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Bürgergeld: Was sich für Armutsbetroffene wirklich verändert hat

15.10.2022, Berlin: Eine Teilnehmerin der Kundgebung der Initiative #ichbinarmutsbetroffen steht mit einem Plakat mit der Aufschrift "Sofort Hilfe für Arme" am Bundeskanzleramt. #IchBinArmut ...
Seit dem vergangenen Sommer demonstrieren Armutsbetroffene für mehr Sichtbarkeit und Unterstützungen – eine von ihnen ist Janina Lütt.Bild: dpa / Paul Zinken
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Bürgergeld: Was sich für Armutsbetroffene wirklich verändert hat

08.04.2023, 09:44
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Über 13 Millionen Menschen in Deutschland sind von Armut betroffen. Rund 5,2 Millionen von ihnen haben im vergangenen Jahr noch Arbeitslosengeld II (Hartz IV) bezogen – seit Januar 2023 bekommen sie jetzt Bürgergeld. Die Sozialleistung, die als "die größte Reform der vergangenen zehn Jahre" angekündigt wurde.

Doch ist das Bürgergeld wirklich so toll? Armut hat viele Gesichter, eines davon ist Janina Lütt. Die 46-Jährige ist chronisch krank und deswegen arbeitsunfähig. So hat sie nicht nur die Einführung des Bürgergeldes miterlebt, sondern auch die Hartz-Reformen. Bei watson erzählt sie ihre Geschichte – und sie spricht darüber, was sie als Armutsbetroffene wirklich bräuchte, um ein Leben in Würde zu führen.

Janina sagt:

"Ich bin in meinem Leben immer wieder armutsbetroffen gewesen. Ich habe mich damals nach meiner Ausbildung entschieden, noch einmal zur Schule zu gehen und mein Abitur zu machen.

Damals wurde bei mir eine schwere Depression diagnostiziert. Meine psychologische Begleitung hatte mir geraten, meine Tage zu strukturieren. Und weil ich wusste, dass Schule mir Struktur – aber auch persönlich unglaublich viel geben würde, habe ich beim Sozialamt durchgesetzt, dass ich trotzdem Unterstützung bekomme. Ich hatte ein Riesenglück, dass das geklappt hat.

Janina Lütt ist 46 Jahre alt und Armutsbetroffen. Bei watson erklärt sie, was Armut für Menschen bedeutet – und wie viele Gesichter sie hat. Lütt ist chronisch krank und kämpft mit Depressionen, arbei ...
Janina Lütt ist eine von 13,8 Millionen Armutsbetroffenen in Deutschland.Bild: privat

Heute klingt das unglaublich, aber das war vor den Hartz-Reformen. Damals war noch mehr möglich. Und ich hatte auch eine ganz tolle Fallbearbeiterin – zumindest nachdem wir uns ausgesprochen haben. Denn das erste Mal bin ich beim Amt richtig fies mit Klassismus konfrontiert worden.

Ein Begriff, den ich erst später kennengelernt habe. Und ich bin dankbar, dass ich das Wort heute kenne. Denn jahrelang habe ich unter etwas gelitten, das ich nicht benennen konnte. Ganz krass wurde ich damit auch einmal im Krankenhaus konfrontiert.

Was ist Klassismus?
Als Klassismus wird die Diskriminierung und Unterdrückung von Menschen aufgrund ihres vermuteten oder wirklichen sozialen Status bezeichnet.

Ein Arzt wollte mich mit einer angehenden Nieren-Becken-Entzündung und Fieber nicht behandeln – weil ich 'mit meinen Depressionen in die Psychiatrie' gehören würde. Und weil ich mich als Hartz-IV-Empfängerin einfach das Wochenende durchfuttern wolle. Ich kam dann zwar trotzdem an den Tropf – aber man darf sich echt nicht wundern, dass armutsbetroffene Menschen Probleme haben, das zu benennen, wenn sie mit so übergriffigen Menschen konfrontiert sind.

Durch das Buch 'Zugang Verwehrt' von Francis Seeck ist mir auch erst richtig klar geworden, wie sehr Klassismus soziale Ungerechtigkeit fördert. Ich weiß jetzt: Ich habe mir das nicht ausgedacht, es ist nicht nur ein diffuses Gefühl. Klassismus ist eine Tatsache.

Auch als ich damals beim Amt aufgrund meiner Armut abgewertet wurde, habe ich einen Wutanfall bekommen. Und der Fallbearbeiterin erklärt, dass ich chronisch krank bin – und dass ich, wäre es mir möglich, gerne ihre Kinder unterrichten würde. Mein Wunsch war es nach dem Abi Lehrerin zu werden.

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Ich durfte also meinen Abschluss machen, konnte wegen der Depression in den drei Jahren aber nur rund 1,5 Jahre zur Schule gehen. Nach der Schule habe ich erstmal wieder gearbeitet. Ich hatte aber das Problem, dass ich einen guten Berufsabschluss und dazu das Abitur habe – vielen Arbeitgebern war ich deshalb zu überqualifiziert und zu teuer. Ich war deshalb immer wieder arbeitslos oder habe wegen vertraglicher Schlupflöcher weit unter Tarif gearbeitet.

Ich habe dann als Einrichtungsleiterin in einem Schülertreff gearbeitet – und dann haben viele Faktoren dazu geführt, dass ich den Job aufgeben musste: Zwei Trauerfälle in der Familie, Stress mit meinem Partner und Mobbing am Arbeitsplatz durch einen neuen Kollegen haben mich schnurstracks in die Erschöpfungsdepression geführt.

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Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) war zuständig für die Bürgergeld-Reform.Bild: IMAGO/Political-Moments

Danach habe ich immer wieder versucht, 450-Euro-Jobs hinzukriegen. Ich war Putzen und hab bei McDonalds gearbeitet, aber es ging irgendwann nicht mehr. Meine Depressionen wurden zu schlimm.

Seit 2003 habe ich Hartz IV bekommen. Ich habe etliche Maßnahmen und 1-Euro-Jobs durchlaufen, irgendwann hat das Arbeitsamt gefordert, dass ich einen Berentungs-Antrag stelle. Ich war zu oft krankgeschrieben, jetzt bin ich Frührentnerin. Aus Hartz IV wurde mittlerweile Bürgergeld. Und ich muss sagen, für viele Armutsbetroffene hat sich dadurch wirklich etwas verbessert. Ein Schritt in die richtige Richtung, der hoffentlich ausgebaut wird.

Klar ist aber auch: Die Sätze sind viel zu niedrig und ich fände es gut, wenn die Sanktionsfreiheit breiter gefächert wäre. Aber die Ansätze sind gut. Der Vermittlungsvorrang fällt weg – das heißt Bürgergeldempfänger müssen nicht länger jeden Scheiß machen – Kinder aus Bezieher-Familien dürfen Geld dazu verdienen. Auch die Bürgergeldempfänger dürfen mehr Geld als vorher dazuverdienen. Was ich festhalten kann: Die Agenda 2010 hat den Menschen einfach nicht gutgetan.

"Das Bürgergeld ist zwar ein bisschen mehr – aber es läuft mir unter den Fingern weg."

Ich finde auch, dass die Reform bereits im vergangenen Sommer hätte kommen müssen, denn die Inflation reißt ein riesiges Loch in den Geldbeutel. Ich habe Glück, dass ich einen Freundeskreis habe, der das abfedert und mich unterstützt. Ich bin auch Kundin bei der Tafel und bekomme dort Lebensmittel. Trotzdem merke ich gerade, das Bürgergeld ist zwar ein bisschen mehr – aber es läuft mir unter den Fingern weg.

Für mich selbst als chronisch Kranke ändert sich nämlich mit dem Bürgergeld tatsächlich nicht viel, außer den 50 Euro, die ich jetzt im Monat mehr bekomme. Und die Bezeichnung. Hartz IV ist für mich negativ geprägt. Der Begriff Bürgergeld ist frisch und ich muss sagen, für mich ist er auch noch neutral. Ich habe die Hoffnung, dass Medien und Politik ihn nicht wieder kaputtmachen – auch wenn ich die ersten Ansätze sehe.

Diese Verleumdungskampagne der CDU im vergangenen Jahr war für mich wirklich das Allerschlimmste. Was für ein Menschenbild wird damit propagiert? Klassismus hat für mich in diesem Moment eine ganz andere Dimension angenommen. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass sich seit der Initiative #IchbinArmutsbetroffen einiges verändert hat.

28.03.2023, Berlin: Friedrich Merz (CDU), CDU-Bundesvorsitzender und Unionsfraktionsvorsitzender, kommt zur Unionsfraktionssitzung im Bundestag. Foto: Kay Nietfeld/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Gerade CDU-Chef Friedrich Merz hat die Bürgergeld-Debatte mit klassistischen Stereotypen geprägt.Bild: dpa / Kay Nietfeld

Zum einen haben sich Armutsbetroffene vernetzt und ihre Stimme und Mut gefunden, um auf die Straße zu gehen. Und auch das Argument, Medien sollten mit und nicht über Betroffene sprechen, hat verfangen.

Wir werden jetzt nicht mehr als sozial schwach bezeichnet – was wir nicht sind – sondern als arm. Oder als Armutsgefährdet, ein sehr ironisches Wort, wie ich finde, denn ich bin nicht gefährdet. Ich bin arm. Aber es wird ein ganz anderes Vokabular genutzt und das kann sehr viel verändern.

Und, sind wir ehrlich, ich werde mein Leben lang arm sein. Ohne meine Freunde, ohne die Tafel und ohne meine Überlebensskills würde ich das alles nicht hinbekommen. Ich bräuchte einen Monatssatz von 725 Euro, wie ihn der Paritätische Wohlfahrtsverband errechnet hat, um gut leben zu können. Auch die Kindergrundsicherung kann helfen.

Wobei ich es ironisch finde – denn aktuell wird das Kindergeld abgezogen. Die Ironie ist deshalb: Wenn dieser Betrag auch an Bürgergeldbezieher ausgezahlt werden würde, bräuchte es keine Kindergrundsicherung.

Was für mich selbst aber viel verändert hat, ist eine Einsicht, die ich gehabt habe: Meine Armut ist nicht meine Schuld, aber sie ist Fakt. Keiner muss sich für seine Armut schämen."

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