Gerade noch mal abgewendet: Das Mittebündnis des französischen Präsidenten Emmanuel Macron (Ensemble) ist einer Niederlage bei den Wahlen der Nationalversammlung am Sonntag ganz knapp entkommen. Mit landesweit nur etwa 20.000 Stimmen Vorsprung landete Macrons Lager laut vorläufigem Endergebnis auf Rang eins vor dem neuen, aus Linken, Kommunisten, Grünen und Sozialisten geschmiedeten Bündnis (Nupes) um Jean-Luc Mélenchon.
Dabei war das Ergebnis so knapp, dass die jetzige Regierung tatsächlich zittern muss: Macrons Bündnis kam auf 25,75 Prozent, das um Mélonchon auf 25,66.
Was bedeutet dieses Ergebnis für Deutschlands westlichen Nachbarn? Watson hat drei Lehren aus der Parlamentswahl in Frankreich zusammengefasst:
Jean-Luc Mélonchon ist glücklich, Macron gar nicht auf den Bildschirmen: Für den Linkspopulisten und EU-Gegner Mélonchon ist allein die Tatsache, mit dem Bündnis des Präsidenten in etwa gleichauf zu liegen, ein mächtiger Erfolg. Für Macron ist dieses Ergebnis ein Desaster.
Im Vergleich zur Wahl vor fünf Jahren verliert Macrons Parteienallianz sieben Prozentpunkte.
Macron steht für eine liberale Politik. Vor wenigen Monaten setzte er ein seit Jahrzehnten umstrittenes Gesetz durch, das Unternehmen mehr Freiheiten ermöglicht: Arbeitszeiten können sie flexibler gestalten und Kündigungen leichter aussprechen. Zusätzlich dazu beschränkt das Gesetz den gewerkschaftlichen Einfluss in den Betrieben.
Zudem will er das Rentenalter von 62 auf 65 Jahre anheben. Diese Reform wollte Macron ursprünglich nach seiner Wiederwahl angehen. Doch nun soll sie erst 2023 angegangen werden. Die linke Nupes-Allianz fordert ein Absenken des Rentenalters auf 60 Jahre
Doch offenbar ist es nicht bloß Macrons Politik, die den Präsidenten im Land so unbeliebt macht – sogar unbeliebter als ehemalige Präsidenten wie Francois Hollande oder Nicolas Sarkozy. Macron trägt in Frankreich den Spitznamen Jupiter: Er gilt als arrogant und abgehoben, als ein Präsident, der von oben auf die Menschen blickt und sozusagen auf das Volk herab regiert.
Dass der regelrechte Hass auf den Liberalen nicht zwingend auf seiner Politik fußt, erklärte auch Historiker Pierre Rosanvallon im Sender France Inter: Macrons Charakter sei es, der die Menschen wütend mache. "Er stellt etwas dar, das tiefe Ablehnung verursacht. Ihm haftet ein Bild von Distanz und Verachtung an", so Rosanvallon.
Sowohl die Gegner aus dem rechten Lager (Rassemblement National und die Republikaner) als auch aus dem neuen Linksbündnis, das teilweise ebenfalls populistisch agiert, nutzten diesen Hass auf Macron für sich.
Auch, wenn das Bündnis um Macron heftige Verluste einstecken musste: Einen Sieg wird das Lager mit großer Wahrscheinlichkeit trotzdem erringen. Nächsten Sonntag geht es in die zweite Runde.
Das französische Wahlrecht ist etwas komplizierter als das deutsche: Von den 577 zu vergebenden Mandaten wurden in der ersten Runde nur 2 direkt entschieden. Um den Rest wird am kommenden Sonntag im zweiten Wahlgang gestritten. Dort stehen sich aus jedem Stimmbezirk mindestens die beiden Erstplatzierten und all diejenigen gegenüber, die mehr als 12,5 Prozent der Stimmen aller eingeschriebenen Wählerinnen und Wähler erhalten haben.
Und Macron dürfte hier zumindest mit einer relativen Mehrheit rechnen. Dem Linksbündnis werden in Prognosen 150 bis 210 Sitze vorausgesagt, Macrons Bündnis 255 bis 310, was für eine absolute Mehrheit reichen könnte. Doch hier gehen die Prognosen unterschiedlicher Expertinnen und Experten auseinander: Andere erwarten, dass Macrons Abgeordnete nicht mehr allein auf mindestens 289 Sitze im französischen Unterhaus kommen. Und das würde eben nur eine relative Mehrheit bedeuten.
Erwartbar ist, dass auch einige weitergekommene Kandidaten ihre Kandidatur nun zurückziehen werden, um wahlweise einen Sieg eines linken oder rechten Politikers zu verhindern. Macrons Lager dürfte als politisch mittige Kraft stärker von Stimmenwanderung profitieren können als das Linksbündnis.
Klar ist allerdings: Den Linken werden keine Chancen mehr ausgemalt, eine Mehrheit in der Nationalversammlung zu bekommen. Das heißt aber nicht, dass es Macrons Abgeordneten damit leichter gemacht wird: Man rechnet damit, dass die Linken die stärkste Opposition werden. Und das bedeutet wiederum, Gesetze durchzusetzen, wird dem Ensemble zunehmend schwerer gemacht.
Nicht nur, dass große Teile der französischen Bevölkerung unzufrieden sind mit der Politik im Allgemeinen: Die Wahlen in Frankreich zeigen erneut auf, wie dreigeteilt das Land ist. Von der Mitte ausgehend spaltet sich das Land immer weiter in die Extreme. Sowohl nach rechts als auch nach links.
Dramatisch an dieser politischen Situation ist, dass sich ebendiese Lage alle gegenseitig ausschließen: bündnisfähig ist keine dieser politischen Richtungen mit einer der anderen.
Die Bruchlinie innerhalb der französischen Wählerinnen und Wählern mündet heute in eine Art Klassenkampf. Und dieser Kampf wird ausgefochten zwischen dem liberalen Proeuropäer Macron und den Populistinnen und Populisten: Da wäre das rechte "Rassemblement National" um die Prädientschaftskandidatin Marine Le Pen, die ebenfalls rechte "Reconquête" um Eric Zemmours und Jean-Luc Mélenchons "Insoumis" auf der linken Seite.
Macrons moderate Mitte gegen die radikalen Ränder.
Und Analysen aus den Wahlen vor zwei Monaten zeigen auch: Wer Geld hat, wählte Macron. Der Präsident hat seine Wählerinnen und Wähler in den Städten und bei höheren Angestellten.
Der Rest wählt die Ränder. Diese haben ihre Bastionen eher in industriell geprägten Regionen und auf dem Land. Die Rechte kommt vor allem bei der Arbeiterklasse, im niederen Beamtentum und bei Arbeitslosen an. Junge Menschen, Zugezogene und ebenfalls die Klasse der Arbeitenden wählen eher Links.
Macrons Bündnis – allen voran seine Premierministerin Élisabeth Borne – muss nun auf dieses Ergebnis reagieren. Bereits am Sonntagabend meldete sich Borne tonangebend zu Wort: Man versucht, den Wind zu drehen. Und zwar mithilfe eines Wahlkampfes der Angst gegen Mélenchons Leute.
Frankreich dürfe nicht "das Risiko von Instabilität und Schlamperei" eingehen, sagte sie. Sie warnte vor einem Bruch mit Europa und einer Faszination für autoritäre Regime. Auch ein Schulterschluss mit Russland sei eine große Gefahr. Dabei zielte Borne vor allem auf Mélenchons linksnationalistischen und russlandfreundlichen Kurs ab.
Mit Material von AFP