Syrian town of Kobane, also k ...
Kurdische Kämpfer:innen der YPG in Kobane.Bild: Getty Images Europe / Ahmet Sik

Besser lief es zunächst im Irak: Dort gab es eine Allianz zwischen der Gruppe der Irakischen Freien Offiziere – die 1958 geputscht hatte – und der kurdischen Partei KDP. Gemeinsam gingen sie gegen linke Gruppierungen unter den Kurd:innen vor. Die Verbindung hielt nach der Zurückdrängung der Kommunisten allerdings nicht lange an. Im Iran unterstützten die Kurd:innen 1979 die arabische Revolution – sie dachten, dass sie davon profitieren würden. Anders als besprochen brach Machthaber Ayatollah Khomeini allerdings seine Versprechungen, als seine Herrschaft verankert war.

Bis heute gibt es in keinem der Länder eine Lösung des Konfliktes. Das zeigen auch die neuen Angriffe des Iran und der Türkei.

(Mit Material von dpa)

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