Was für ein sensationelles Ergebnis: Fast 12 Prozent der Zweitstimmen holte die Linke bei der Bundestagswahl. "Regierungspartei im Wartestand", so nennt die "Welt" die Partei. Auch, weil sie in Ostdeutschland so sensationell stark ist.
2009 war das, eine halbe politische Ewigkeit ist das her. Heute, wenige Tage vor der Bundestagswahl 2021, liegt die Linke in fast allen Umfragen bei sechs Prozent. Schneidet sie bei der Wahl nur um knapp über einen Prozentpunkt schlechter ab, gibt es im nächsten Bundestag keine Linksfraktion mehr.
Wie ist es so weit gekommen? Warum kommt die Linkspartei bei relativ wenigen jungen Menschen an? Was sind die Linken bereit zu tun, um Teil der nächsten Bundesregierung zu werden? Und was sagt die Partei eigentlich zu linksextremer Gewalt?
watson hat Janine Wissler, seit Februar 2021 eine von zwei Parteivorsitzenden der Linken, getroffen, um darüber zu sprechen – in einem Doppelinterview mit Maximilian Schulz. Schulz ist einer von acht Bundessprechern der Linksjugend, der Jugendorganisation, die der Partei nahesteht.
watson: Maximilian, Frau Wissler: In den Umfragen liegt die Linke nur noch bei Werten um die sechs Prozent. Wie groß ist die Angst, dass die Partei unter die 5-Prozent-Hürde fällt?
Janine Wissler: Darüber mache ich mir keine Sorgen. Wir machen jetzt Wahlkampf, wir gehen raus auf die Marktplätze und an die Haustüren, wir kämpfen um jede Stimme. Was mir aber Sorgen macht: Dort, wo die Linke am stärksten abschneidet, wo wir 25 Prozent der Stimmen und mehr holen, ist die Wahlbeteiligung oft am niedrigsten.
watson: Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Wissler: Wir merken, dass viele Menschen die Hoffnung verloren haben, dass Politik für sie persönlich irgendetwas verbessert. Deswegen wollen wir gerade dorthin gehen, wo Parteien nicht so oft hingehen und mit den Menschen dort ins Gespräch kommen.
watson: Sie setzen also darauf, bisherige Nichtwähler für sich zu gewinnen.
Wissler: Ja, und gerade die Menschen, die uns schon mal gewählt haben – und die jetzt überlegen, ob sie überhaupt zur Wahl gehen.
Maximilian Schulz: Ich glaube, das liegt am momentanen Trend. Das hat man schon bei den letzten Landtagswahlen gesehen: Wenn ein Trend da ist, dann verstärkt er sich manchmal auch selbst. Dass wir momentan bei nur sechs Prozent liegen, müssen wir ernst nehmen und noch einmal Gas geben. Unsere Positionen sind ja gut, wir müssen die nur stärker betonen. Wir brauchen mehr Selbstvertrauen. Und wir müssen dorthin gehen, wo es wehtut.
watson: Was heißt das? Eher Wähler von den Grünen zurückgewinnen – oder von der AfD?
Wissler: Wir freuen uns über jeden Wähler und jede Wählerin und wollen insbesondere die Leute mobilisieren, die schon mal die Linke gewählt haben. Bei der Bundestagswahl 2017 waren das 9,2 Prozent. Ich habe nicht den Eindruck, dass massenhaft Wählerinnen und Wähler von uns zur AfD gegangen sind. Unser Hauptpotenzial liegt bei den Leuten, die den Laden am Laufen halten, wichtige gesellschaftliche Arbeit leisten und sich kaum gehört fühlen.
watson: Wen meinen Sie damit?
Wissler: Wir müssen deutlich machen, dass wir die Partei der Mieterinnen und Mieter sind, die Partei der Beschäftigten, der Pflegekräfte, der Menschen, die wenig verdienen oder im Hartz-IV-Bezug sind. Derjenigen, die sich abstrampeln, aber kaum über die Runden kommen. Die jungen Menschen, die ein kleines Azubigehalt oder einen studentischen Nebenjob haben – und die nicht von zu Hause ausziehen können, weil sie sich die hohen Mieten nicht leisten können.
watson: Die Frage, welche Wähler die Linken ansprechen sollen, bricht in der Partei ja immer wieder auf. Sahra Wagenknecht, die ehemalige Linken-Fraktionschefin im Bundestag, sagt: eher die sogenannten kleinen Leute, die heute AfD wählen. Die frühere Parteichefin Katja Kipping hatte eher das linksgrüne Milieu in den Städten im Blick. Wieso kann sich die Linke nicht einigen, welche Menschen sie erreichen will?
Schulz: Ich glaube, dieser Konflikt wird uns eher von außen angedichtet.
watson: Anders gefragt: Kann die Linke sowohl die Menschen erreichen, die im koreanischen Restaurant in Berlin-Mitte sitzen als auch die, die lieber ihr Bier in der Raucherkneipe in Gelsenkirchen trinken?
Wissler: Wir müssen die Milieus zusammenbringen. Ob man jetzt lieber Latte Macchiato im Szenecafé trinkt oder Bier in der Eckkneipe, die Leute haben doch an vielen Stellen die gleichen Interessen: eine sichere Rente, von der sie leben können, eine gute Gesundheitsversorgung, bezahlbare Mieten. Ein Fahrradkurier in der Großstadt hat sehr ähnliche Probleme wie die ambulante Pflegekraft auf dem Land.
Schulz: Es geht immer um Menschen, die ausgebeutet werden. Natürlich können wir uns dann fragen, wen wir wie ansprechen. Aber uns als linker Kraft geht es vor allem darum, materielle Interessen der Menschen zu vertreten. Und nicht darum, welche Wechselwähler wir ansprechen wollen. Wir setzen im Wahlkampf auf unsere Vorschläge zu den großen Schicksalsfragen unserer Zeit.
watson: Nämlich?
Schulz: Das ist natürlich die Klimafrage, dazu haben wir ein gutes Programm. Das ist die soziale Frage. Und die Wähler müssen entscheiden, was sie wollen. Wollen sie eine Entlastung von Arbeitnehmerinnen – oder keine? Wollen sie eine soziale und ökologische Transformation, in der die Arbeitsplätze in der Braunkohleindustrie mitgedacht werden – oder nicht?
watson: Frau Wissler, Ihre Programme können Sie natürlich nur umsetzen, wenn Sie Teil einer Bundesregierung werden. Olaf Scholz und Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidaten von SPD und Grünen, fordern dafür Entgegenkommen von ihnen: ein klares Ja zur NATO, zu einer starken EU, eine solide Haushaltspolitik und eine klare Kante gegen Russland und China. Kriegt die Linke das hin?
Wissler: Ich sag's mal so: Wenn man etwas will, dann sucht man Wege. Wenn man etwas nicht will, dann findet man Gründe. Deswegen halte ich nichts davon, jetzt irgendwelche Bekenntnisse zu verlangen. Wir erleben seit vielen Jahren eine Politik der verlorenen Zeit. Nehmen wir mal den Klimaschutz: Wir könnten längst bei 100 Prozent Ökostrom sein, könnten längst die Verkehrswende vorangetrieben haben. Wir könnten viel weiter dabei sein, die soziale Spaltung zu überwinden, die Schulen vernünftig auszustatten.
watson: Aber wie weit sind die Linken bereit, sich auf SPD und Grüne zuzubewegen?
Wissler: Es ist ja klar, dass es zwischen uns große Unterschiede gibt, aber die gibt es zwischen SPD/Grünen und Union/FDP auch, wenn man sich die Programme anschaut. Olaf Scholz und Annalena Baerbock müssen sich fragen lassen, ob die Differenzen zu Union und FDP aus ihrer Sicht wirklich leichter zu überwinden sind als die zu uns. Ob sie lieber Kompromisse nach rechts machen als nach links. Sie müssen sich nur anschauen, was Armin Laschet im ersten TV-Triell zu Kindern in Familien im Hartz-IV-Bezug gesagt hat: Dass Kinder es durch Bildung selbst aus ihrer Lage schaffen sollen statt durch mehr staatliches Geld und eine Kindergrundsicherung. Anders gesagt: SPD und Grüne müssen überlegen, wie ernst ihnen ihr eigenes Wahlprogramm ist.
watson: Die Frage an Sie ist aber: Ist es nicht schade für die Linke, wenn sie jetzt wegen ihrer umstrittenen Positionen in der Außenpolitik, zu Russland, China, zur Nato, die Chance vergeudet, Teil einer Bundesregierung zu sein?
Wissler: Wir erleben doch gerade in Afghanistan, zu welchem Desaster die deutsche und die westliche Außenpolitik geführt haben. Wir als Linke haben diesen Krieg und diesen Bundeswehreinsatz immer abgelehnt, der 100.000 zivile Opfer gefordert hat. Allein Deutschland hat 12,5 Milliarden Euro für diesen Einsatz ausgegeben – und jetzt sind die Taliban wieder an der Macht, mit Zugriff auf militärische Ausrüstung der Nato-Staaten.
watson: Und welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Wissler: Dass jetzt die Parteien, die diesen Einsatz zwanzig Jahre lang vertreten haben, ihre außenpolitischen Positionen überdenken sollten. Außenpolitik ist außerdem viel mehr als Militär: Es geht auch um den Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit, um eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, um ein Ende für unfaire Freihandelsabkommen.
watson: Annalena Baerbock sagt, sie will eine aktivere deutsche Außenpolitik. Dazu gehören auch Militäreinsätze – oder zumindest die Bereitschaft dazu. Wie stehst du dazu, Maximilian? Die Linksjugend ist ja bei dem Thema gerne mal anderer Meinung als die Linkspartei...
Schulz: Das stimmt, wir liegen da manchmal im Clinch. Aber je länger ich diesen Wahlkampf erlebe, stört mich eines schon: Dass wir immer über Russland reden, wenn es um die Linken geht.
watson: Wie meinst du das?
Schulz: Ich finde schon, dass manche Genossinnen und Genossen beim Thema Russland zu unkritisch sind. Aber in der Nato, zu der wir uns bekennen sollen, ist die Türkei Mitglied, die in den vergangenen Jahren Angriffskriege geführt hat, etwa gegen die Kurden in Nordsyrien. Worüber reden wir da eigentlich? Das mit dem Bekenntnis zur Nato ist doch wirklich Quatsch.
watson: Aber das ist eben ein großer Stolperstein für Rot-Rot-Grün. Genauso wie die Tatsache, dass einige Linken-Abgeordnete sehr laut sind, wenn es um Menschenrechtsverletzungen der USA geht. Und sehr leise, wenn es um Russland oder China geht.
Wissler: Wir haben doch klar ins Programm geschrieben: Menschenrechte gelten überall und für jeden. Ich habe überhaupt keine Sympathien für den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Ich kritisiere, wie Putin mit der Opposition umgeht, dass er rechtsradikale Parteien in Europa unterstützt hat und dass Russland die Krim annektiert hat.
watson: Aber?
Wissler: Ich bin für Abrüstung und dagegen, dass es eine militärische Konfrontation mit Russland gibt.
watson: Maximilian, du trägst ein T-Shirt mit einer hebräischen Aufschrift – und setzt dich sehr für die Solidarität mit Israel ein. Die Linke will Rüstungsexporte abschaffen. Ohne Waffen aus anderen Staaten hätte Israel wohl aber Probleme, sich zu verteidigen.
Schulz: Wie gesagt, wir sind nicht immer der gleichen Meinung wie die Partei und auch innerhalb der Linksjugend wird gerade die Außenpolitik kontrovers diskutiert. Ganz generell sagen wir: Staaten wie Israel oder Armenien müssen sich verteidigen können, denn das gehört zum Existenzrecht dazu. Und auch Menschen, die in Syrien gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" kämpfen, brauchen Unterstützung. Daraus aber eine Forderung nach Rüstungsexporten abzuleiten, würde zu kurz greifen. Was ich eigentlich damit ausdrücken will, ist, dass die Linkspartei da eher aus der klassischen Friedenspolitik kommt, während wir als Linksjugend beispielsweise einen Antrag einbrachten, der zur aktiveren Hilfe der demokratischen Kräfte in Nordsyrien aufrief. Aber ganz ehrlich: Ich finde es auch gut, dass wir über unsere Unterschiede zwischen sowohl innerhalb der Linksjugend als auch zwischen der Linksjugend und der Partei offen reden. Und nicht nur auf Friede, Freude, Eierkuchen machen.
watson: Die Linke und junge Menschen, das ist nicht immer einfach. Die Linksfraktion im Bundestag hat jetzt ein Durchschnittsalter von 50. Das entspricht dem Alter bei CDU und CSU. Und Maximilian, du hast watson im Januar gesagt, dass ihr in der Linksjugend auch überhaupt nicht zufrieden damit seid, dass so wenige junge Kandidaten die Chance haben, bei dieser Wahl für die Linken in den Bundestag einzuziehen. Ist das besser geworden?
Schulz: In den Landesverbänden der Partei haben wir gesehen, dass wir uns zwar oft einbringen, aber sich bei den Listenplätzen trotzdem oft die Alteingesessenen durchgesetzt haben, nicht die Jüngeren. Andererseits haben wir gemerkt, dass wir Junge uns in der Linken selbst mehr einbringen müssen.
watson: Aber sind die Chancen für junge Menschen bei der Linken besser geworden?
Schulz: Ja, es ist auf jeden Fall auf dem aufsteigenden Ast. Ich will das auch nicht zu stark als bloßen Generationenkonflikt darstellen.
watson: Frau Wissler, sind aus Ihrer Sicht genug junge Kandidaten für die Linken am Start?
Wissler: Zumindest habe ich im Wahlkampf eine ganze Menge junger Kandidatinnen und Kandidaten getroffen. Wir sind ja auch an vielen Orten eine ziemlich junge Partei ...
watson: Sie meinen die Zahl der jungen Mitglieder. Im Januar hieß es aus der Linksjugend, dass inzwischen fast jedes fünfte Parteimitglied unter 30 ist.
Wissler: Ja. Da gibt es natürlich Unterschiede. In Hessen haben wir unseren stärksten Wähleranteil bei den 18- bis 34-Jährigen.
watson: In den bundesweiten Umfragen merkt man das nicht so stark. Laut einer Insa-Umfrage von Ende August würden zwar rund die Hälfte der Wähler bis im Alter bis 29 Mitte-Links-Parteien wählen. Aber nur sechs Prozent die Linken. Warum ist das so?
Schulz: Ich glaube, das hat viel damit zu tun, welche Erzählungen gerade bedient werden. 2017 war das der Kampf gegen die AfD. In den Jahren seither sind viele junge Menschen sozialisiert worden durch die Klimaschutzbewegung. Dadurch sind die Grünen natürlich sehr stark, weil das zu deren Erzählung passt.
watson: Was haben die Grünen in den Augen vieler junger Menschen, was die Linken nicht haben?
Schulz: Ich glaube nicht, dass das an den Inhalten liegt. Gerade bei Umfragen geht es ja darum, wohin es die Menschen politisch gerade hinzieht – und nicht um die Entscheidung, die sie getroffen haben, nachdem sie sich alle Programme angeschaut haben. Der aktuelle Trend zum Klimaschutz hilft da eben gerade den Grünen bei jungen Menschen. Und er hilft der FDP, weil die für das Bild der erfolgreichen Businesswoman und des erfolgreichen Businessman, das ja sehr gut zur Ideologie des Kapitalismus passt.
watson: Die Linke muss aber etwas falsch machen, wenn sie es nicht schafft, viele junge Menschen mitzureißen.
Wissler: Wir müssen insgesamt stärker herausstellen, wofür die Linke steht, was wir durchsetzen wollen.
watson: Was haben Sie denn falsch gemacht?
Wissler: Der eine oder andere öffentliche Streit war sicher nicht hilfreich und hat von unseren inhaltlichen Forderungen abgelenkt. Wenn die Leute an die Linke denken, müssen sie sofort im Kopf haben: Das ist die Partei, die für Mieterinnen und Mieter die Mieten bundesweit deckeln will. Die in Berlin das Volksbegehren zur Enteignung von Vonovia und Deutsche Wohnen unterstützt. Das ist die Partei, die für Pflegekräfte gute Löhne will, die das 1,5-Grad Ziel im Klimaschutz erreichen will und für Bildungsgerechtigkeit steht.
watson: Vielleicht erklärt die Linke auch nicht gut genug, was sie will. Ich lese Ihnen mal was aus Seite 59 Ihres Wahlprogramms vor: "Es geht auch um ein neues Wohlstandsmodell: Mit der sozialökologischen Investitionsoffensive und einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung in Richtung der kurzen Vollzeit (28 bis 35 Stunden bei vollem Lohn- und notwendigem Personalausgleich) schaffen wir sichere und sinnvolle Arbeit für alle und mehr Zeitwohlstand." Das verstehen vielleicht die Studierenden im Marx-Lesezirkel an der Uni. Aber sonst nicht viele.
Wissler: Und ich habe erst kürzlich eine Untersuchung gelesen, dass die Linke das verständlichste Wahlprogramm aller Parteien hat und die Grünen das unverständlichste.
watson: Das merkt man an der Stelle nicht.
Wissler: Da haben Sie recht. Wir sollten alle so reden und schreiben, dass alle Menschen das auch verstehen und keine unnötigen Barrieren aufbauen.
watson: Sie präsentieren sich ja als Partei, die gerade auch für Nicht-Akademiker da sein will.
Wissler: Ja. Deswegen hätte man den Satz auch lieber noch einmal überarbeiten und vielleicht drei kürzere, verständlichere Sätze daraus machen sollen.
Schulz: Witzigerweise habe ich mich über genau diese Formulierung auch schon aufgeregt. Janine hat recht. Aber insgesamt ist unser Parteiprogramm gut verständlich, damit können wir gut arbeiten. Wir haben an der Stelle nur ein bisschen umständlich umschrieben, dass wir kürzere Arbeitszeiten wollen.
watson: Sahra Wagenknecht wirft der Linken ja vor, eine Akademikerpartei geworden zu sein und bei sozial Benachteiligten nicht mehr richtig anzukommen. Maximilian, du bist einer von sechs Bundessprecherinnen und Bundessprechern der Linksjugend. Bei euch sind sechs von acht Personen Akademiker oder Studierende, also drei Vierte. In der Gesamtbevölkerung sind nur 22 Prozent Akademiker. Seid ihr als Linksjugend Teil des Problems?
Schulz: Die grundsätzliche Frage ist immer: Wer hat überhaupt die Möglichkeit, in der Politik aktiv mitzumachen? Ich sehe da keinen Konflikt zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern – sondern die Frage ist, wer sich Zeit für politisches Engagement nehmen kann, und wer das nicht kann.
watson: Aber ihr könntet als junge Linke dagegen ja etwas tun. Warum sind bei euch zumindest an der Spitze so wenige Berufsschüler oder Auszubildende aus dem Handwerk vertreten?
Schulz: Das Problem ist: Wenn man in Vollzeit in einem Job oder einer Ausbildungsstelle ist, ist es schwierig, sich auf Bundesebene politisch zu engagieren. Aber wir versuchen schon, das Spotlight auf Menschen zu richten, die nicht Akademiker sind oder gerade studieren: Eine von uns, Sarah Dubiel, macht gerade ihr Abi auf dem zweiten Bildungsweg, ihre Co-Bundessprecherin Selin Gören auch, beide sind junge Mütter. Wir wollen Leute wie sie pushen.
watson: Was bei der Linken auch auffällt: zu einzelnen Positionen der Partei gibt es viel Zustimmung in der Bevölkerung. Zur Vermögensteuer, zu einem höheren Mindestlohn, sogar bei Anhängern von Union und FDP. Aber bei anderen Positionen ist die Linke weit weg von dem, was die große Mehrheit der Menschen denkt: 80 Prozent der Deutschen stimmen laut ZDF-Politbarometer der Arbeit von Angela Merkel zu – die Linke sagt, sie sei katastrophal. Ein überwältigender Teil der Bevölkerung hat Vertrauen in die Polizei – die Linke spricht fast immer kritisch über Polizeikräfte. Macht sich die Partei selbst ihre Chancen kaputt?
Schulz: Wirfst du uns gerade vor, dass wir zu wenig populistisch sind?
watson: Nein, aber die Linke schafft es offensichtlich bei manchen Punkten nicht, die Stimmung der Bevölkerung zu treffen.
Wissler: Aber wir sind doch nicht in der Politik, um gesellschaftliche Mehrheiten einfach nur abzubilden! Wir wollen Dinge und gesellschaftliche Mehrheiten verändern. Und wir wissen, dass das oft nicht mit einem Fingerschnippen geht, sondern dass man manchmal lange für Veränderungen kämpfen muss. Als die ersten Frauen das Frauenwahlrecht gefordert haben, waren sie auch eine verschwindende Minderheit – und der Rest hat das für Quatsch gehalten. Als die Grünen in den achtziger Jahren den Atomausstieg forderten, galt das noch als völlig unrealistisch, zwei Jahrzehnte später war eine Mehrheit dafür.
watson: Die Grünen haben sich aber auch immer wieder in Richtung der Mehrheit der Gesellschaft bewegt: Sie haben heute ein viel positiveres Verhältnis zu Militär und Polizei als früher und sind nicht mehr grundsätzlich dagegen. Bei den Linken geht man nach wie vor auf Konfrontation zur Polizei.
Wissler: Das stimmt so nicht. Wir wollen die Polizei verändern. Und das ist auch nötig. Ich komme aus Hessen, wo gerade das Frankfurter SEK aufgelöst wurde, weil sich die Hälfte der Beamten an rechtsradikalen Chatgruppen beteiligt hat. Und das in einer Polizeieinheit, die eine militärische Ausbildung hat. Wir haben in Hessen den NSU-2.0-Skandal erlebt: rechtsextreme Drohmails, bei denen die Daten der Empfängerinnen unmittelbar zuvor aus Polizeicomputern abgefragt wurden. Natürlich ist das eine Minderheit innerhalb der Polizei und gerade auch im Interesse aller anderen Polizistinnen und Polizisten müssen solche Fälle aufgeklärt werden und Konsequenzen haben.
watson: Was der Linken in den Augen vieler Menschen schadet ist, dass sie sich oft schwertun, sich von linksextremer Gewalt abzugrenzen. Warum können Sie nicht nach Krawallen wie um das besetzte Haus in der Rigaer Straße 94 in Berlin nicht einfach sagen: Mit diesen Leuten wollen wir nichts zu tun haben?
Wissler: Für uns gilt grundsätzlich: Wir rufen zu friedlichen Protesten auf und wir unterstützen friedliche Proteste. Das schließt zivilen Ungehorsam wie Straßenblockaden mit ein, Gewalt lehnen wir ab.
watson: Und wo ziehen Sie die Grenze?
Wissler: Gewalt gegen Menschen ist vollkommen inakzeptabel, Gewalt gegen Sachen lehnen wir ab. Wir rufen nicht zu gewalttätigen Aktionen auf. Und wir als Linke sind übrigens sehr oft selber Opfer von Gewalt. Wir bekommen Morddrohungen, wir stehen auf Todeslisten, unsere Büros werden angegriffen, teilweise mit Schusswaffen.
Watson: Und die Linksjugend, Maximilian? Ihr steht Bewegungen nahe, die zumindest teilweise offen für Menschen sind, die Gewalt ausüben.
Schulz: Also, die Klimaschutzorganisation "Ende Gelände" finden wir gut. Wenn irgendwo unter Berufung auf eine linke Ideologie Scheiße gebaut wird, dann muss man das klar benennen. Aber worum geht es hier denn eigentlich? 2017, beim G20-Gipfel in Hamburg, wurden von 130 verletzten Polizisten 100 von anderen Polizisten verletzt. Wir müssen doch schauen, woher die wirklich krasse Gewalt kommt.
watson: Du machst jetzt das, was viele Linke tun, wenn sie auf linksradikale Gewalt angesprochen werden: Relativieren und sagen, dass rechte Gewalt viel schlimmer ist.
Schulz: Das ist doch keine Relativierung! Aber wir haben eben auf der einen Seite eine von Rechtsradikalen durchsetzte Polizeieinheit, wir haben die Mörder des NSU. Und in manchen Schlagzeilen heißt es dann "Extremisten unter sich", wenn von Linken und AfD die Rede ist.
Wissler: Man muss darauf hinweisen, woher die wirkliche Gefahr für die Gesellschaft kommt. Über 200 Menschen sind seit 1990 durch rechte Gewalt gestorben. Es gab die Mordserie des NSU, das Attentat von Hanau, der Anschlag von Halle, den Mord an Walter Lübcke. Und ich habe noch nie etwas davon gehört, dass Linksextremisten aus der Asservatenkammer der Polizei Waffen geklaut haben oder dass ein SEK ausgetauscht werden musste, weil es von Linksextremisten durchsetzt ist. Und nochmal: Wir sagen klar, dass niemand andere Menschen verletzen darf.
watson: Sie haben angesprochen, dass Linken-Politiker regelmäßig Opfer von Gewalt werden. Auch gegen den Linke-Politiker. Mitte August wurde die sachsen-anhaltische linke Landtagsabgeordnete Christina Buchheim in Köthen bei einer Bürgersprechstunde angegriffen. Hat die Gewalt gegen Politiker aus Ihrer Sicht zugenommen – oder wird mehr darüber gesprochen?
Wissler: Aus meiner Sicht nimmt die Gewalt zu, weil die Hemmschwelle sinkt. Unter anderem durch die AfD haben sich die Grenzen verschoben und verbale Brandstiftung führt zu Gewalt. Die Gewalt betrifft aber nicht nur Politikerinnen und Politiker. Die meisten Opfer von rechter Gewalt und von Rassismus sind Menschen, die tagtäglich aufgrund ihrer vermeintlichen Herkunft, ihrer Religion oder Hautfarbe angefeindet werden. Und das wird oftmals gar nicht wahrgenommen oder ernst genommen.
watson: Sie meinen, dass der Hass inzwischen häufiger in Gewalt umschlägt?
Wissler: Ja. Man beleidigt Menschen über die sozialen Medien, man reißt einer Frau ihr Kopftuch herunter oder spuckt einen Menschen mit dunkler Hautfarbe an. Das wird mir immer wieder berichtet. Da sind die Hemmschwellen wirklich gesunken. Dieser Hass, dieser Rassismus führt zu Taten wie in Hanau, wo in einer Nacht neun junge Menschen ermordet wurden.
Schulz: Genauso ist es. Ja, es wird mehr wahrgenommen. Aber es passiert auch mehr. Irgendjemand redet im Parlament davon, dass man uns jagen soll. Auf der Straße werden vor allem Geflüchtete oder nicht-weiße Menschen attackiert.
watson: Man kann das eine tun, ohne das andere lassen: Sich stark gegen Rechtsextremismus einsetzen und immer wieder auf die Gefahr hinweisen – und andererseits diejenigen aus der eigenen politischen Richtung verurteilen, die übergriffig werden. Politiker gerade von CDU und FDP beklagen auch immer wieder, dass ihre Wahlplakate mit linken Parolen beschmiert werden. Wie finden Sie das?
Wissler: Das geht uns doch nicht anders. Unsere Plakate werden auch abgerissen und beschmiert.
watson: Aber finden Sie es okay, wenn Wahlplakate beschmiert werden?
Wissler: Nein, natürlich nicht. Wir kämpfen um die besten Plätze an den Straßenlaternen. Aber wir reißen keine Plakate anderer Parteien ab und beschmieren sie auch nicht.
Schulz: Also, ich hab' auch Besseres zu tun, so wie die meisten von uns. Ich finde das natürlich auch nicht gut. Aber wenn ein Plakat der AfD beschmiert wird, bin ich ehrlicherweise weniger traurig als bei einem CDU-Plakat. Wir haben mit der AfD jetzt eine Partei mit offenen Faschisten im Bundestag, die die Demokratie zersetzen will. Und ist es dann falsch, dagegen Sitzblockaden oder sowas zu machen? Unsere Priorität ist da eine ganz andere.
watson: Nämlich?
Schulz: Als vor 30 Jahren, 1991 in Hoyerswerda, Nazis Menschen gejagt haben, ist die Polizei abgerückt. Und Aktivisten der Antifa haben versucht, die Rechten aufzuhalten und sind dafür von der Polizei verhaftet worden. So etwas sehen wir bis heute. Ich habe mich auch darüber gewundert, was passiert ist, nachdem 2019 Walter Lübcke ermordet worden ist.
watson: Was meinst du?
Schulz: Ich hatte das Gefühl, dass das für uns Linke ein größeres Problem war als für Lübckes eigene Partei, die CDU. Das ist so unwürdig: Da wird jemand im eigenen Garten hingerichtet. Und daraus folgen fast keine Konsequenzen!
Wissler: Mir ist es kalt den Rücken hinuntergelaufen, als mir bewusst wurde, wer der Mörder Walter Lübckes ist. Ein bekannter und mehrfach vorbestrafter Neonazi. Wir Linke hatten im hessischen Landtag im NSU-Untersuchungsausschuss zu diesem Mann einen Beweisantrag gestellt. Wir haben explizit gefragt: Ist der Rechtsterrorist? Da stellt man sich schon die Frage: Wer schützt eigentlich wen?
Watson: Was meinen Sie?
Wissler: Der sogenannte Verfassungsschutz hat in vielen Fällen Neonazis geschützt und Informationen zurückgehalten. Und die Familien der NSU-Opfer wurden in den polizeilichen Ermittlungen kriminalisiert statt unterstützt. Gerade Menschen, die immer wieder rassistisch angegangen werden und keine Hilfe erfahren, verlieren das Vertrauen in die Polizei.
watson: Können Sie das an einem konkreten Beispiel erklären?
Wissler: Man muss nur den Angehörigen und Freunden der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau vom Februar 2020 zuhören. Sie erzählen, dass sie dauernd in anlasslose Polizeikontrollen kommen. Der Bruder eines der Opfer wurde angeschossen. Und anstatt ihn zu versorgen, haben Polizisten vor Ort ihn erst einmal an den Wagen gestellt und seinen Ausweis kontrolliert. Das wäre doch nicht passiert, wenn er blond und blauäugig wäre.
watson: Frau Wissler, Sie sind seit 13 Jahren hauptberuflich Politikerin. 2008 sind sie mit 26 Jahren in den hessischen Landtag eingezogen. Welchen Ratschlag geben Sie Maximilian Schulz, der noch ganz am Anfang seiner politischen Karriere steht?
Wissler: Ich glaube nicht, dass er Ratschläge von mir braucht. Wir diskutieren Themen auf Augenhöhe, da frag' ich auch mal den Jugendverband um Rat.
Watson: Gibt es etwas, dass Sie gerne schon am Anfang ihrer Karriere gewusst hätten?
Wissler: Ich war damals die jüngste Abgeordnete im Hessischen Landtag. Ich war dann auch noch im Wirtschaftsausschuss – und die CDU ist mich andauernd angegangen und hat versucht, mich vorzuführen. Man gewöhnt sich ein dickes Fell an – und merkt, dass man als junge, linke Frau immer besser vorbereitet sein muss als alle anderen, um ernst genommen zu werden. Das Entscheidende ist, dass man sich seine Überzeugung und seine Leidenschaft bewahrt. Wer das verliert, der kann das mit der Politik auch lassen.
Schulz: Das Wichtigste, das ich schon in der Politik gelernt habe, war, das sogenannte Tal des Todes zu überwinden. Das möchte ich anderen Neuen gerne vermitteln.
Watson: Wie bitte?
Schulz: Ich meine damit: Man fängt mit viel Feuer für ein politisches Thema an. Und dann zerhaut es einen, wenn es nicht so schnell klappt, wenn man immer wieder an eine Wand stößt. Dann nicht den Mut zu verlieren, das ist das Allerwichtigste, wenn man in der Politik etwas bewirken will.