Seit einigen Wochen steigt in Deutschland die Zahl der Neuinfektionen wieder an. Das Robert-Koch-Institut (RKI) erklärte bei einer Pressekonferenz kürzlich, die neueste Entwicklung der Fallzahlen bereite ihnen "große Sorgen", die Lage sei "wirklich beunruhigend".
Ute Rexroth, Leiterin des Fachgebiets Surveillance beim RKI, erklärte bei der Pressekonferenz, warum das aktuelle Infektionsgeschehen den Wissenschaftlern Sorgen bereitet: "Es ist nicht nur ein Bundesland, was durch ein großes Ausbruchsgeschehen hervorsticht – auch nicht nur ein Landkreis –, sondern es sind leider wirklich viele betroffen." Doch wie genau wird überhaupt gemessen, ob die Situation wirklich kritisch ist?
Kanzlerin Angela Merkel einigte sich Anfang Mai mit den Regierungschefs der Länder, dass die Landkreise künftig bei einer Überschreitung von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb der vergangenen sieben Tage mit neuen Beschränkungen reagieren sollen. Die Zahl 50 wurde fortan zur Obergrenze und zum wichtigsten Gradmesser des Infektionsgeschehens. Zu Beginn der Pandemie waren noch die Verdopplungszeit der Neuinfektionen und die freien Kapazitäten in den Krankenhäusern die wichtigsten Faktoren. Dann gewann die Reproduktionszahl R an Bedeutung – und nun also die 50-Personen-Obergrenze pro 100.000 Einwohner.
Schaut man jedoch nur auf diese Zahl, könnte der Eindruck entstehen, die aktuelle Lage sei gar nicht so kritisch, wie das RKI auf der Pressekonferenz mitteilte. Denn aus dem Lagebericht des RKI vom 4. August geht hervor, dass bundesweit nur ein Landkreis über der kritischen 50 Personen-Grenze liegt. Es handelt es sich um Dingolfing-Landau in Niederbayern, wo in den letzten sieben Tagen 87 Fälle gemeldet wurden. Dort wurden vor einigen Tagen mehr als 270 Erntehelfer positiv auf Corona getestet. Wie der Landkreis jedoch am Dienstag mitteilte, wurden zusätzlich 166 Mitarbeiter einer Konservenfabrik positiv auf das Virus getestet. Die Zahl der Infizierten in Dingolfing-Landau dürfte sich demnach weiter erhöhen.
Alle anderen Landkreise liegen laut RKI unter dem 50er-Grenzwert. Doch das ist nicht unbedingt ein Grund zur Entspannung, denn gleichzeitig steht in dem Bericht auch, dass "der Anteil an Kreisen, die über einen Zeitraum von sieben Tagen keine COVID-19-Fälle übermittelt haben, deutlich zurückgegangen" ist. Dieser Trend sei "beunruhigend".
Die Reproduktionszahl R, auch R-Wert genannt, die angibt, wie viele Menschen im Durchschnitt ein Infizierter ansteckt, ist zuletzt deutlich in den Hintergrund gerückt. Wochenlang war sie der wichtigste Faktor und gab ein eindeutiges Ziel vor. R musste unbedingt unter 1,0 fallen, um die Pandemie im Griff zu haben. Unvergessen die Pressekonferenz von Kanzlerin Angela Merkel, in der sie die Wichtigkeit und Bedeutung des R-Wertes detailliert aufdröselte.
Im Lagebericht des RKI vom 4. August wird der R-Wert im Durchschnitt der vorherigen vier Tage auf 1,02 geschätzt. Damit liegt die Zahl wieder knapp über dem kritischen Wert von 1,0. Sollten wir die Pandemie also lieber wieder an diesem Wert bemessen? Wann wird der R-Wert wieder wichtig?
Eine Sprecherin des RKI klärt auf: "Der R-Wert gewinnt an Bedeutung, wenn die Infektionszahlen höher sind", erklärt sie gegenüber der "Welt". Das illustriert sie an einem Beispiel: Wenn in einem Landkreis zehn Menschen infiziert sind und der R-Wert bei drei liegt, stecken sich insgesamt 30 Einwohner an. Sind allerdings 100 Menschen infiziert und der R-Wert liegt bei drei, stecken sich 300 weitere Menschen an. Daraus folgt: Je höher die gesamten Fallzahlen, desto relevanter der R-Wert.
Sind die Fallzahlen also schon wieder so hoch, dass wir uns den R-Wert jetzt wieder genau ansehen müssen? Ja. Aber nicht nur. Eine Sprecherin des RKI erklärt gegenüber watson: "Es gibt nicht den einen Messwert, mit dem sich das Geschehen bewerten lässt. Um die Situation einschätzen zu können, müssen immer viele verschiedene Faktoren zusammen angeschaut werden – darunter die Zahl und Umstände der täglichen Neuinfektionen (die so klein bleiben sollte, dass die Gesundheitsämter mit ihnen umgehen können), die Anzahl schwerer Verläufe, die Kapazitäten von Krankenhäusern."
Der Wert von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen 7 Tagen sei dagegen vor einiger Zeit als sinnvolle Größenordnung von der Politik festgelegt worden, um auf lokaler Ebene rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, so die Sprecherin weiter.
Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sieht momentan zwei wichtige Zahlen. "Entscheidend sind im Moment der R-Wert plus die absolute Zahl der Fälle pro Tag", sagte der SDP-Politiker der "Welt". Der R-Wert unterliege weniger Schwankungen, wenn die täglichen Neuinfektionen über 1.000 steige. Dann gewinne R also wieder an Relevanz. Vergangene Woche war die Anzahl der täglichen Neuinfektionen erstmals seit Mai wieder auf über 1000 angestiegen. Am 3.8. wurden 879 neue Corona-Infektionen vom RKI gemeldet.
(lau/mit Material von dpa)