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Chaos oder gute Strategie? Welcher Plan hinter der deutschen Corona-Politik steckt

17.12.2021, Niedersachsen, Hannover: Karl Lauterbach (SPD), Bundesminister f
Der Bundesgesundheitsminister und approbierte Arzt Karl Lauterbach nach einer von ihm durchgeführten Impfung in Hannover. Bild: dpa / Moritz Frankenberg
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Chaos oder gute Strategie? Welcher Plan hinter der deutschen Corona-Politik steckt

31.01.2022, 19:2831.01.2022, 19:34
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Wie sieht der Corona-Plan der Regierenden jetzt eigentlich aus?

Wer momentan die Nachrichten zur Pandemie verfolgt, kann leicht den Eindruck bekommen, dass einiges nicht zusammenpasst:

  • Tag für Tag stecken sich in Deutschland gerade so viele Menschen mit dem Coronavirus an wie nie zuvor seit dem Ausbruch der Seuche – andererseits können dreifach Geimpfte fast uneingeschränkt ins Restaurant, in die Sauna oder ins Kino gehen, während vor genau einem Jahr bei deutlich niedrigeren Infektionszahlen alle Freizeiteinrichtungen geschlossen waren.
  • Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), bittet unablässig die Menschen im Land, ihre Kontakte möglichst zu reduzieren – andererseits fordert der bayerische Ministerpräsident Markus Söder schon jetzt, ab Mitte Februar die Corona-Regeln zu lockern.
  • In den Schulen in Deutschland häufen sich die Infektionen – aber flächendeckender digitaler Distanzunterricht wie im vergangenen Schuljahr wird kaum mehr diskutiert.

Ist das Chaos – oder steckt hinter diesen auf den ersten Blick widersprüchlichen Entscheidungen eine politische Strategie? watson ordnet die Lage ein.

Die Inzidenz ist nicht mehr so wichtig

Seit zwei Jahren bekommt ein Wert die größte Aufmerksamkeit: die Sieben-Tage-Inzidenz. Sie besagt, wie viele Infektionen mit dem Coronavirus pro Woche je 100.000 Einwohner festgestellt werden. Der Wert erreicht momentan, wie erwähnt, immer neue Rekordhöhen, er liegt inzwischen bundesweit über 1.200, in Bremen, Hamburg und Berlin über 2.000. Zwei von 100 Einwohnern stecken sich dort Woche für Woche mit Sars-CoV-2 an, die nicht festgestellten Infektionen sind dabei noch nicht eingerechnet.

Ende Januar 2021, als Deutschland im Dauer-Lockdown steckte, lag die Inzidenz bei 96, nicht einmal bei einem Zehntel.

Aber auf die Inzidenz kommt es kaum mehr an.

Politikerinnen aus Landes- und Bundesregierungen sagen das inzwischen regelmäßig, auch RKI-Chef Wieler hat es vergangenen Freitag in der Bundespressekonferenz wiederholt. Die geringere Bedeutung der Inzidenz liegt zum einen an der Omikron-Variante des Virus, die inzwischen dominiert – und zum anderen an der immer höheren Anzahl an dreifach geimpften Menschen in der Bevölkerung.

28.01.2022, Berlin: In einer Pressekonferenz des Robert Koch-Instituts geben Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister, und Lothar Wieler (l), Pr�sident des Robert Koch-Instituts, im Haus der B ...
RKI-Chef Lothar Wieler, hier in der Bundespressekonferenz neben Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Bild: dpa / Wolfgang Kumm

Dadurch erkranken deutlich weniger Menschen als noch vor wenigen Wochen schwer. Und die Zahl der Todesfälle ist erheblich niedriger als vor einem Jahr: Im Januar 2021 starben Tag für Tag durchschnittlich 650 bis über 800 Menschen an Covid-19. Im Januar 2022 sind es zwischen 140 und 250.

"Die Summe der Fallzahlen", sagte Wieler am Freitag, sei nicht mehr das Entscheidende. Er ergänzte: "Wir müssen jetzt auf die Krankheitslast und die Krankheitsschwere schauen." Das Ziel bleibe, die Arbeitsfähigkeit der Kliniken aufrechtzuerhalten.

In der jetzigen Pandemiephase könne eine "Eindämmung" der Zahlen nur noch "auf die wichtigsten Bereiche konzentriert werden". Auch, weil die Impfung einen sehr guten Schutz gegen schwere Krankheitsverläufe biete.

Die Corona-Strategie des RKI, der zumindest im Großen und Ganzen auch die Regierenden in Bund und Ländern folgen, ist also längst nicht mehr, die Kurve der Ansteckungen mit jedem Mittel flach zu halten. Sondern vor allem möglichst gut diejenigen Menschen zu schützen, die vom Virus besonders gefährdet sind: Menschen, die sich wegen einer Immunschwäche nicht impfen lassen können. Und Ungeimpfte.

Wieler erklärte am Freitag, die Strategie des RKI habe sich nicht geändert, aber mit Blick auf die hohen Fallzahlen müsse man jetzt vor allem die Risikogruppen schützen. Besonders große Sorge machen Wieler wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) dabei vor allem die rund drei Millionen Menschen über 60, die immer noch ungeimpft sind.

Ihr Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken oder sogar daran zu sterben, ist sehr hoch. Es werde jetzt "richtig gefährlich" für sie, sagte Ende Dezember Christian Drosten, Chefvirologe der Berliner Charité.

Diese hohe Zahl älterer Ungeimpfter ist eines der Hauptargumente Lauterbachs und anderer Politiker für eine Impfpflicht, die nach ihrer Vorstellung bis zum Frühjahr von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll.

Gesundheitsminister Lauterbach richtet sein Augenmerk bei seiner Corona-Strategie nach eigenen Aussagen zusätzlich auf Long Covid – also die Spätfolgen einer Corona-Infektion, die bei einem Teil der Krankheitsverläufe noch Monate nach der Ansteckung auftreten, gerade auch bei jüngeren Menschen. Wörtlich sagte er am Freitag dazu:

"Das Ziel ist, dass wir möglichst wenig Todesfälle haben und möglichst wenige Fälle mit Long Covid. Dass möglichst wenige Menschen diese Verschlechterung ihrer Durchblutung im Gehirn bekommen, die bei einem schweren Verlauf beobachtet wird."

Auch das Long-Covid-Risiko senken Impfungen nach aktueller Studienlage massiv. Lauterbach selbst verwies auch darauf am vergangenen Freitag.

Deutsche Corona-Regeln sind strenger als in den Nachbarländern

Um die deutsche Corona-Strategie zu beurteilen, sollte man außerdem darauf blicken, wie sie im Vergleich zu der in anderen Ländern ist. Gesundheitsminister Lauterbach sagte auf eine watson-Frage in der Bundespressekonferenz am Freitag, Deutschland fahre einen "relativ konservativen Kurs".

Lauterbach wörtlich:

"Wir haben in Deutschland relativ strenge Regeln. Wir haben 2G+ in Restaurants und Cafés, die Clubs und Diskotheken sind komplett zu. Wir haben fast flächendeckend 2G in den Geschäften, relativ strenge Regeln im ÖPNV und am Arbeitsplatz. Und wir machen eine relativ offensive Boosterkampagne."

In der Tat sind die Regeln in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eher streng. In Polen etwa gibt es in öffentlichen Lokalen keine 2G- oder 3G-Regeln. In Großbritannien sind trotz Warnungen mancher Experten sämtliche Corona-Beschränkungen gefallen, in Dänemark ist es am 1. Februar so weit – allerdings bei einer erheblich höheren Impfquote als in Deutschland.

27.01.2022, Mecklenburg-Vorpommern, Greifswald: Eine Frau geht in ein Restaurant, wobei ein Hinweisschild auf die Corona-Regeln neben der T
Die 2G+-Regel gilt im größten Teil Deutschlands in der Gastronomie. Bild: dpa / Jens Büttner

Zumindest Bundesgesundheitsminister Lauterbach will den vorsichtigeren Kurs in Deutschland beibehalten. Er sagte dazu am Freitag: "Ich bleibe bei dem Kurs, den ich vorgetragen habe. Ich begrüße die Lockerungen nicht." Und: "Wenn das in Dänemark anders gemacht wird, ist das Dänemark, aber das sind nicht wir, wir sind das nicht."

Aus den Bundesländern kommen teilweise andere Signale. Wenn es keine Überlastung der Krankenhäuser gebe, müssten Freiheiten an die Bürger zurückgegeben werden, sagte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder am Sonntag in der ARD-TV-Sendung "Bericht aus Berlin".

Krisenkommunikation: Expertenrat empfiehlt Verbesserungen

Es ist nicht nur wichtig, welche Entscheidungen Regierungen und Parlamente treffen. Ähnlich wichtig ist, wie sie diese Entscheidungen kommunizieren. Und in der Kommunikation gibt es in Deutschland auch zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie viel Luft nach oben.

Zu beobachten war das zum Beispiel bei der Verkürzung des Genesenenstatus: Seit dem 15. Januar gilt ein Genesungsnachweis, der zum Eintritt in Restaurants oder Läden berechtigt, nur noch drei Monate lang – statt vorher sechs Monate lang. Eine Entscheidung des RKI, die ohne Vorwarnung erfolgt ist und viele Menschen im Land verwirrt hat.

Weil das entsprechende Gesetz dem RKI die Entscheidung über die Gültigkeitsdauer des Zertifikats überlässt, trat die Änderung schnell in Kraft, ohne, dass Politiker darüber entscheiden mussten. Dass in manchen Bereichen der Genesenennachweis dann trotzdem noch weiterhin sechs Monate lang gültig war, machte das Chaos perfekt. Dass im Bundestag auch zunächst noch die Sechs-Monate-Regel galt, konnte den Eindruck hinterlassen, die Politik lasse für sich selbst andere Regeln gelten.

Dass die Kommunikation besser werden muss, hat inzwischen auch der Expertinnen- und Expertenrat der Bundesregierung erkannt, der dem Kanzler, Ministerinnen und Ministern seit Dezember in Sachen Coronavirus zur Seite steht.

Prof. Christian Drosten, Direktor Institut fuer Virologie, Charit Berlin, PK zu - Aktuelle Corona-Lage, DEU, Berlin, Bundespressekonferenz, 14.01.2021 *** Prof Christian Drosten, Director Institute fo ...
Mitglied des Expertenrats: Virologe Christian Drosten. Bild: imago images / Jens Schicke

In einer am vergangenen Wochenende veröffentlichten Stellungnahme, die watson vorliegt, empfiehlt der Rat den Regierenden in Bund und Ländern und den Behörden unter anderem:

  • bessere Strukturen aufzubauen, um neue Studien zum Coronavirus auszuwerten
  • wissenschaftliche Daten professionell in eine Sprache zu übersetzen, die möglichst viele Menschen verstehen
  • wissenschaftliche Erkenntnisse möglichst schnell und über geeignete Kanäle zu verbreiten: von Social-Media-Kampagnen über die Versorgung von Ärzten und anderem Gesundheitspersonal mit Informationen bis hin zum Kontakt zu Journalistinnen und Journalisten

Am Ende des Papiers steht wörtlich:

"Die Corona-Pandemie ist nur eine von mehreren kollektiven und globalen Gesundheitskrisen, auf die die Gesellschaft reagieren muss. Deshalb bedarf es der Einrichtung einer nachhaltigen Infrastruktur, um die Bevölkerung evidenzbasiert, schnell und effektiv zu informieren und in ihrer Risiko- und Handlungskompetenz zu unterstützen."

Alle 18 Mitglieder des Rats, dem so unterschiedliche Experten wie die Virologen Christian Drosten und Hendrick Streeck angehören, stimmten dem Papier zu.

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