Patriarch Kyrill ist ein gebrechlicher Mann. Trägt er eine Kerze zum Altar, wird er gestützt. Ist das mal nicht der Fall, braucht das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche den Gehstock. Doch anders als sein Auftreten sind seine Worte: harsch, kräftig, gewaltig.
Kyrill unterstützt den Angriffskrieg in der Ukraine. Er beeinflusst die Politik, steht Kreml-Chef Wladimir Putin zur Seite. Er und seine Priester weihen Panzer und beten mit Soldaten für den Sieg. In der Propaganda-Maschinerie werden der 76-Jährige und seine Gefolgsleute ins positive Licht gerückt. Doch eine Bevölkerungsgruppe ist kaum beeindruckt: die Jugend.
Obwohl junge Menschen skeptisch sind, werden sie von der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) beeinflusst. Meist ungewollt, teils ohne es zu wissen.
In Russland bezeichnen sich rund 70 Prozent der Bevölkerung als orthodox. Der Einfluss der Kirche auf die Bevölkerung ist groß, könnte man meinen. Doch, wie die Theologin Regina Elsner sowie der Historiker und Journalist Nikolay Mitrokhin auf watson-Anfrage erklären, steht es um die ROK nicht so gut, wie man denkt.
Elsner lehrt Ostkirchenkunde und Ökumenik an der Universität Münster. Ihr zufolge besuchen nur knapp fünf Prozent der russischen Bevölkerung regelmäßig Gottesdienste oder kennen die Glaubenslehren.
Für die meisten ist die Orthodoxie etwas Kulturelles. Etwas, womit man sich als Russe identifizieren kann. "Wenn man russisch ist, ist man eben orthodox", erklärt Elsner. "Genau darüber funktioniert der Einfluss etwa von Patriarch Kyrill. Er spricht weniger als Seelsorger, sondern argumentiert vor allem mit der historischen und zivilisatorischen Größe Russlands."
Die russische Jugend distanziert sich laut der Expertin von der Kirche. "Viele sehen die Verbindung der Kirche mit der Politik kritisch und können mit den moralischen, sehr konservativen Vorstellungen der Kirche in ihrem Privatleben nicht viel anfangen", sagt sie. Wenn, dann ist die Verbundenheit von konkreten Priestern abhängig. Gibt es jemanden, der ihnen ein Gefühl von Heimat und Identität vermittelt, kann die Bindung sehr stark sein.
Die Kirche versucht seit Jahren, die Jugend zu mobilisieren. Mit Programmen, die laut Elsner "an die Jugendorganisationen der DDR oder der Sowjetunion erinnern". Gelehrt werden Patriotismus, Moral, konservative Rollenbilder von Mann und Frau. Schon an Kindergärten und Grundschulen akquiriert man Anhänger:innen – über Sportgemeinschaften, Literatur-, Kunst- oder Musikwettbewerbe.
Diese Angebote nehmen Eltern dankend an, denn ansonsten gibt es nur sehr wenige. Und: "Vielen Eltern erscheint eine kirchlich-patriotische Erziehung noch die bessere Wahl", sagt die Theologin.
Um an die Kinder und Jugendlichen heranzukommen, wurde die ROK erfinderisch – und konzentrierte sich auf Freizeitaktivitäten. Denn die alten Methoden funktionierten nicht mehr. Zu Beginn seiner Amtszeit (2009/2010) versuchte Kyrill laut Mitrokhin, der in der Forschungsstelle Osteuropa unter anderem den Schwerpunkt orthodoxe Kirche hat, der Jugend zu predigen, sprach zu Studierenden, die gezwungen wurden, in die Stadien zu kommen.
"Allerdings stellte er schnell fest, dass es nicht funktionierte", sagt Mitrokhin. Die Erkenntnis darüber macht der Experte an einem Ereignis fest:
Pussy Riot gründete sich 2011 und ist ein feministisches, regierungs- und kirchenkritisches Kollektiv. Mit Punkrock und Protestaktionen machte das Kollektiv von sich reden. Im März 2012 wurden die Mitglieder verhaftet, nun leben einige von ihnen im Exil.
In großen Gemeinden in Städten, sagt Mitrokhin, gibt es Jugendliche, die etwa nach der Schule in Seminare oder Klöster gehen oder orthodoxe Partner:innen finden möchten. Das Gleiche gilt auch für die Provinzen, "insbesondere wenn es um Familien aus dem Westen Weißrusslands und der Ukraine sowie aus Moldawien geht", erklärt der Experte. Doch hierbei handelt es sich um eine Minderheit.
Diese Minderheit werde mithilfe kirchlicher Einrichtungen sozialisiert und später durch Jobangebote oder eine aktive Mitgliedschaft an diese gebunden. Gerade diese jungen Menschen, erklärt Elsner, sind stark gefährdet, manipuliert zu werden.
Doch es ist nicht der direkte Einfluss, der die ROK zu einem mächtigen Instrument macht. Denn ein erheblicher Teil der Gesellschaft ist laut Mitrokhin nach Jahrzehnten eines atheistischen Regimes entweder scharf antiklerikal oder spezifisch gegen die ROK. Der eigentliche Weg, das Leben der Menschen zu lenken, führt über eine andere Ebene: die Gesetzgebung und der öffentliche Diskurs.
Patriarch Kyrill hatte zu Beginn des Angriffskrieges in der Ukraine von einem metaphysischen Kampf gesprochen. Er schuf ein transzendentes Bild. Der Kampf für das Gute – gegen das Böse. Was für westliche Ohren schockierend klingt, ist laut Elsner in Russland üblich: "Diese Aussage ist seit vielen Jahren durch die Kirchenleitung, aber auch durch die staatlichen Stellen, etwa im Geschichtsunterricht, vorbereitet worden."
Das Narrativ: Russland ist eine einzigartige Zivilisation, die der Westen zerstören will. Den Ursprung findet diese Idee im Kampf gegen den Faschismus. "Clash of Civilisations" – wie es viele im Westen nannten, denn auch hier hatten sich ähnliche Theorien verbreitet. Man sprach von massiven Konflikten aufgrund von grundsätzlichen Unterschieden von Kulturen.
Elsner sagt:
Wer jünger als 23 Jahre alt ist, kennt Russland nur unter dem Putin-Regime. Auch, wenn seine Präsidentschaft 2008 bis 2012 eine formelle Pause eingelegt hatte – die junge Generation ist mit diesen Ideen aufgewachsen. Zwar seien manche ins Ausland gegangen, hätten Zweifel bekommen, meint Elsner. Manche haben die Antikorruptionskampagne des Oppositionspolitikers und nun mehrfach verurteilten Alexej Navalny unterstützt. Doch danach wurden viele unter Druck gesetzt, einige reisten aus.
Die Masse der Jugendlichen ist, wie Elsner sagt, vermutlich desillusioniert und apolitisch. "Sie glauben nicht an einen metaphysischen Kampf, aber sie haben oft keine Wahl mehr, als mitzumachen."
Diese Passivität führt dazu, dass viele nicht merken, wo der Einfluss genau stattfindet. Seit Jahren erarbeitet die ROK laut Elsner Lehrmaterial wie Geschichtsbücher – zusammen mit dem russischen Bildungs- und dem Kulturministerium. Große Ausstellungen und Filme über die Geschichte Russlands werden gemeinsam konzipiert – und zum Pflichtprogramm für Schüler:innen.
Daneben ist die Kirche an Verboten beteiligt. Man will kritisches Denken verhindern, zensiert westliche Literatur und Kultur. Öffentliches Sprechen über Homosexualität ist strafbar, wird der Krieg kritisiert, diffamiert man die Armee und wird verfolgt. Elsner sagt: "Die Kirche ist oft an solchen Verboten direkt beteiligt oder unterstützt sie offen."
Das heißt nicht, dass Kyrill und seine ROK Einfluss auf die politischen Ansichten junger Menschen haben. Mitrokhin sagt, die ROK ist "für die 'fortschrittliche' Jugend in Großstädten einer der Hauptgegner".
Und doch lenkt sie noch immer deren Leben.