Philipp Türmer ist seit Mitte November Vorsitzender der Jusos.Bild: dpa / Moritz Frankenberg
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Das Interview, das Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Oktober dem "Spiegel" gegeben hat, ist vielen seiner Genoss:innen sauer aufgestoßen. Im Gespräch mit der Zeitung machte der Kanzler deutlich, dass Deutschland in Zukunft schneller und mehr abschieben müsse. SPD-Innenministerin Nancy Faeser ist zudem das Gesicht der GEAS-Reform. Eine bei vielen Linken der Partei und der Gesellschaft unwillkommene Weiterentwicklung der gemeinsamen europäischen Asylpolitik.
Man könnte also sagen: Teile der SPD sind unzufrieden mit dem Migrationskurs der Regierung. An diesem Wochenende kommen die Sozialdemokrat:innen zu ihrem Parteitag in Berlin zusammen. Mit einem Kompromissantrag zum Streitthema Migration will die SPD-Spitze den Kritiker:innen den Wind aus den Segeln nahmen. Insgesamt 60 Einzelanträge zum Thema Migration wurden für den Initiativ-Leitantrag zusammengeführt.
Juso-Chef Philipp Türmer macht seinem Ärger über die aktuelle Migrationspolitik im Gespräch mit watson Luft. An den Parteitag hat er große Erwartungen.
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Juso-Chef erwartet von Parteitag Bekenntnis zur Seenotrettung
"Wir haben es bei der Debatte nicht geschafft, einen klaren sozialdemokratischen Standpunkt zu vertreten." Grundsätzlich sei es begrüßenswert, wenn versucht würde, sich in der Europäischen Union zu einigen – "aber wir müssen auch die inhaltlichen Ergebnisse bewerten."
"Diese Außenlager an den Grenzen, in denen auch Minderjährige unter haftähnlichen Bedingungen untergebracht werden, sind nicht vereinbar mit europäischen Werten", meint Türmer. Die Reform versage außerdem bei der großen Frage, wie sichere Fluchtwege nach Europa geschaffen werden könnten.
Im Initiativantrag "Deutschland ist ein Einwanderungsland – wir gestalten Einwanderung" der SPD-Spitze wird klargestellt, dass Wege gesucht werden müssen, wie Migration stärker gesteuert werden kann. Und auch wenn prinzipiell begrüßt werde, dass eine gemeinsame europäische Linie gefunden wurde, wird im Antrag gefordert, dass sowohl Minderjährige als auch Familien und vulnerable Gruppen vom Grenzverfahren ausgenommen würden.
Innenministerin Nancy Faeser hat die geplante GEAS-Reform federführend mitverhandelt.Bild: imago images / dts Nachrichtenagentur
Dass nun offenbar auch die Bundesregierung plant, private Seenotrettung mit dem "Rückführverbesserungsgesetz" weiter zu kriminalisieren, geht aus Sicht des Juso-Chefs gar nicht. Er sagt:
"Ich erwarte – und das ist das absolute Minimum – dass die SPD sich am Wochenende auf dem Parteitag klar davon abgrenzt und bekennt, Seenotrettung ist kein Verbrechen."
Initiativantrag schlägt versöhnliche Töne an
Was es stattdessen brauche, sei eine staatliche Seenotrettung, stellt er klar. Auf diese Forderung geht der Initiativantrag ein. Darin heißt es:
"Die Seenotrettung ist eine Verpflichtung aus dem internationalen Seerecht. Zivile Seenotrettung, die diese Aufgabe und humanitäre Verantwortung übernimmt, Menschen aus Not zu retten, darf demnach auch nicht kriminalisiert werden und wird weiter von uns unterstützt."
Italien betrachtet die Seenotrettung ausländischer Hilfsorganisation in seinen Gewässern als Einmischung in innere Angelegenheiten. Der Bundestag hat beschlossen, sie mit jährlich zwei Millionen Euro bis 2026 zu fördern. Scholz sieht die staatliche Finanzierung skeptisch.
Auch sichere Fluchtrouten werden in dem Papier gefordert. Zudem soll Familiennachzug erleichtert und die Grenzschutzagentur Frontex überprüft werden. Wichtig sei es darüber hinaus, Fluchtursachen zu bekämpfen, heißt es in dem Antrag.
Gerade in Sachen Familiennachzug zeigt sich Innenministerin Faeser am Rande der Innenminister:innenkonferenz skeptisch. Im Moment sei aus ihrer Sicht "nicht die Zeit für Familiennachzug und andere Dinge, weil wir gerade in einer Situation sind, dass wir sehr viel Zuzug haben, sehr viel irreguläre Migration". Daher habe "das ordnende Element" derzeit Vorrang.
Jusos haben eigene Vision von moderner Asylpolitik
Den Jungsozialist:innen dürfte das nicht schmecken. Vielmehr braucht es aus ihrer Sicht für eine moderne europäische Asylpolitik darüber hinaus:
- "Solidarische Verteilmechanismen innerhalb der Europäischen Union, die nicht nur auf die Bevölkerung in den einzelnen Ländern, sondern auch auf die ökonomische Leistungsfähigkeit schauen und die Präferenzen der Geflüchteten bedenken."
- "Möglichkeiten der regulären Einreise, aktuell wird sich viel über irreguläre Migration beschwert, obwohl es gar keine regulären Fluchtrouten gibt."
Und auch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, mit dem die Ampelregierung legale Einwanderung nach Deutschland ermöglichen möchte, würde daran nichts ändern. Natürlich nehme ein modernes Einwanderungsrecht viel Druck raus, es beantworte aber nicht die Frage, wie Schutzsuchende einen Asylantrag stellen sollen, ohne auf ein Boot zu steigen, um über das Mittelmeer fahren – mit ungewissem Ausgang. "Deswegen braucht es sichere Fluchtwege und die Einführung humanitärer Visa", fasst der Juso-Chef zusammen.
Lars Klingbeil (v.l.), Kevin Kühnert, Olaf Scholz und Saskia Esken sind die Spitze der deutschen Solzialdemokratie.Bild: imago images / Future Image/ F. Kern
Um die anderen EU-Staaten von den Visionen zu überzeugen, meint Türmer, müsse bei den kulturellen Bedenken angesetzt werden. Abgrenzung helfe nicht weiter, stellt er fest. Und er ist auch davon überzeugt, dass die Mehrheit des Bündnisses anders denke. "Der europäische Gedanke ist davon getragen, dass kultureller Austausch, dass Vielfalt bereichernd ist", sagt er.
Um breite Mehrheiten zu überzeugen, müsse die Finanzierungsfrage geklärt werden. Schon in Deutschland sei die Unterbringung Geflüchteter ein finanzieller Aufwand – in Ländern mit einem kleineren Haushalt, sei das ungleich schwerer. Mit einer starken und solidarischen Finanzierung der Bündnis-Staaten könnte es Regionen leichter gemacht werden, ihre Solidarität und Menschlichkeit zu zeigen, sagt Türmer.
Und fügt an: "Am Ende brauchen sie auch das Geld. Das ist der Schlüssel, um gemeinsam eine menschenwürdige Geflüchtetenpolitik umzusetzen." Wie sich die SPD letztlich in Sachen Asylpolitik positioniert, wird die Debatte um den Antrag und dessen Abstimmung auf dem Parteitag zeigen.
(Mit Material der dpa)
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