Vor viereinhalb Jahren lag die SPD zum (bis vor wenigen Tagen) letzten Mal in bundesweiten Umfragen an erster Stelle: Ende Februar, Anfang März 2017 waren die Sozialdemokraten in kurzer Zeit auf Werte über 30 Prozent geschossen, in einem Teil der Befragungen vorbei an der Union. Martin Schulz, damals Kanzlerkandidat der Partei, schien auf dem Weg, Bundeskanzlerin Angela Merkel abzulösen. SPD-Anhänger auf Twitter, Reddit und Facebook verbreiteten Memes über den "Gottkanzler Schulz". Und über den "Schulzzug", der mit voller Kraft voraus auf dem Weg ins Kanzleramt sei.
Pustekuchen. Der Schulzug blieb schnell stecken, die SPD stürzte wieder ab in den Umfragen. Im September 2017 prallte sie hart auf, mit ihrem bisher schlechtesten Wahlergebnis seit Gründung der Bundesrepublik: 20,5 Prozent.
Danach ging die Partei auf Sinkflug in den bundesweiten Umfragen, stürzte im Sommer 2019 bis auf 12 Prozent ab und kam seither kaum mehr über 15 Prozent hinaus. Die SPD galt vielen auf dem Weg zur Kleinpartei. Im Frühjahr 2021 schien klar: Ums Kanzleramt werden Union und Grüne kämpfen.
Jetzt, im Spätsommer, geht es bergauf für die Sozialdemokraten. Einen Monat vor der Bundestagswahl legt die Partei in den Umfragen zu: in allen Befragungen, die in der vergangenen Woche veröffentlicht wurden, liegt sie deutlich über 20 Prozent. Einen Tag vor dem TV-Triell bei RTL liegt die SPD laut einer Umfrage der "BamS" sogar bei 24 Prozent und damit drei Punkte vor der CDU.
Und auch bei der direkten Frage, wen die Menschen in Deutschland zum Kanzler wählen würden, liegt Scholz selbst weit vorne: Für Kanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) würden bei einer Direktwahl diese Woche laut "Sonntagstrend" nur noch 10 Prozent stimmen (-2). Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock gewinnt einen Punkt und käme auf 14 Prozent. An der Spitze wäre weiter Scholz mit 31 Prozent – trotz einem Minus von drei Prozentpunkten für den SPD-Kandidaten.
Die SPD könnte also erstmals seit fast 20 Jahren eine Bundestagswahl gewinnen. Vor ein paar Monaten noch hätten sie laut gelacht in den Parteizentralen von CDU, CSU und Grünen, wenn jemand mit ernsthafter Stimme diesen Satz gesagt hätte. Heute lacht dort niemand.
Wie hat die SPD das nur geschafft?
Es gibt drei gute Gründe dafür.
Olaf Scholz ist bisher der stärkste Kandidat
Was war das für ein Spektakel im April! Wochenlang hatten die Grünen still gehalten, nichts nach außen dringen lassen darüber, wer am Ende ins Rennen gehen würde. Die Bekanntgabe der Kanzlerkandidatur war eine sorgfältig geplante Show, übertragen per Livestream. Robert Habeck überließ Annalena Baerbock die Bühne und die Spitzenposition im Rennen ums Kanzleramt. Wer damals mit Vertretern der Grünen sprach, hörte entspannte Stimmen und blickte in strahlende Gesichter. Annalena Baerbock schien die perfekte Kandidatin für den grünen Aufbruch zu sein, die Umfragewerte der Grünen gingen ein paar Tage lang steil nach oben.
Da war die grüne Welt noch in Ordnung: Annalena Baerbock und Robert Habeck im April, bei Baerbocks Vorstellung als Kanzlerkandidatin. Bild: dpa / Kay Nietfeld
Dann machte die grüne Kanzlerkandidatin Fehler, einen nach dem anderen: schlampige Zitate in Baerbocks Buch, das ihren Wahlkampf begleiten sollte. Sonderzahlungen für die Tätigkeit als Parteichefin, die sie dem Bundestag zu spät meldete. Ein geschönter Lebenslauf, den ihr die politische Konkurrenz, vor allem CDU und CSU, um die Ohren haute.
Armin Laschet, der Kanzlerkandidat von CDU und CSU, machte es allerdings noch schlechter. Sein Wahlkampf ist bisher, kurz gesagt: ein Desaster. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident lachte im Juli, bei einem Besuch im Flutkatastrophen-Gebiet, vor laufenden Kameras. Er hielt, ebenfalls im Hochwassergebiet, eine Pressekonferenz vor einem Schrotthaufen ab. Er schaffte es in einem Interview mit "Focus Online" nicht einmal, drei Schwerpunkte des eigenen Wahlprogramms zu nennen.
Scholz, der amtierende Bundesfinanzminister, hat dagegen noch keine groben Fehler gemacht. Nach der Hochwasserkatastrophe inszenierte er sich als seriöser Kümmerer. Er reiste an der Seite von Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) in den hart getroffenen Landkreis Berchtesgaden und sagte schnörkellose Sätze wie diesen: "Wir müssen jetzt als Land zusammenstehen und den Flut-Opfern schnell, großzügig und unbürokratisch helfen."
Anfang der 2000er Jahre, Scholz war damals SPD-Generalsekretär, nannten Journalisten ihn "Scholzomat", wegen seines trockenen, emotionslosen Stils. Heute hilft Scholz das Image des seriösen, unaufgeregten Machers – das er immerhin gelernt hat, mit regelmäßigem Grinsen und gut dosiertem, trockenen Humor aufzupeppen.
Der Mix scheint Woche für Woche besser zu wirken. Scholz' Beliebtheitswerte sind inzwischen um Längen besser als die Laschets und Baerbocks.Laut dem ZDF-Politbarometer vom Freitag hätten 44 Prozent der Befragten Scholz am liebsten als Kanzler – Laschet dagegen nur 21 und Baerbock 16 Prozent der Wähler. Und auch bei den jüngsten Wählern im Alter bis 29 ist Scholz laut einer Umfrage der Marktforschungsfirma Civey inzwischen beliebter als Baerbock.
Der SPD-Wahlkampf ist verdammt gut gemacht
Dass diese Scholz-Inszenierung – zumindest bis jetzt – geklappt hat, hat auch viel mit der Kampagne der Sozialdemokraten zu tun. Die Agentur des erfahrenen Sportmarketing-Profis Raphael Brinkert gestaltet den Wahlkampf der Sozialdemokraten. Und sie macht das verdammt gut.
Eine Bildsprache, die hervorsticht: SPD-Wahlplakat in Berlin. Bild: Getty Images Europe / Maja Hitij
Es gibt mehrere Elemente der SPD-Kampagne, die hervorstechen:
Die Wahlplakate mit Olaf Scholz in Schwarz-Weiß-Optik auf rotem Grund, die sich deutlich abheben von den eher konventionellen Motiven von Union und Grünen
Die Wahlkampfslogans "Soziale Politik für Dich" und "Scholz Packt das an", die die Parteibuchstaben S-P-D neu interpretieren.
Die Wahlwerbespots, in denen die Person Scholz in einer Bildsprache wie aus den besten Netflix-Serien präsentiert wird. In den Videos sind Wahlversprechen wie die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro und 100.000 neue Sozialwohnungen verpackt – und werden geschickt mit dem Kandidaten Scholz verknüpft.
Die Brücken, die die SPD immer wieder Wählern baut, die Angela Merkel vermissen werden und mit Unionskandidat Laschet fremdeln. Zu Beginn des SPD-Kanzlerspots ist Helmut Schmidt zu hören und zu sehen. Der Sozialdemokrat war Bundeskanzler von 1974 bis 1982 – und danach, bis zu seinem Tod 2015, der beliebteste Altkanzler, den gerade viele Nicht-SPD-Wähler schätzten. In einer Zeitungsanzeige wirbt die SPD für Scholz mit dem Satz "Er kann Kanzlerin": ein klarer Bezug auf Merkel, den die SPD-Wahlkampagne mit dem Versprechen verbindet, das nächste Bundeskabinett zur Hälfte mit Frauen zu besetzen und für gerechte Löhne zu kämpfen.
Die SPD tritt bemerkenswert professionell auf
Vor etwas mehr als zwei Jahren schien die SPD am Tiefpunkt angekommen. Ende Mai 2019 trat Andrea Nahles, damals Parteichefin der Sozialdemokraten, zurück und legte wenig später ihr Bundestagsmandat nieder. Zuvor waren immer mehr Details über den hässlichen Machtkampf gegen Nahles in der SPD-Bundestagsfraktion öffentlich geworden, ein Hinterbänkler aus Bayern sagte in einem Interview sogar, dass man sich schämen müsse für Nahles. Nach Nahles' Rücktritt war in Meien von "Mobbing" die Rede. Kevin Kühnert, damals Bundeschef der SPD-Jugendorganisation Jusos, meinte, man dürfe "nie, nie, nie wieder" so miteinander umgehen.
Ein halbes Jahr später, im Dezember 2019, wählten die SPD-Mitglieder in einer Stichwahl Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu den neuen Parteivorsitzenden – gegen Olaf Scholz und dessen Co-Kandidatin Klara Geywitz. Wenige trauten der überschwänglich wirkenden Linken Esken und dem spröde daherkommenden Walter-Borjans zu, die Sozialdemokraten aus der Misere zu führen. Doch im Sommer 2021 bleibt festzustellen: Sie haben vieles besser gemacht als ihre Vorgänger an der SPD-Spitze.
Geräuschlos haben Esken, Walter-Borjans und der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil daran gearbeitet, Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten zu machen – und ihn dann, im August 2020 und damit mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl, der ziemlich verblüfften Öffentlichkeit zu präsentiert. "Die SPD hat aus ihrem größten Fehler gelernt" stand damals über dem watson-Kommentar zu Scholz' Vorstellung.
August 2020: Die SPD-Chefs Norbert Walter-Borjans (links) und Saskia Esken stellen Kanzlerkandidat Olaf Scholz vor. bild: imago images / snapshot
Die Partei hatte dadurch einen erheblichen Vorsprung vor Grünen und Union. Die Sozialdemokraten konnten in aller Ruhe ihre Kampagne vorbereiten. Sie stellten schon im März 2021 den Entwurf zu ihrem Wahlprogramm vor – während Grüne und Union noch nicht geklärt hatten, wer überhaupt ihr Spitzenkandidat werden sollte. Und, was für die chronisch streitlustige SPD besonders bemerkenswert war: alle Parteiflügel, vom konservativen "Seeheimer Kreis" bis zu den linken Jusos, stellten sich brav hinter Scholz und lobten ihn als idealen Kanzlerkandidaten.
Lange schien es, als würden der Partei ihre gute Organisation und die ungewohnte Harmonie wenig bringe: Die Umfragewerte blieben im historisch schlechten Bereich rund um 15 Prozent.
Dann, Ende Juli 2021, ging es bergauf.
Der Scholzzug ist 2021 viel später losgefahren als 2017 der Schulzzug. Aber er nimmt beeindruckend schnell an Fahrt auf.
Es kann noch schiefgehen für die SPD
Trotz der drei genannten Erfolgsfaktoren: Dass die SPD Ende August von den drei größten Parteien am besten dasteht, bedeutet noch längst nicht, dass sie die Wahl gewinnen wird. Union, SPD und Grüne liegen in den Umfragen nur wenige Prozentpunkte voneinander entfernt, alle drei Parteien rund um die 20-Prozent-Marke.
Klar, die ersten Menschen haben ihre Briefwahlunterlagen schon erhalten. Mitten im Höhenflug der SPD machen jetzt schon Wähler ihr Kreuz auf dem Wahlzettel. Aber vor Olaf Scholz und den Sozialdemokraten liegen noch ein paar Stolpersteine. Der Kanzlerkandidat muss sich in den drei TV-Triellen bei RTL (Sonntag, 29.8.), ARD/ZDF (Sonntag, 12.9.) und ProSieben/Sat.1 (Sonntag, 19.9.) gegen seine Konkurrenten Laschet und Baerbock beweisen. Und es stehen mehrere TV-Wahlarenen an.
Und Grüne und vor allem die Unionsparteien werden in den letzten Wochen des Wahlkampfs jede Chance nutzen, dem Image des bisher mit Abstand beliebtesten Kanzlerkandidaten Kratzer zu verpassen.
Und sie müssen jetzt darauf hoffen, dass die SPD Fehler macht. Wer hätte das gedacht.
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