Wie sieht der Corona-Plan der Regierenden jetzt eigentlich aus?
Wer momentan die Nachrichten zur Pandemie verfolgt, kann leicht den Eindruck bekommen, dass einiges nicht zusammenpasst:
Ist das Chaos – oder steckt hinter diesen auf den ersten Blick widersprüchlichen Entscheidungen eine politische Strategie? watson ordnet die Lage ein.
Seit zwei Jahren bekommt ein Wert die größte Aufmerksamkeit: die Sieben-Tage-Inzidenz. Sie besagt, wie viele Infektionen mit dem Coronavirus pro Woche je 100.000 Einwohner festgestellt werden. Der Wert erreicht momentan, wie erwähnt, immer neue Rekordhöhen, er liegt inzwischen bundesweit über 1.200, in Bremen, Hamburg und Berlin über 2.000. Zwei von 100 Einwohnern stecken sich dort Woche für Woche mit Sars-CoV-2 an, die nicht festgestellten Infektionen sind dabei noch nicht eingerechnet.
Ende Januar 2021, als Deutschland im Dauer-Lockdown steckte, lag die Inzidenz bei 96, nicht einmal bei einem Zehntel.
Aber auf die Inzidenz kommt es kaum mehr an.
Politikerinnen aus Landes- und Bundesregierungen sagen das inzwischen regelmäßig, auch RKI-Chef Wieler hat es vergangenen Freitag in der Bundespressekonferenz wiederholt. Die geringere Bedeutung der Inzidenz liegt zum einen an der Omikron-Variante des Virus, die inzwischen dominiert – und zum anderen an der immer höheren Anzahl an dreifach geimpften Menschen in der Bevölkerung.
Dadurch erkranken deutlich weniger Menschen als noch vor wenigen Wochen schwer. Und die Zahl der Todesfälle ist erheblich niedriger als vor einem Jahr: Im Januar 2021 starben Tag für Tag durchschnittlich 650 bis über 800 Menschen an Covid-19. Im Januar 2022 sind es zwischen 140 und 250.
"Die Summe der Fallzahlen", sagte Wieler am Freitag, sei nicht mehr das Entscheidende. Er ergänzte: "Wir müssen jetzt auf die Krankheitslast und die Krankheitsschwere schauen." Das Ziel bleibe, die Arbeitsfähigkeit der Kliniken aufrechtzuerhalten.
In der jetzigen Pandemiephase könne eine "Eindämmung" der Zahlen nur noch "auf die wichtigsten Bereiche konzentriert werden". Auch, weil die Impfung einen sehr guten Schutz gegen schwere Krankheitsverläufe biete.
Die Corona-Strategie des RKI, der zumindest im Großen und Ganzen auch die Regierenden in Bund und Ländern folgen, ist also längst nicht mehr, die Kurve der Ansteckungen mit jedem Mittel flach zu halten. Sondern vor allem möglichst gut diejenigen Menschen zu schützen, die vom Virus besonders gefährdet sind: Menschen, die sich wegen einer Immunschwäche nicht impfen lassen können. Und Ungeimpfte.
Wieler erklärte am Freitag, die Strategie des RKI habe sich nicht geändert, aber mit Blick auf die hohen Fallzahlen müsse man jetzt vor allem die Risikogruppen schützen. Besonders große Sorge machen Wieler wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) dabei vor allem die rund drei Millionen Menschen über 60, die immer noch ungeimpft sind.
Ihr Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken oder sogar daran zu sterben, ist sehr hoch. Es werde jetzt "richtig gefährlich" für sie, sagte Ende Dezember Christian Drosten, Chefvirologe der Berliner Charité.
Diese hohe Zahl älterer Ungeimpfter ist eines der Hauptargumente Lauterbachs und anderer Politiker für eine Impfpflicht, die nach ihrer Vorstellung bis zum Frühjahr von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden soll.
Gesundheitsminister Lauterbach richtet sein Augenmerk bei seiner Corona-Strategie nach eigenen Aussagen zusätzlich auf Long Covid – also die Spätfolgen einer Corona-Infektion, die bei einem Teil der Krankheitsverläufe noch Monate nach der Ansteckung auftreten, gerade auch bei jüngeren Menschen. Wörtlich sagte er am Freitag dazu:
Auch das Long-Covid-Risiko senken Impfungen nach aktueller Studienlage massiv. Lauterbach selbst verwies auch darauf am vergangenen Freitag.
Um die deutsche Corona-Strategie zu beurteilen, sollte man außerdem darauf blicken, wie sie im Vergleich zu der in anderen Ländern ist. Gesundheitsminister Lauterbach sagte auf eine watson-Frage in der Bundespressekonferenz am Freitag, Deutschland fahre einen "relativ konservativen Kurs".
Lauterbach wörtlich:
In der Tat sind die Regeln in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eher streng. In Polen etwa gibt es in öffentlichen Lokalen keine 2G- oder 3G-Regeln. In Großbritannien sind trotz Warnungen mancher Experten sämtliche Corona-Beschränkungen gefallen, in Dänemark ist es am 1. Februar so weit – allerdings bei einer erheblich höheren Impfquote als in Deutschland.
Zumindest Bundesgesundheitsminister Lauterbach will den vorsichtigeren Kurs in Deutschland beibehalten. Er sagte dazu am Freitag: "Ich bleibe bei dem Kurs, den ich vorgetragen habe. Ich begrüße die Lockerungen nicht." Und: "Wenn das in Dänemark anders gemacht wird, ist das Dänemark, aber das sind nicht wir, wir sind das nicht."
Aus den Bundesländern kommen teilweise andere Signale. Wenn es keine Überlastung der Krankenhäuser gebe, müssten Freiheiten an die Bürger zurückgegeben werden, sagte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder am Sonntag in der ARD-TV-Sendung "Bericht aus Berlin".
Es ist nicht nur wichtig, welche Entscheidungen Regierungen und Parlamente treffen. Ähnlich wichtig ist, wie sie diese Entscheidungen kommunizieren. Und in der Kommunikation gibt es in Deutschland auch zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie viel Luft nach oben.
Zu beobachten war das zum Beispiel bei der Verkürzung des Genesenenstatus: Seit dem 15. Januar gilt ein Genesungsnachweis, der zum Eintritt in Restaurants oder Läden berechtigt, nur noch drei Monate lang – statt vorher sechs Monate lang. Eine Entscheidung des RKI, die ohne Vorwarnung erfolgt ist und viele Menschen im Land verwirrt hat.
Weil das entsprechende Gesetz dem RKI die Entscheidung über die Gültigkeitsdauer des Zertifikats überlässt, trat die Änderung schnell in Kraft, ohne, dass Politiker darüber entscheiden mussten. Dass in manchen Bereichen der Genesenennachweis dann trotzdem noch weiterhin sechs Monate lang gültig war, machte das Chaos perfekt. Dass im Bundestag auch zunächst noch die Sechs-Monate-Regel galt, konnte den Eindruck hinterlassen, die Politik lasse für sich selbst andere Regeln gelten.
Dass die Kommunikation besser werden muss, hat inzwischen auch der Expertinnen- und Expertenrat der Bundesregierung erkannt, der dem Kanzler, Ministerinnen und Ministern seit Dezember in Sachen Coronavirus zur Seite steht.
In einer am vergangenen Wochenende veröffentlichten Stellungnahme, die watson vorliegt, empfiehlt der Rat den Regierenden in Bund und Ländern und den Behörden unter anderem:
Am Ende des Papiers steht wörtlich:
Alle 18 Mitglieder des Rats, dem so unterschiedliche Experten wie die Virologen Christian Drosten und Hendrick Streeck angehören, stimmten dem Papier zu.