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Corona: Die Impfpflicht ab 18 Jahren ist gescheitert – so geht es jetzt weiter

06.04.2022, Berlin: Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister f
Karl Lauterbach ist mit seinem Vorstoß zur Impfpflicht ab18 Jahren gescheitert.Bild: dpa / Bernd von Jutrczenka
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Die Impfpflicht ab 18 Jahren ist gescheitert – so geht es jetzt weiter

07.04.2022, 08:5207.04.2022, 10:34
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Kanzler Olaf Scholz hat für sie geworben. Gesundheitsminister Karl Lauterbach auch. Die Impfpflicht ab 18 Jahren. Sie war einer der Gruppenanträge, die es in diesem Themenkomplex gegeben hat – und sie ist gescheitert.

Die Arbeitsgruppe hat ihren Entwurf zurückgezogen. Und zwar, weil absehbar war, dass der Vorschlag für eine allgemeine Impfpflicht für alle Erwachsenen bei der Abstimmung im Bundestag keine Mehrheit erreichen wird.

Am Donnerstag um 9 Uhr soll im Bundestag nun nach monatelangem Ringen die Entscheidung über die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht fallen.

Drei Gesetzentwürfe und zwei weitere Anträge zur Impfpflicht hat es insgesamt gegeben. Erarbeitet wurden die meisten von ihnen von fraktionsübergreifenden Gruppen. Nur die CDU/CSU-Fraktion hat einen eigenen Gesetzentwurf erarbeitet, die Fraktion der AfD einen Antrag.

Über diese Gesetzentwürfe wurde bisher debattiert:

  • Eine Impfpflicht ab 18 Jahren
  • Pflichtberatung und Impfpflicht ab 50 Jahren
  • Impfpflicht auf Raten (CDU/CSU-Fraktion)

Die Idee war es, auf diese Weise Gesetzesvorschläge zu erarbeiten, die mehrheitsfähig sind. Denn bei der Abstimmung sind die Abgeordneten nur ihrem Gewissen verpflichtet. Bei diesem medizinethisch heiklen Thema gibt es keinen Fraktionszwang.

Aufgegangen ist diese Taktik nicht: Bei der zweiten Debatte kam die Sorge auf, dass sich keine Mehrheiten finden würden.

Und sie hat sich bewahrheitet.

Dagmar Schmidt (SPD), Abgeordnete, spricht nach der Vorstandssitzung über das Konzept einer Kindergrundsicherung.
SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt.Bild: dpa-Zentralbild / Britta Pedersen

Schon nach der zweiten Debatte zur Impfpflicht, die am 17. März im Bundestag geführt wurde, hatte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Dagmar Schmidt, gegenüber watson gesagt:

"Die Debatte heute hat gezeigt: Es gibt eine Mehrheit für eine Impfpflicht. Jetzt geht es in den parlamentarischen Verfahren darum, eine gemeinsame Ausgestaltung zu finden."

Um eben eine solche gemeinsame Ausgestaltung zu schaffen, haben Politikerinnen und Politiker der Ampel-Koalition nun einen Kompromissentwurf vorgelegt. Die beiden Gruppen, bestehend aus FDP-, Grünen- und SPD-Parlamentariern, die vorher für die Impfpflicht ab 18 Jahren beziehungsweise ab 50 Jahren geworben hatten, haben sich für diesen Vorschlag zusammengetan.

Kompromissvorschlag: Impfpflicht ab 60 Jahren

Konkret geht es in dem Kompromiss-Gesetzentwurf um eine Impfpflicht für alle Menschen ab 60 Jahren. Menschen dieser Gruppe müssten bis Mitte Oktober dreifach geimpft sein. Andernfalls drohten ihnen Strafen. Der Kompromiss sieht auch vor, dass alle ungeimpften Erwachsenen im Sommer zu einer obligatorischen Beratung erscheinen müssten.

Sollte sich die pandemische Lage extrem entspannen oder neue Erkenntnisse und Virusvarianten es zulassen, soll der Bundestag die Pflicht auch wieder aussetzen können. Andersherum sei es auch möglich, die Pflicht ab September auf Personen ab 18 Jahren auszuweiten.

Der SPD-Politiker und Verfechter der Impfpflicht ab 18 Jahren, Dirk Wiese, sagt mit Blick auf den Kompromissvorschlag gegenüber watson:

"Mit dem Vorschlag übernehmen die verschiedenen Antragssteller Verantwortung, damit uns im Herbst nicht erneut freiheitsbeschränkende Maßnahmen drohen. Ich bin dankbar, dass wir uns mit den Kollegen aus der Ullmann-Gruppe einigen konnten. Es haben immer wieder Gespräche stattgefunden, aus denen sich schließlich diese Schnittmenge gebildet hat."

Dass der Kompromiss nun eine Impfpflicht ab 60 Jahren sei, könne zwar auf den ersten Blick irritierend wirken – tatsächlich werde aber nach der Sommerpause evaluiert, ob noch einmal nachgeschärft werden müsse. Und die Gruppe der Über-60-Jährigen sei besonders vulnerabel. Würde die Impflücke hier geschlossen, könne allein das eine erneute Belastung des Gesundheitssystems vermeiden.

Auch die sächsische Grünen-Politikerin Paula Piechotta, die selbst Verfechterin des Gruppenentwurfs der Ullmann-Gruppe für die Impfpflicht ab 50 Jahren war, äußert sich gegenüber watson optimistisch zum neuen Vorschlag:

"Es ist ein guter Kompromiss, denn wir stellen mit den Beratungsgesprächen die Überzeugung der Menschen in den Mittelpunkt und stellen sicher, dass Impfpflichten, auch für einzelne Altersgruppen, nur dann kommen, wenn anders die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens und ein erneuter Shutdown im Herbst nicht verhindert werden können."
Aktuell,26.01.2022 Berlin, Dr. med. Paula Piechotta von der Partei Buendnis 90/Die Gruenen im Portrait bei ihrer Rede zum Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte zur SARS-CoV-2-Impfpflicht bei der 13.  ...
Grünen-Politikerin Paula Piechotta.Bild: Flashpic / Jens Krick

Piechotta warb bereits in der ersten Debatte zur möglichen Impfpflicht dafür, auf die unterschiedlichen Sichtweisen und Perspektiven der Abgeordneten einzugehen. Sie selbst hatte sich gegen die Impfpflicht ab 18 Jahren ausgesprochen, weil sie Sorge hatte, dass diese ihr Bundesland Sachsen weiter spalten könnte. Piechotta antwortete ihrer Parteikollegin Kirsten Kappert-Gonther damals im Plenum: "Als Mensch, der in Sachsen wohnt, reicht der Glaube, dass die Impfpflicht nicht zur Spaltung führt, für mich nicht aus."

Mit Blick auf die Abstimmung am Donnerstag bekräftigt Piechotta, dass die Abgeordneten ihrem Gewissen verpflichtet seien. Sie selbst werde für den Kompromiss stimmen.

Piechotta begründet ihre Entscheidung gegenüber watson so:

"Weil ich finde, dass wir im dritten Pandemie-Jahr nicht noch einmal unvorbereitet in den Herbst gehen können. Das sind wir auch meinen vielen Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitswesen schuldig, die jetzt zwei maximal belastende Corona-Jahre in den Praxen und Kliniken hinter sich haben."

Union bleibt bei Vorschlag der Stufen-Impfpflicht

Weniger begeistert von diesem Kompromiss-Vorschlag zeigen sich Politikerinnen und Politiker der Unions-Fraktion. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz nennt den Vorschlag einen "verkorksten Kompromiss", den die Ampel machen müsse, weil es sonst nicht zur Einigung komme.

Ähnlich hart ist die Kritik der CSU-Politikerin Andrea Lindholz. Gegenüber watson sagt sie:

"Der Ampel-Kompromiss ist das windelweiche Ergebnis einer Nacht-und-Nebel-Aktion und wirkt wenig überzeugend. Die Ampel hat in letzter Minute aus Angst vor einer Blamage für den Kanzler einen Scheinkompromiss zusammengezimmert."

Dieser Kompromiss würde dem Thema nicht gerecht. Lindholz selbst werde für den Antrag der Unions-Fraktion stimmen. "Die Union hat mit ihrem Dreiklang aus Impfregister, verstärkter Impfkampagne und dem Impfmechanismus als letztem Mittel den besten Ausgleich zwischen Vorsorge, Vorsicht und Eigenverantwortung vorgelegt", meint die Parlamentarierin.

Andrea Lindholz (CSU), Mitglied des Deutschen Bundestages, spricht bei der Sitzung des Bundestags zu den Abgeordneten.
CSU-Politikerin Andrea Lindholz.Bild: dpa / Christophe Gateau

Konkret bedeutet der Impfmechanismus: Wenn sich die Pandemielage verschärft, können Bundestag und Bundesrat eine Impfpflicht für besonders gefährdete Bevölkerungs- und Berufsgruppen scharf stellen.

Den Vorschlag eines Impfregisters haben auch die Politiker der Ampel in den Ü60-Impfpflicht-Kompromiss aufgenommen. Auch in der Hoffnung, so Abgeordnete der Union von dem Kompromiss-Vorschlag überzeugen zu können.

Lindholz stellt klar, dass die Union weiterhin gesprächsbereit bleibe. Bisher überzeuge sie allerdings kein anderer Entwurf.

Anträge gegen die Impfpflicht

Dass es am Ende tatsächlich zur Einführung einer Impfpflicht kommt, ist allerdings alles andere als sicher. Politiker um den FDP-Abgeordneten Wolfgang Kubicki haben einen Antrag erarbeitet, der sich gegen eine Impfpflicht ausspricht. Wie Kubickis Büro der dpa mitteilte, sollen sich rund 50 Abgeordnete angeschlossen haben. Darunter mit Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht auch Prominente der Linksfraktion.

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FDP-Politikerin Christine Aschenberg-Dugnus.Bild: dpa / Annette Riedl

Der Antrag der Gruppe um Kubicki wurde bereits Anfang Januar öffentlich. Die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, die auch zu den Unterzeichnerinnen gehört, erklärte damals auf watson-Nachfrage, dass sie Zweifel an der Durchführbarkeit einer Impfpflicht habe. Sie selbst sei von Beginn an klare Impfbefürworterin gewesen und mache auch Werbung für die Impfung. "Impfen ist das wichtigste Mittel im Kampf gegen diese Pandemie", sagte Aschenberg-Dugnus. Nur von einer Verpflichtung wolle sie absehen.

Auch die AfD-Fraktion ist gegen den obligatorischen Piks und hat dafür einen eigenen Antrag erarbeitet. Diese wäre "verfassungsrechtlich nicht zulässig".

Eine einfache Mehrheit reicht

Bei der Abstimmung reicht eine einfache Mehrheit: Das bedeutet, es würde reichen, wenn von den anwesenden Abgeordneten mehr mit Ja als mit Nein stimmten. Und das kann knifflig werden. Wie die dpa berechnet hat, fasst die Gruppe derer, die den Ampel-Kompromiss erarbeitet haben, 282 Abgeordnete.

Gegenüber stünden die Unionsfraktion mit 197 Abgeordneten, die AfD-Fraktion mit 80 Abgeordneten und die Gruppe um FDP-Mann Kubicki mit circa 50 Abgeordneten.

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FDP-Politiker Wolfgang Kubicki.Bild: imago images / Political-Moments

Bei der Impfpflicht kommt es am Ende also darauf an, ob sich einzelne Abgeordnete doch noch überzeugen lassen und wie viele überhaupt anwesend sind.

Was außerdem ausschlaggebend sein könnte: Die Reihenfolge, in der über die einzelnen Anträge abgestimmt wird. Denn es ist zumindest denkbar, dass Politikerinnen und Politiker, die prinzipiell eine Impfpflicht befürworten, auf die nächstmögliche Alternative ausweichen, um zu verhindern, dass es keinerlei Regelung gibt.

Bekäme der Vorschlag der Union beispielsweise keine Mehrheit, könnten Abgeordnete beim Kompromissvorschlag der Ampel-Gruppen zustimmen oder andersherum.

Sollte es zu einem Gesetzentwurf mit Mehrheit kommen, muss im nächsten Schritt der Bundesrat, also die Vertreterinnen der Länder, abstimmen. Erst dann kann ein mögliches Gesetz verabschiedet werden.

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