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Armut als Stigma: Menschen wehren sich auf Twitter, sich dafür schämen zu müssen

Bahnreisende,Menschen ,Passanten,Personen in der Ankunftshalle am Hauptbahnhof Muenchen am 14.03.2022.
Armut ist unsichtbar, wird unsichtbar gemacht. Auf Twitter machen Betroffene jetzt auf sich aufmerksam.Bild: SVEN SIMON / Frank Hoermann/SVEN SIMON
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Armut als Stigma: Wie sich Betroffene dagegen wehren, sich für ihre Armut schämen zu müssen

16.05.2022, 11:50
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Armut sei ein Kampf gegen Scham, Vorurteile, Selbstzweifel, Existenzängste, Sorgen, Druck, Verachtung, Demütigung, Diskriminierung: So beschreibt es eine Userin auf Twitter. Und sie ist nicht die einzige, die sich jetzt zu der eigenen Armut öffentlich äußert. Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen erzählen Menschen in diesen Tagen nicht nur, dass sie arm sind, sondern auch, warum. Einige sogar mit Foto von sich.

Armut ist in Deutschland oft weitgehend unsichtbar. Jetzt ist das Thema ein kleines bisschen mehr im Fokus als sonst. Unter dem Twitter-Hashtag bestärken sich Betroffene gegenseitig.

Dass sie sich in großer Zahl öffentlich äußern, sei gut und sei schon mal ein Schritt voran, findet Armutsforscher Christoph Butterwegge. "Denn in einem reichen Land, wo sie als Leistungsverweigerer und Versager gelten, verstecken sich Arme normalerweise", sagt er im Gespräch mit watson. Jetzt würden Betroffene sehen: Sie sind nicht allein.

Christoph Butterwegge bei einem exklusiven Photoshooting vor bei seinem Vortrag Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland im Domforum. K�ln, 10.02.2020 *** Christoph Butterwe ...
Professor Christoph Butterwegge forscht zu Armut und Reichtum.Bild: www.imago-images.de / Christoph Hardt

Betroffene berichten von Erkrankungen

Viele Leute schreiben auf Twitter, dass sie von psychischen und gesundheitlichen Erkrankungen betroffen seien. Manche bringen ihren Gesundheitszustand auch mit der Armut in Verbindung.

Natürlich kennt Butterwegge die Personen und Geschichten hinter den Tweets nicht. Für watson hat er aber eine Einschätzung gegeben, woher die zahlreichen Berichte Armutsbetroffener über psychische Erkrankungen kommen könnten.

Er schätzt, dass in manchen Fällen Ursache und Wirkung vertauscht werden könnten. Denn es sei häufig so, dass nicht auf die Erkrankung die Armut folgt, sondern genau umgekehrt.

"Ich vermute, dass manche von ihnen nicht arm geworden sind, weil sie psychische oder gesundheitliche Probleme hatten, sondern, weil sie arm sind, haben sie gesundheitliche und psychische Probleme bekommen."
Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Das Klischee des Hartz IV-Empfängers

Arme Menschen müssen sich immer wieder anhören, dass sie 'faul' sind oder 'dumm'. Sie werden stigmatisiert, damit zum Teil jahrhundertealte Klischees bedient.

Auch das führe zu psychischen Problemen, "wenn sie immer eine Rechtfertigungshaltung einnehmen und erklären müssen, warum sie keine 'Drückeberger', 'Faulenzer' oder 'Sozialschmarotzer' sind", erklärt Butterwegge.

Auch von solchen Erfahrungen berichten Betroffene auf Twitter.

Im Allgemeinen seien Arme häufiger von Krankheiten betroffen. Das habe sich in der Corona-Pandemie noch einmal verstärkt. "Wer arm ist, muss eher sterben", sagt er. "Arme hatten während der Covid-19-Pandemie ein höheres Infektionsrisiko und ein höheres Sterberisiko. Weil ihre Arbeits- und Lebensbedingungen einfach schlechter waren."

Arme hätten zum Beispiel am Fließband gestanden oder als Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften gewohnt, hätten Jobs, zu denen sie mit Bus und Bahn fahren mussten. Wohlhabende hätten dagegen überwiegend im Homeoffice arbeiten oder mit dem Auto zum Büro fahren können und seien deshalb geschützter gewesen.

Mit all den Auswirkungen der Covid-Pandemie auf Armut und Reichtum, auf Ungleichheiten, beschäftigt sich der Kölner Professor auch in seinem neuen Buch "Die polarisierende Pandemie", das in der kommenden Woche erscheint.

Systemisches Versagen?

Twitter-User erklären jetzt, dass nicht sie selbst Schuld seien, sondern, sondern dass das politische System für die Armut verantwortlich sei.

Auch Butterwegge bemängelt den politischen Umgang mit dem Thema Armut. Er beobachte schon lange, dass die politisch Verantwortlichen die soziale Ungleichheit fördern, statt sie zu verringern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Auch während der Pandemie habe sich das gezeigt.

Schon durch die Corona-Pandemie sind Lebensmittelpreise gestiegen. Durch den Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine hat sich diese Situation noch verschärft.

Auch jetzt erführen wieder vor allem solche Personengruppen Unterstützung, die als Leistungsträger gelten, zum Beispiel steuerpflichtige Erwerbstätige bei der Energiepreispauschale, die Auszubildende, Studierende sowie Rentnerinnen und Rentner nicht bekämen, kritisiert der Armutsforscher. "Die Bevölkerungsgruppen, die schon vor der Pandemie arm waren, hat man kaum mit Hilfen unterstützt."

Persönliche Geschichten, die gehört werden wollen

Auch Nichtbetroffene schalten sich auf Twitter ein, solidarisieren sich. Sie fordern die Politik auf, das Thema nicht zu ignorieren.

Sie fordern, den Betroffenen, die sich in dem sozialen Netzwerk öffnen, Gehör zu schenken.

Denn hinter den Tweets stehen Menschen, die individuelle Geschichten – und die wollen gehört werden:

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