Putin hat es getan. Russische Panzer rollen seit der Nacht von Montag auf Dienstag in die ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk, die teilweise von prorussischen Separatisten besetzt sind. Putin hat beide Gebiete nun als unabhängige Staaten anerkannt. Selbsternannte Volksrepubliken.
Bereits in den Tagen zuvor hatten viele Länder ihre Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, die Ukraine zu verlassen – darunter Deutschland. Regierungschef auf Regierungschef besuchte Wladimir Putin, den Präsidenten der Russischen Föderation, im Kreml und sprach mit ihm an einem absurd langen Tisch.
US-amerikanische Geheimdienste hatten Präsident Joe Biden mit immer neuen Einmarsch-Daten versorgt, während der britische Premierminister Boris Johnson vor dem "größten Krieg" seit 1945 gewarnt hatte.
Was Putin wirklich will und ob ein 3. Weltkrieg bevorsteht, darüber sind sich auch jetzt, nach der jüngsten Eskalation des Konflikts, Militärexperten uneins. Tag für Tag spitzt sich die Situation zu.
Wie blickt die russische Bevölkerung auf die aktuelle Situation? Wie zufrieden sind Russinnen und Russen mit ihrem Präsidenten? Und wollen sie einen Krieg? Diese Fragen hat watson jungen Menschen aus Russland gestellt – und dem Slavisten Alexander Wöll, der seit Jahren zum flächenmäßig größten Land der Welt forscht. Die Gespräche fanden am 22. Februar statt: also zwei Tage vor der offiziellen Kriegserklärung Russlands.
Slavist Alexander Wöll sagt: "Unter den jungen Russen – auch denen, die hier an der Uni studieren, ist in vielen Teilen Lethargie vorherrschend – in Deutschland würden wir das Politikverdrossenheit nennen." Wöll ist Professor für Slavistik, Kultur und Literatur Mittel- und Osteuropas an der Uni Potsdam. Seine Länderschwerpunkte: unter anderem Russland, Belarus und die Ukraine.
Mit mehr als 70 weiteren Osteuropa- und Sicherheitsexperten unterschrieb er bereits im Januar einen offenen Brief an die deutsche Regierung, in dem gefordert wird, die Russlandpolitik zu korrigieren. Wöll und die Mitunterzeichnenden finden, dass Deutschland gegenüber der Regierung Putin zu stark kuscht – und andere Saiten aufziehen sollte. In dem Schreiben steht unter anderem, die Russische Föderation sei durch ihr Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat und die Stärke ihrer Armee einer der militärisch sichersten Staaten der Welt. Weiter steht in dem Brief: "In Russland lagern heute mehr Nuklearsprengköpfe als in den drei Nato-Kernwaffenstaaten USA, Großbritannien und Frankreich zusammen."
Deutschland habe viele Fehler gemacht – genannt werden in diesem Zusammenhang die direkt mit Russland verbundenen Ostsee-Pipelines Nordstream 1 und 2. Und die aus Sicht der Experten viel zu milden Wirtschaftssanktionen, die auf die Annexion der Krim im Jahr 2014 folgten. Die Unterzeichner fordern, dass Deutschland den ostpolitischen Sonderweg verlässt. Sie schreiben: "Die Verbrechen Nazideutschlands auf dem Territorium des heutigen Russlands 1941 bis 1944 sind nicht zur Rechtfertigung bundesdeutscher Zurückhaltung bei der Reaktion auf den Revanchismus und Völkerrechtsnihilismus des Kremls geeignet."
Wöll war nach eigenen Angaben in Moskau, als 1991 die alte Elite der Sowjetunion gegen den Staatschef und demokratischen Reformer Michail Gorbatschow putschte. Damals habe es einen solchen Freiheitsdrang und eine Aufbruchsstimmung gegeben, dass Wöll sich nicht hätte träumen lassen, dass Russland erneut unfrei sein könnte. Doch dann sei der Transformationsprozess unter der Präsidentschaft Boris Jelzins in Teilen schiefgelaufen, es habe Chaos geherrscht. "So sehr, dass die Leute im Jahr 2000 jemanden zum Präsidenten haben wollten, der den Starken spielt – entschieden wurde das damals aber eh nicht demokratisch", fasst Wöll zusammen. In diesem Jahr wurde Wladimir Putin das erste Mal Präsident.
Die Frustration sei gekommen, als klar wurde, dass unter Putin die Demokratie nur noch schöner Schein war. Mit der Annexion der Krim habe sich diese Lage weiter verschärft. "Alle Russen, die ich kenne, haben einerseits eine tief sitzende Angst und sind auf der anderen Seite wahnsinnig frustriert", sagt Wöll. Nachdem es wegen Wahlbetrugsvorwürfen im Jahr 2011 Unruhen in Moskau und St. Petersburg gegeben hatte, schritten die Sicherheitskräfte brutal ein – und nahmen Journalisten und Demonstrantinnen in Gewahrsam.
Wöll drückt den Zustand von Russland unter Putin in vier Wörtern aus: "Es ist ein Terrorsystem."
"Natürlich wollen viele junge Russen keinen Krieg gegen die Ukraine führen, aber die werden nicht gefragt", fasst der Slavist zusammen. Aber es gebe natürlich auch die andere Seite: die Putin-Jugend Naši.
Wöll vergleicht diese sogar mit der Hitlerjugend im Deutschland der Nazizeit. Er sagt: "Viele sind jung und naiv und kommen dann später nicht mehr raus. Es gibt Berichte, dass sie auch bedroht werden." Dass es große Gruppen nationalistischer Jugendlicher in Russland gebe, zeigten laut Wöll auch diverse Statistiken.
Auch bei den älteren Russen gebe es breite Unterstützung für Putin. "Gerade bei den 60- bis 90-Jährigen ist es eher der Fall, dass sie sich weiterhin einen starken Mann wünschen", sagt Wöll. Vor allem dann, wenn sie zu Sowjetzeiten besser gestellt gewesen seien oder sie die alte Zeit verklärten. "Sie wollen Ruhe und Stabilität. Das sind die Traumatisierten der Jelzin-Zeit, aus heutiger Sicht eben die großen Verlierer jener Jahre", führt der Wissenschaftler aus.
Auch Russlanddeutsche sind laut Wöll häufig Pro-Putin eingestellt. Der Wissenschaftler erklärt dies mit der russischen Propaganda, die bis nach Deutschland reicht. Er sagt: "Oft ist die Integration der Russlanddeutschen in den 90er Jahren einfach schiefgelaufen – die Menschen lebten wie unter einer Glasglocke und konsumieren bis heute nur russische Medien, wie Russia Today oder Sputnik."
Ein wichtiges Buch, wenn Menschen verstehen wollen, was in Russland passiert, sei "Der Weg in die Unfreiheit" von Timothy Snyder, findet Wöll. Warum, erklärt er so:
Wie weit der Arm des Kremls reicht, habe der Tiergartenmord 2019 in Berlin gezeigt: Ein russischer Agent tötete am hellichten Tag einen mutmaßlichen tschetschenischen Terroristen in Berlin. Wöll berichtet von russischen Diplomaten und Botschaftern, zu denen er noch Kontakt hat und sagt: "Die sagen mir tatsächlich, 'Wir wollen den Westen zerstören' und geben das anvisierte Ziel offen preis, weiter im Westen alles Stück für Stück zu demontieren und die Demokratien zu zerstören."
Drastische Worte zum gesellschaftlichen und politischen Zustand Russlands findet auch Sergei Kabatskij. Kabatskij ist Analyst und hat einen Bachelor in Politikwissenschaften der Wirtschaftshochschule in Moskau. Sich selbst bezeichnet er als "Kritiker des Putin-Regimes seit der Annexion der Krim". Mittlerweile studiert er in den Niederlanden, trotzdem verfolgt er die aktuellen Entwicklungen in seiner Heimat.
Unabhängige Medien gebe es kaum noch, Kreml-Kritiker verließen entweder das Land oder dürften nicht frei sprechen. Kabatskij sagt: "Die aktuelle Situation in Russland ist nicht mehr und nicht weniger als eine Diktatur."
Kabatskij ist nicht davon überzeugt, dass sich die Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates im Kreml in Bezug auf die aktuelle Situation einig sind. Kabatskij meint gegenüber watson: "Es gibt keine Möglichkeit, dass Politiker in der gegenwärtigen Situation Einwände gegen den Präsidenten erheben könnten." Durch die Anerkennung von Donezk und Luhansk habe Putin aus Sicht des Analysten zwar keine Gewissheit in die Situation gebracht, sie dafür aber weiter verschlimmert.
Kabatskij führt seine Sicht der Dinge aus:
Kabatskij kommt auf die Rede Wladimir Putins am Montag zu sprechen, in der der russische Präsident die Ukraine als Aggressor dargestellt hat:
Weiter führt Kabatskij aus:
Aus Sicht des Analysten versucht Putin auf diese Weise ein Bild zu zeichnen, das künftige Handlungen rechtfertigen könnte. Kabatskij ist sich sicher, dass auch in Russland die Eskalation nicht gewünscht sei – stattdessen sei die Situation von Putin konstruiert worden, damit er das zu Ende bringen könne, was er 2014 mit der Einnahme der Krim begonnen habe. "Menschenleben sind Putin nicht wichtig, stattdessen denkt er imperial und betrachtet die Ukraine nicht als unabhängigen Staat", meint Kabatskij.
Insgesamt werde der Konflikt in Russland unterschiedlich wahrgenommen: Zwar seien alle Menschen, die er kenne und die zumindest einige unabhängige Medien konsumierten, kritisch gegenüber dem Einmarsch in die Ukraine – nur wenige würden ihren Ärger aber offen kundtun. "Die meisten von ihnen haben wirklich Angst wegen der Unsicherheit", fasst er zusammen und stellt klar: "Wir dürfen nicht vergessen, dass eine Mehrheit der Russen in den vergangenen Jahren apathisch und unpolitisch geworden ist." Die Gründe seien vielschichtig: Kabatskij nennt die psychische Gesundheit und das Sicherheitsbedürfnis. Die schweigende Mehrheit würde sich aber auch einfach nicht dafür interessieren.
"Das bedeutet, dass keiner mit Sicherheit weiß, wie russische Bürger die Situation wahrnehmen – nicht einmal russische Behörden", stellt er klar. Trotzdem ist der Analyst davon überzeugt, dass die Mehrheit der Russen einen Krieg ablehne, selbst Anhänger des Regimes seien nicht begeistert. Und anders als 2014, als Russland die Krim annektierte, sei die wirtschaftliche Lage der Föderation heute noch schlechter, gleichzeitig sei die Propaganda weniger effektiv, weil "die Ideen ausgehen".
Zusammenfassend prognostiziert Kabatskij: "Putin steht auf sehr dünnem Eis, weil er bereits zu weit gegangen ist."
Ähnlich deutlich wird Christina Russmann. Sie arbeitet an der Denkfabrik Zentrum für liberale Moderne in Berlin, ist in Russland geboren und kam mit fünf Jahren nach Deutschland. Sie sagt: "Natürlich war ich gestern entsetzt, aber auch nicht verwundert."
"Die russische Außenpolitik agiert schon länger kriegstreiberisch und es ist eine imperialistische Manier, die gestern vollzogen wurde – es gilt den Einmarsch der russländischen Truppen auf dem ukrainischen Territorium zu verurteilen, dass Russland seine Grenzen einfach ausweitet", führt sie fort. Die Anerkennung der Separatistengebiete sei ein Zeichen dafür, dass Russland die territoriale Souveränität der Ukraine okkupiert und das Völkerrecht missachtet, sagt sie mit Nachdruck.
Aus Russmanns Sicht haben Deutschland und die Nato die Ukraine im Stich gelassen – nicht nur jetzt, sondern bereits 2008, als die Ukraine der Nato beitreten wollte. "Man fürchtet sich vor der Reaktion Putins", sagt Russmann. Sie kommt in diesem Zusammenhang auf das politisch linke Spektrum in Deutschland zu sprechen – und meint damit nicht nur die Partei Die Linke, wenn sie auch Sahra Wagenknecht gesondert herausstellt.
Russmann sagt:
Sie selbst, sagt sie, schäme sich, aus einem kriegstreiberischen und imperialistischen Land zu stammen. "Es ist nicht nur die gestrige Invasion, es gibt auch andere Probleme in Russland." Spätestens die Schließung der größten unabhängigen Menschenrechtsorganisation Russlands, Memorial International, habe gezeigt, wohin sich das Land entwickle.
Das Ziel der Organisation war auch, an die stalinistischen Verbrechen der Sowjetunion zu erinnern und Täter ausfindig zu machen. Jetzt komme es zu einer Geschichtsrevision, findet Russmann. Und diese Geschichtsumschreibung habe man auch gestern wieder sehen können, als Putin in seiner Rede eine Umschreibung der Geschichte und eine Umkehrung der Fakten vollzogen habe: wie in der Aussage, die Ukraine sei der wahre Aggressor und kein selbständiger und souveräner Staat.
Einen Riss in der Bewertung des Russland-Ukraine-Konfliktes gebe es in Russmanns Familie nicht, bisher habe sie nur mit ihrer Großmutter über die russische Invasion gesprochen. Insgesamt sei die Großmutter vor allem traurig für die Ukraine gewesen, dass das Land nicht die Möglichkeit habe, eine freiwillige Entscheidung zu treffen.
Russmann selbst war 2014 in Moskau – also in dem Jahr, als Russland die Krim annektierte. Sie erinnert sich an die Stimmung folgendermaßen:
Sie selbst habe nicht verstanden, worauf genau die Menschen stolz waren. "Dass die Krim wieder dazugehört, der Staat die Menschen aber nicht ernähren kann? Ah, ja wunderbar", sagt Russmann. Was sie nicht verstehen kann: Das Schweigen der Bevölkerung Russlands und die Abspeisung ebendieser mit solchen kriegstreibenden Agitationen. Jegliche demokratischen Bestrebungen würden unterdrückt, die russische Aggression weite sich auf ehemalige Sowjetrepubliken aus und die Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung bliebe einfach aus.
Sie zieht ein ähnliches Fazit wie Slavist Wöll und Aktivist Kabitskiy: "Man merkt eine gewisse Lethargie in der russischen Bevölkerung." Die Funken und den Willen zur Veränderung, die es in der Bevölkerung mal gegeben habe, seien im Keim erstickt worden.
Von den anderen Staaten wie Deutschland erwarte Russmann jetzt, nicht zu verweichlichen. Es dürfe keine milden Sanktionen geben: "Putin ist auf Sanktionen vorbereitet, in seiner gestrigen Rede hat er das verdeutlicht und er hat auch keine Angst davor", sagt Russmann. Sie selbst sei zwar dafür, dass Waffen geliefert werden, unabhängig davon gebe es aber auch weitere Möglichkeiten der Ukraine, ohne scharfen Waffen zu helfen. "5000 Schutzhelme finde ich aber etwas wenig – vor allem, weil diese noch gar nicht angekommen sind."
Das Bundesministerium für Verteidigung hat am Dienstag mitgeteilt, dass die Helme zu Abholung bereitstünden, bisher aber noch nicht geklärt sei, wo die Helme hingeliefert werden sollten.
Was Russmann von den Medien erwartet: einen sensiblen Umgang mit der Sprache. Sie sagt: "Es sind keine Friedenstruppen, die nun nach Donezk und Luhansk versendet werden, dies ist ein Euphemismus, auch wenn Putin das in seiner Rede gesagt hat. Es sind Okkupationstruppen."