Ein Studierender trauert nach dem Amoklauf an der Uni Heidelberg, bei dem ein Mann erst eine Studentin und dann sich selbst getötet hat.Bild: dpa / Uwe Anspach
Analyse
Eine Schreckenstat an der Universität in Heidelberg erschüttert ganz Deutschland. Ein junger Mann schießt mit einer Langwaffe in einem Hörsaal um sich. Eine Studentin stirbt, der Mann tötet sich selbst. Über das Motiv rätseln Ermittlungsbehörden noch. Wie sieht die Sicherheitslage in Schulen und Universitäten aus?
26.01.2022, 11:5526.01.2022, 19:25
Eine 23 Jahre alte Frau stirbt an einem Kopfschuss. Eine 19- und eine 20-jährige Frau sowie ein 20-jähriger Mann werden durch Schüsse leicht verletzt. Das alles geschieht in einem Hörsaal im Neuenheimer Feld an der Universität Heidelberg. Ein Amoklauf. Der mutmaßliche Täter: ein 18-jähriger Biologie-Student aus Berlin – auch er ist tot.
Der junge Mann hatte am Montag in einem Heidelberger Hörsaal auf Kommilitonen geschossen. Die Polizei geht davon aus, dass sich der Schütze, der im knapp 20 Kilometer entfernten Mannheim wohnte, vor dem Gebäude selbst tötete. Die Gewehre soll er vor wenigen Tagen im Ausland gekauft haben.
Weltweit geschehen solche Taten. Morde, bei denen der Täter oder die Täterin kein bestimmtes Opfer angreifen, sondern meist in Bildungseinrichtungen wahllos Menschen töten und verletzen.
Wie vor knapp 13 Jahren an einer Realschule im baden-württembergischen Winnenden. Im März 2009 hatte dort ein ehemaliger Schüler 15 Menschen und anschließend sich selbst getötet.
Wie sieht die Sicherheitslage in Bildungseinrichtungen heute aus? Was hat sich seit 2009 verändert?
Gibt es Amok-Alarmsysteme an Universitäten?
An Schulen gibt es individuell eingerichtete Alarmsysteme und Notfallpläne. Diese Pläne werden etwa in Baden-Württemberg laut dem Stuttgarter Innen- und dem Kultusministerium an die örtlichen Gegebenheiten angepasst.
Nach dem Amoklauf von 2009 in Winnenden hat das baden-württembergische Wissenschaftsministerium, das für die Hochschulen im Land zuständig ist, ebenfalls reagiert. Laut einer Sprecherin wurde noch im Jahr der Tat eine Arbeitsgruppe mit den Hochschulen und dem Innenministerium eingerichtet, die Leitfäden zur Vorbeugung von und zum Umgang mit Gewaltvorfällen an Hochschulen erarbeitet hat. Dabei sei es auch um bauliche und organisatorische Maßnahmen gegangen.
Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Theresia Bauer.Bild: dpa / Sebastian Gollnow
"Die Hochschulen haben auf dieser Basis ihre eigenen Krisenpläne überarbeitet und passen diese auch weiterhin bei Bedarf an", schreibt die Sprecherin auf Anfrage von watson. Details dazu nennt sie nicht und ergänzt: "Da es sich um sensible Informationen handelt, werden die Hochschulen keine konkreten Angaben zu ihren internen Krisenplänen machen."
Angaben des Wissenschaftsministeriums zufolge gibt es also solche Alarmsysteme auch an Hochschulen und Universitäten. Allerdings könnten diese Krisenpläne nicht genauso umgesetzt werden wie an Schulen.
Wörtlich heißt es aus dem Ministerium auf watson-Anfrage:
"Hochschulen sind offene Einrichtungen, in der Regel mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Gebäuden. Maßnahmen, die an einer Schule sinnvoll sind, passen nicht zwangsläufig für einen Hochschulcampus. Welche Alarmsysteme konkret für die Verhältnisse vor Ort passen, regelt jede Hochschule im Einvernehmen mit den zuständigen Spezialisten, zum Beispiel Polizei und Feuerwehr. Die Hochschulen bestimmen aufgrund ihrer Autonomie selbst, welche Maßnahmen für ihre ganz speziellen Bereiche und die Situation vor Ort sinnvoll und geeignet sind."
Die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer (Grüne) sagte außerdem auf watson-Anfrage, dass die Einrichtungen weiterhin frei und offen sein sollten: "Hochschulen sind weltoffene Einrichtungen, sie sind Orte der Freiheit, Offenheit und Begegnung. Wir wollen und wir werden sie nicht zu Trutzburgen oder Festungen machen."
Wie kann ich mir ein Amok-Alarmsystem oder einen Notfallplan vorstellen?
Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten, erklärt das baden-württembergische Wissenschaftsministerium. "Zum Beispiel einen stillen Alarm oder, wie von der Arbeitsgruppe 2009 empfohlen, Durchsagen durch Lautsprecheranlagen", schreibt eine Sprecherin des Wissenschaftsministeriums.
Die Hochschulen erarbeiteten solche Pläne gemeinsam mit den auf den Objektschutz spezialisierten polizeilichen Einrichtungen. Wie diese Systeme im Einzelnen genau aussähen, gäben Schulen und Universitäten der Öffentlichkeit aber nicht preis.
Der mutmaßliche Täter hatte seine Waffe wohl aus dem Ausland – sind die Behörden international vernetzt?
Grundsätzlich gibt das Bundeskriminalamt (BKA) zu Ermittlungen beim Thema Waffenkäufen – vor allem bei laufenden – keine Informationen preisgibt.
Bekannt ist, dass der mutmaßliche Täter die Waffe wohl aus dem Ausland besorgt hat.
Das Bundeskriminalamt sagte auf watson-Anfrage:
"Grundsätzlich erfolgt zwischen Ermittlungsbehörden national wie international, insbesondere im EU-Raum, in operativen wie strategischen Fragen und Methoden der Kriminalitätsbekämpfung ein enger Informationsaustausch."
Weitere Fragen zum Fall wollte das BKA nicht beantworten.
Was hat sich seit dem Amoklauf in Winnenden an Bildungseinrichtungen verändert?
In einer Dokumentation, die zehn Jahre nach dem Amoklauf an der Albertville-Realschule in Winnenden veröffentlicht wurde, teilte der heutige Schulleiter Sven Kubick mit, sowohl das Land als auch der Bund hätten damals dazu beigetragen, dass dort ein neuer Gebäudekomplex entstehen konnte."
Sven Kubick, Rektor der Albertville-Realschule, steht im Gedenkraum der Schule. Hier wurden 2009 Schülerinnen und Schüler sowie eine Lehrerin getötet.Bild: dpa / Marijan Murat
Die Schule an sich sei ebenfalls verändert worden. Es gebe dort bestimmte Sicherheitseinrichtungen. "Ein Gebäude etwa mit Türen, die man nur mit dem Chip öffnen kann, wo man nicht einfach reingehen kann, die auch automatisch verschlossen werden." Zudem habe man viele transparente Bereiche eingerichtet, also viele Glasfronten und offene Bauweisen eingeführt, damit "man einfach sieht: Wer geht ins Gebäude rein und raus".
Was hat sich seit Winnenden im Land getan?
Nach Winnenden 2009 haben das Land und der Bund einige Maßnahmen ergriffen, um in Baden-Württemberg für mehr Schutz zu sorgen. Eine Liste der Veränderungen hat watson vom baden-württembergischen Kultusministerium auf Anfrage bekommen.
Darin heißt es zunächst: "Das Kultusministerium Baden-Württemberg hat eine Reihe von Maßnahmen getroffen sowie Unterstützungssysteme aufgebaut, um Schulen dabei zu unterstützen, sich auf Krisensituationen und Gefahrenlagen vorzubereiten und im akuten Fall schnell und angemessen reagieren zu können."
Das sind sie Maßnahmen:
- Ausbau der schulpsychologischen Beratung sowie deren Qualifizierung
Die Anzahl der Stellen von Schulpsychologinnen und Psychologen an Schulpsychologischen Beratungsstellen wurde erhöht. Seit 2012 gibt es in Baden-Württemberg 194 Stellen. Die Relation Anzahl der Beratungsstellen zur Anzahl der Schüler habe sich dadurch von ursprünglich 1 : 36.000 auf 1 : 8.000 verbessert. Die Psychologinnen und Psychologen werden laut Kultusministerium auch gesondert für Krisennachsorge und Konfliktmanagement geschult.
- Aufbau eines Kompetenzzentrums Schulpsychologie
Das Kompetenzzentrum Schulpsychologie wurde laut Kultusministerium 2012 an der Universität Tübingen mit enger Anbindung an Wissenschaft und Forschung eingerichtet. Ziel sei es etwa, wissenschaftliche Erkenntnisse für die schulpsychologische und pädagogische Tätigkeit aufzubereiten.
- Mehr Beratungslehrkräfte
Der baden-württembergische Landtag hat im Februar 2011 beschlossen, die Anzahl der Beratungslehrkräfte um 1.600 zu erhöhen.
- Einführung eines Gewaltpräventionsprogramms
Nach dem Landtagsbeschluss zur flächendeckenden Einführung eines Präventionskonzepts an den öffentlichen Schulen des Landes wurden laut Kultusministerium Präventionsstrukturen ausgebaut. Präventionsbeauftragte seien grundständig qualifiziert worden und würden zudem immer wieder fort- und weitergebildet. Eine Präventionsstruktur, die Gewalt- und Suchtprävention sowie Gesundheitsförderungen forciert, werde zudem in Schulen auf drei Ebenen angegangen: Schulebene, Klassenebene, individuelle Ebene. Schüler, Lehrkräfte und Eltern würden in die Arbeit gleichermaßen eingebunden.
- Stärkung der Medienpädagogik
Das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg setzt seit 2001 auf Maßnahmen, die die Medienpädagogik stärken sollen. Dazu zählen etwa die medienpädagogische Erziehung und Präventionsarbeit an Schulen, die Verankerung des medienpädagogischen Angebots im Internet, eine Hotline zu medienpädagogischen Fragestellungen.
- Sicherheit an Schulen – direktes Alarmierungssystem
In Folge des Amoklaufs von Winnenden beanstandeten viele Schulen im Land, sie hätten keine hinreichende Warnmeldung erhalten, als der Täter flüchtig war. Zudem war das Handynetz zeitweise überlastet. Der von der Landesregierung eingesetzte Expertenkreis Amok griff dieses Anliegen auf und befasste sich mit der Frage einer verlässlichen Kommunikationsstruktur im Krisenfall. Die damalige Entscheidung fiel auf ein Pager-Alarmierungssystem mit dem Ziel einer Alarmierungsmöglichkeit abstrakt gefährdeter Schulen bei Vorliegen einer bestätigten Amoksituation.
- Verwaltungsvorschrift über das Verhalten an Schulen bei Gewaltvorfällen
2012 trat eine überarbeitete gemeinsame Verwaltungsvorschrift des Kultusministeriums, des Innenministeriums und des Umweltministeriums über das Verhalten an Schulen bei Gewaltvorfällen und Schadensereignissen in Kraft. Diese Verwaltungsvorschrift ist verpflichtend. Darin ist unter anderem festgelegt, dass es an jeder Schule unter Vorsitz der Schulleitung ein schulinternes Krisenteam geben muss, das für das Krisenmanagement an Schulen zuständig ist.
Wie ist die Polizei aufgestellt?
Auch die Polizei wurde seit dem Amoklauf von 2009 besser ausgestattet als früher. Das baden-württembergische Innenministerium hat dazu auf watson-Anfrage Stellung bezogen.
Grundsätzlich lasse sich die Zusammenarbeit der Polizei Baden-Württemberg mit Schulen oder Universitäten im Zusammenhang mit Amoktaten und Androhungen von Amoktaten in zwei Bereiche unterteilen:
- Prävention, um Amoktaten bereits im Vorfeld zu verhindern
- Prävention, um im Ernstfall gerüstet zu sein und Gefahren für die Schülerinnen und Schüler, das Lehrerkollegium und andere Beschäftigte so gering wie möglich zu halten – auch Krisenintervention genannt.
Für den Bereich der Krisenintervention sei eine Verwaltungsvorschrift über das Verhalten an Schulen bei Gewaltvorfällen und Schadensereignissen erlassen worden, sagte der Sprecher.
Die bereits damals existierenden Amok-Konzepte und die Ausstattung der Polizei seien damals überprüft worden. "In der Folge wurden alle operativen Kräfte – beginnend in der Ausbildung und dem Studium – regelmäßig geschult. Wichtig ist auch eine geeignete Ausstattung der Einsatzkräfte."
Seit 2011 wurde dem Innenministerium zufolge bei der Polizei in Baden-Württemberg die Amok-Zusatzausstattung eingeführt, bestehend aus Helm-, Schulter-, Hals- und Tiefschutz – in Ergänzung zu den persönlich zugeteilten Schutzwesten.
"Darüber hinaus – unter dem Eindruck internationale terroristischer Taten – wurden ballistische Plattenträgersysteme beschafft, welche den Schutz der Beamtinnen und Beamte weiter optimiert", so der Sprecher weiter. Und: "Auch das Waffensystem wurde mit dem MP 7 (ein Maschinengewehr, Anm. d. Red.) ergänzt, um ein täterorientiertes Vorgehen in Gebäuden zu ermöglichen."
Wesentlicher Kernpunkt der Einsatzkonzepte vor Ort sei auch die Betreuung von Opfern und Beteiligten. Der handlungsleitende Grundgedanke laute hierbei: "Der (betroffene) Mensch steht im Mittelpunkt staatlichen Handelns". Dabei stimme man sich immer mit Hilfsorganisationen ab, die etwa Seelsorge anböten.