Rechten den Platz nehmen, dass war die Intention des Netzwerkes "Leipzig nimmt Platz".Bild: dpa / Jan Woitas
Vor Ort
Immer wieder ist Sachsen in den Nachrichten: meistens mit negativen Schlagzeilen. Anti-Corona-Proteste, Anti-Geflüchteten-Proteste, faschistische Aufmärsche. Ist das wirklich alles, was Sachsen zu bieten hat? Dieser Frage möchte unsere Autorin nachgehen. Deshalb verbringt sie fünf Tage vor Ort. Schaut sich um, spricht mit Menschen. Am Montag hat sie eine pro-demokratische-Demonstration gegen Coronaleugner besucht, und einen friedlichen Protestmarsch von Impfverweigerern.
Zehn Menschen stehen um die Demokratieglocke auf dem Augustusplatz in Leipzig. Sie halten ein rot-weißes Flatterband in den Händen. Um sie herum: Eine Schar von Menschen, teils bunt gekleidet, teils ganz in Schwarz. Alle sind maskiert, stehen herum und warten ab.
Es liegt eine seltsame Stimmung in der Luft an diesem Montagabend. Aufregung, Erwartung, Anspannung.
Bild: Imago / Dirk Sattler
Einer der Flatterband-Halter spricht in ein Mikrofon. Erklärt, was die Menschen auf dem Augustusplatz an diesem Abend zu beachten haben: höchstens zehn Personen pro Versammlung. Außerdem müssen die Veranstaltungen ortsfest sein, also an einem Ort bleiben. So will es die Corona-Notfall-Verordnung, die bis zum 14. Januar gilt. "Wenn die Obergrenze erreicht ist, geht bitte weiter. Auf dem Markt gibt es auch Versammlungen", heißt es aus dem Lautsprecher.
Das Netzwerk "Leipzig nimmt Platz" hat insgesamt 16 Versammlungen angemeldet. Platz für 160 Menschen also. Auf dem Markt, an der Thomaskirche, am Neuen Rathaus, an der Nikolaikirche, auf dem Augustusplatz – ein beliebter Ausgangspunkt für jene Menschen, die mittlerweile an den Montagen unangemeldet und damit illegal gegen die Coronamaßnahmen und die Impfpflicht demonstrieren.
Sie nennen es "Spaziergänge".
Irena Rudolph-Kokot ist die Sprecherin von "Leipzig nimmt Platz".Bild: dpa / Jan Woitas
Mitinitiatoren und Koordinatoren der Proteste sind die "Freien Sachsen". Eine rechtsextreme Kleinstpartei. Ihr Parteivorsitzender: Martin Kohlmann, der Gründer der rechtsextremen Bürgerbewegung "Pro Chemnitz".
Via Telegramchannel informieren die Administratoren, wann in den verschiedenen Ortschaften diese Protestläufe starten. Sie updaten auch mit Videos und Fotos von den verschiedenen Zusammenkünften. In den Kommentarspalten: Glückwünsche für gelungene Aktionen, aggressives Hochschaukeln gegen Polizei und Gegendemonstrierende und Tipps, wo sich ebendiese aufhalten. "Nur Antifa in Leipzig-Zentrum. Wie aggro die für 'ne Bratwurst werden ist echt lustig", schreibt einer. "Antifa-Systemnutten, wie immer unter Polizeischutz", antwortet ein anderer.
Leipzig ist oft nicht repräsentativ für den Freistaat Sachsen: zu weltoffen, zu bunt, zu laut. Die Linke Szene ist im Stadtteil Connewitz stark vertreten – ähnlich wie im Hamburger Schanzenviertel oder auch in Berlin-Kreuzberg. Viele Studierende aus der ganzen Welt lassen sich dort nieder. Auch bei der Bundestagswahl war die Stadt ein Ausreißer. Der Wahlkreis Leipzig II: eine Insel der Linken im blauen AfD-Meer.
Geht es aber um Demos gegen Coronamaßnahmen oder die selbsternannten "Spaziergänge", ist Leipzig wiederum oft genug repräsentativ für den Rest des Bundeslandes. Ebenso, die Leipziger Zivilgesellschaft, die Gegenaktionen plant.
"Es kommt zu verbalen Auffälligkeiten, die Richtung Straftaten gehen"
Irene Rudolph-Kokot, Sprecherin von "Leipzig nimmt Platz"
Das Netzwerk "Leipzig nimmt Platz" hat sich an diesem Abend vorgenommen, den Coronaskeptikern schlicht den Raum zu nehmen. Zehn der angemeldeten Versammlungen sind auf dem Augustusplatz. Immer wieder laufen vereinzelt Menschen durch die Menge, die entweder keine Mund-Nasen-Maske tragen, oder diese doch noch schnell hochziehen. Kurzzeitig stehen einige derer, die möglicherweise an diesem Abend hätten "spazieren" wollen, gegenüber des Platzes. Viele sind es aber nicht.
"Wir haben diese Protestzüge nun schon öfter begleitet und das ganze kritisch beobachtet", sagt Irena Rudolph-Kokot. Sie ist Teil von "Leipzig nimmt Platz". Hat den Gegenprotest mitorganisiert. "Die Gemengelage der Menschen, die da hinkommen, ist sehr vielfältig", erzählt sie weiter. Es gebe Menschen, die fühlten sich von der Impfpflicht stark betroffen und sähen nicht genau hin, mit wem sie da laufen.
Nach wie vor ist Sachsen das Schlusslicht in Sachen Impfung: Laut "Statista" waren am 7. Januar 2022 gerade mal 60,9 Prozent der Bevölkerung des Freistaates doppelt geimpft. 32,8 Prozent geboostert. Zum Vergleich: Beim Spitzenreiter Bremen waren es am selben Tag 83,8 Prozent Doppeltgeimpfte. 44 Prozent der Hanseaten sind geboostert.
Die Polizei hält Demonstrierende zurück.Bild: dpa / Jan Woitas
Es gebe aber auch jene, die schon komplett abgetaucht seien in Verschwörungserzählungen. "Bei denen kommt es auch ganz oft zu einer Distanzlosigkeit", sagt Rudolph-Kokot. Diese Menschen kämen häufig ohne Maske sehr nah an Gegendemonstrierende heran. Was aber auch oft passiere: "Es kommt zu verbalen Auffälligkeiten, die Richtung Straftaten gehen. Oft machen Menschen aber auch Porträtaufnahmen oder Videos."
Und das passiert auch an diesem Abend auf dem Augustusplatz: Einer der wenigen Anti-Corona-Demonstranten geht mit seinem Handy und ohne Maske auf den Versammlungskreis von "Leipzig nimmt Platz" geradewegs zu. Es ist der Youtuber "Weichreite TV". Ein schwarz gekleideter Demonstrant folgt ihm, rempelt ihn um. Die Polizei schreitet ein, drängt beide auf die andere Straßenseite. Die Situation ist unübersichtlich.
"Er hat mein Handy", ruft der Youtuber lautstark.
"Ich hab gar nichts", schreit der Schwarz gekleidete.
Sie werden umringt von Polizisten und noch mehr Demonstrierenden. Schließlich wird der Schwarz gekleidete von der Polizei weggebracht, auch der Filmer folgt einem Beamten.
Die Polizei ist stark vertreten an diesem Abend in Leipzig. Sie geht immer wieder auf die Versammelten zu, weist sie darauf hin, dass es zu viele sind. "Lassen Sie uns bitte erst einmal ordentlich sortieren", sagt der Mann mit dem Mikrofon. Eine Reihe von Polizisten versperrt außerdem den Weg vom Augustusplatz zum Markt. Auch mit Presseausweis ist an diesem Punkt kein Durchkommen.
Die Polzei war in Leipzig stark vertreten.Bild: dpa / Jan Woitas
Offene Briefe als Gegenprotest
Gegenaktionen gibt in fast allen sächsischen Städten – mal gehen die Menschen auf die Straße, treffen sich zu Mahnwachen und Kundgebungen. Mal schreiben sie offene Briefe, in denen sie zu Besonnenheit aufrufen oder erklären, dass jene, die abends auf der Straße sind, nicht das Volk seien. Die Kernbotschaft all jener pro-demokratischen Bewegungen: Nur, weil die Coronaleugner laut sind, sind sie nicht die Mehrheit.
Die Initiative "Freiberg für alle" schreibt zum Beispiel:
"Wir sind sauer, wir sind wütend und wir wollen das nicht länger hinnehmen! Wir fordern die Spaziergänger auf, dieses weitere Befeuern der Pandemie zu unterlassen. Von der Politik erwarten wir, diese illegalen Demonstrationen nicht länger zu dulden. Es gelten Regeln und die gelten für alle."
5.299 Menschen haben den Brief mittlerweile unterschrieben. Insgesamt hat die Universitätsstadt Freiberg knapp 40.000 Einwohner. Auch dort zeigt die Zivilgesellschaft an diesem Montagabend Gesicht. Ist Präsent.
"Unsere erste Aktion haben wir im Advent gemacht", sagt Claudia Kallmeier. Sie ist eines der Mitglieder von "Freiberg für alle". Es gehe der Gruppierung vor allem darum, zu zeigen, dass eben nicht ganz Freiberg so denke. Die Gegenaktionen seien immer angemeldet und coronakonform. "Selbstverständlich soll man seine Meinung offen sagen dürfen. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut. Was uns aber an diesen sogenannten 'Spaziergängen' stört, ist, dass sie nie angemeldet sind und somit niemand dafür die Verantwortung übernimmt. Dabei sind es definitiv Demos", sagt Kallmeier.
Das Ziel der Initiative formuliert Kallmeier so:
"Wir möchten dafür werben, dass wir diese Situation zusammen durchstehen können. Auch wir wünschen uns nichts mehr, als dass diese Pandemie endlich zu Ende geht. Wir leiden genauso unter den Einschränkungen, aber für uns ist der Weg raus aus der Pandemie ein anderer. Es ist klar, dass Maßnahmen notwendig sind. Die 'Spaziergänger' hingegen tragen eigentlich gar nichts dazu bei. Es kommen keine Lösungsvorschläge, sie sind immer nur dagegen."
"Die Grundstimmung ist aggressiver geworden", sagt Kallmeier. Parolen würden skandiert, Polizeiketten durchbrochen. "Wir wollen nicht in der Haut der Polizei stecken", sagt sie und stellt klar: "Das ist bestimmt keine leichte Aufgabe, aber wir haben schon das Gefühl, dass man konsequenter durchgreifen könnte."
Anders als in Leipzig allerdings läuft in Freiberg die Situation am Montagabend aus dem Ruder. Etwa hundert Demonstrierende durchbrechen nach Informationen der Welt die Polizeikette, während die Beamten Schlagstöcke einsetzen.
Im Leipziger Zentrum kommt es nicht einmal zu einem richtigen Protestzug der Impfverweigerer. Durch die große Präsenz von Gegendemonstrierenden und Polizei gibt es keine Möglichkeit, sich in großer Gruppe auf dem Augustusplatz an der Oper zu treffen – wie es eigentlich geplant war. Stattdessen sind die Coronaleugner versprengt. Ein großer Erfolg für das Leipziger Netzwerk.
Volle Gehwege in Markkleeberg
Ganz anders sieht es wenige Kilometer weiter südlich aus: In Markkleeberg sind an diesem Abend weder Polizisten, noch Gegendemonstrierende oder Medienvertreterinnen zu sehen. Stattdessen läuft der Protestzug unbehelligt um 19 Uhr am Bahnhof los. Die Stimmung: Völlig anders als in Leipzig. Hier ist nichts aufgeheizt, nichts aufgeregt. Vielmehr hat es Ähnlichkeiten mit einem St. Martinsumzug – nur ohne Gesang.
Die Menschen tragen Kerzen und Lichterketten. Skandiert wird nichts. Keiner ruft nach einem Ende der "Corona-Diktatur", wie es sonst schon so oft auf Anti-Corona-Demos gemacht wurde.
Kaum ist die Menge in Bewegung, ertönt das Signal, das man von Bahnübergängen kennt, wenn gleich die Schranken runterfahren. Ein Teil der Impfgegner ist bereits über die Schienen gelaufen, der Rest muss dahinter warten. "Anhaaalten", ruft jemand von ganz hinten. "Stopp, wartet", wird die Bitte nach vorne weitergetragen. Die Impfgegner kommen zum Stehen, bevor sie richtig losgelaufen sind. Hier und da ist ein Lachen zu hören. Ein Stimmengewirr. Eine Frau in gelber Jacke, die offensichtlich so etwas wie die Leiterin ist, flitzt zu den Gleisen. Schaut, dass alle nach Öffnung der Schranken hinüberkommen. Läuft wieder an die Spitze des Zuges.
Die Markleeberger Demonstrierenden laufen auf dem Bürgersteig.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Es geht weiter. Mitten durch die Stadt mit den vielen Seen. Keine Spur von Menschen, die den Protestmarsch stoppen könnten. Bis er von alleine stoppt. Beim Abbiegen auf eine andere Straße kommt es zu einer Verzögerung in den vorderen Reihen. Ein kurzes Innehalten, ehe weitergelaufen wird. Langsam ist eine Anspannung zu merken. Die Demonstrierenden scheinen selbst kaum glauben zu können, dass bisher noch keine Polizei aufgetaucht ist.
Wie viele es sind, ist schwer zu schätzen. "Vielleicht 200, was meinst du?", fragt eine Frau ihre Laufpartnerin. "Ganz schwierig einzuschätzen", antwortet diese und beginnt damit hochzurechnen. "Vor uns könnten circa 50 Leute sein, oder zumindest mehr als 30." Die beiden Frauen befinden sich in der vorderen Hälfte des Zuges. "Da kommt gleich der Lidl-Parkplatz, da haben sie uns das letzte Mal abgefangen", sagt die erste Frau.
Mit "sie" ist die Polizei gemeint. "Wenn sie da wären, dann hätte uns doch schon jemand von vorne gewarnt", sagt die andere. Der Zug passiert den Lidl-Parkplatz. Warten tut dort niemand, auch keine Polizei. Gefahr gebannt. Weiter gehts.
Einer der Protestanten dokumentiert den Zug.Bild: watson / Rebecca Sawicki
Die beiden Frauen unterhalten sich über Urlaubsziele, die für Ungeimpfte sinnvoll sind: "Als ich in Stockholm war, konnte ich die Maske ausziehen, sobald ich aus dem Flieger gestiegen bin", sagt die eine. Ein Mann wirft noch Bulgarien in den Ring, ehe darüber diskutiert wird, ob die tschechischen Skigebiete wohl streng kontrollierten. Von den 2G-Regeln im Handel zeigen sie sich unbeeindruckt. "Dann kauf ich halt nichts", schließt die eine die Diskussion.
Der stumme Protestzug passiert eine Unterführung. Auch hier wartet niemand. Das Gemurmel wird lauter, die Anspannung, die zwischenzeitlich zu spüren war, fällt augenscheinlich ab. Bis das Blinken des Blaulichts zu sehen ist. Drei Mannschaftswagen warten vor dem Markleeberger Rathaus. Der Zug stoppt. "Gehen Sie bitte heim", sagt der Polizist. Viele der Impfgegner ziehen sich zurück. "Hast du Angst?", fragt einer seine Frau. "Ne, aber Eskalation ist unnötig, lass uns einfach gehen", antwortet diese. Sie drehen um.
Die Polizisten bleiben höflich, fordern die Protestierenden auf, zu gehen. Der Ton ist ruhig. Ganz anders als in Leipzig. Die deeskalierende Herangehensweise zeigt Erfolg: Der Zug löst sich auf. Die Polizisten steigen wieder in ihre Autos und fahren los. Hier und da stehen noch einzelne Grüppchen. Nach und nach machen auch sie sich auf den Heimweg. Auf dem Rückweg sind die Mannschaftswagen noch einige Male zu sehen, sie patrouillieren. Doch es bleibt ruhig.