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Propaganda auf TikTok: Vier Tipps zum Umgang mit Bildern aus dem Ukraine-Krieg

A man walks with a bicycle in a street damaged by shelling in Mariupol, Ukraine, Thursday, March 10, 2022. (AP Photo/Evgeniy Maloletka)
Ein Mann in einer vom Krieg zerstörten Straße in der ukrainischen Stadt Mariupol. Bild: ap / Evgeniy Maloletka
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Vier Tipps zum Umgang mit Bildern und Infos aus dem Ukraine-Krieg

14.03.2022, 12:5008.06.2022, 18:27
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Der Krieg in der Ukraine ist ein Einschnitt, aus vielen Gründen. Einer davon hat mit Telegram, TikTok und Twitter, mit WhatsApp, Youtube und Reddit zu tun. Noch nie sind Bilder aus einem Kriegsgebiet in so großer Zahl und in so hoher Geschwindigkeit auf die Bildschirme der Menschen in Europa geströmt. Manchmal live, oft ungefiltert.

Junge Ukrainerinnen dokumentieren auf TikTok ihren Kriegsalltag im Bunker, auf Instagram gehen Videos ukrainischer Bauern viral, die liegengebliebene russische Panzer mit dem Traktor abschleppen. Der Ukraine-Krieg könnte der "am besten dokumentierte Krieg der Geschichte" sein, so hat es Autor Daniel Johnson schon am ersten Tag der vom Regime Wladimir Putins befohlenen Invasion auf dem Nachrichtenportal "Slate" ausgedrückt.

Das wirkt sich massiv darauf aus, wie Menschen weltweit diesen Krieg verfolgen – zumindest in den demokratischen Staaten, in denen die Bevölkerung freien Zugang hat zum Internet, ohne staatliche Firewalls und Zensurgesetze.

Die beiden Kriegsparteien wissen um die Macht dieser Bilderflut.

Der Aggressor, Putins Russland, verbreitet seit Jahren im eigenen Land und weltweit Lügen, sät Zweifel an unabhängigen westlichen Medien, verbreitet Verschwörungserzählungen. Er tut es seit Beginn der Invasion noch dreister als zuvor: "Wir haben die Ukraine nicht attackiert", sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow am Donnerstag, während russische Soldaten ukrainische Städte am 14. Kriegstag unter Beschuss nahmen.

Das Opfer der Aggression, die ukrainische Regierung, weiß auch darum. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj präsentiert sich tagein, tagaus als heldenhafter Verteidigungskämpfer, er fordert mit markigen Worten mehr Hilfe von Nato- und EU-Staaten, er prägt Zitate, die in die Geschichte eingehen werden. Auf das Angebot der US-Regierung, ihn in Sicherheit zu bringen, soll Selenskyj laut US-Geheimdienstkreisen geantwortet haben: "Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition."

Unter diesen Umständen ist die Arbeit unabhängiger, professioneller, gut ausgebildeter Journalistinnen und Journalisten enorm wichtig. Sie sind sensibilisiert für Propaganda und Desinformation. Sie wissen, dass man Informationen und Bildern aus Kriegsgebieten misstrauen muss – vor allem dann, wenn sie von einer der Kriegsparteien kommen.

Jeder Mensch mit einem Social-Media-Account trägt journalistische Verantwortung

Drei Aspekte sollte sich also bewusst machen, wer Fotos, Videos und Texte über den Ukraine-Krieg auf seinen Bildschirm bekommt:

  • Eine gigantische Flut von Bildern aus dem Kriegsgebiet schwappt gerade durch die Welt
  • Moskau und Kijw führen einen Kommunikationskrieg
  • Seriöse Medien arbeiten Tag und Nacht daran, Informationen zu prüfen und einzuordnen, Propaganda von verifizierten Fakten zu trennen.

Diese drei Begleiterscheinungen des Kriegs bedeuten, dass jeder Mensch, der einen Social-Media-Account besitzt, eine Verantwortung trägt. Jede und jeder kann dazu beitragen, ob Propaganda und Desinformation die Sicht auf den Krieg vernebeln – oder ob unabhängige Reporterinnen und Redakteure mit geprüften Fakten und Analysen durchdringen.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht und schreibt in diesem Zusammenhang seit Jahren von der Vision einer "redaktionellen Gesellschaft": Jede und jeder sollte in einer demokratischen Öffentlichkeit ein Stück journalistische Verantwortung übernehmen und sich Fragen wie diese stellen: "Was ist relevante, glaubwürdige, publikationsreife Information?" Und: "Was verdient es, öffentlich gemacht zu werden oder was sollte lieber nicht öffentlich werden?" So fasste es Pörksen, Professor an der Universität Tübingen, schon 2015 im Gespräch mit dem Radiosender "Deutschlandfunk Kultur" zusammen.

Aber was heißt das konkret für Menschen, die in WhatsApp-Gruppen oder in ihrem Feed auf Instagram oder TikTok auf Bilder und Geschichten aus dem Kriegsgebiet oder über die Kriegsparteien stoßen? Vier Handlungsempfehlungen, die weiterhelfen.

Misstraut Informationen, die zu gut zu eurer Weltsicht passen

Seit Jahrzehnten gab es wohl keinen bewaffneten Konflikt mehr auf der Welt, in dem die Rollen so offensichtlich verteilt waren: hier der Angreifer, das autokratische Russland Putins, das mit Gewalt verhindern will, dass die Ukraine sich in Richtung EU und Nato bewegt – dort das Opfer, die ukrainische Demokratie, die von Putin unter Vorwänden angegriffen wird, für die es nicht den Hauch einer Grundlage gibt ("Nazis an der Regierung", "Genozid an Russischsprachigen").

Deswegen ist für viele Menschen die Versuchung groß, alles zu glauben, was für die Ukraine spricht – und alles, was das Putin-Regime und sein Militär schlecht aussehen lässt. In der Psychologie und den Sozialwissenschaften spricht man vom "Bestätigungsfehler" oder "confirmation bias": Menschen tendieren stark dazu, Informationen zu glauben, die ihr Weltbild bestätigen. Und diejenigen zu verdrängen, die dieses Weltbild erschüttern könnten.

Während des Ukraine-Kriegs treibt der "Confirmation Bias" absurde Blüten: nicht nur bei denjenigen, die den Lügen der russischen Staatspropaganda glauben, die nicht einmal davor zurückschreckt, ukrainische Opfer von Bombenangriffen zu diffamieren. Sondern auch bei den Menschen, die aus Solidarität mit der Ukraine die kritische Distanz verlieren: Man hat das an dem Hype um ein angeblich gefälschtes Video von einem Treffen Wladimir Putins mit russischen Flugstewardessen gesehen (das offensichtlich echt ist). Oder an der viel geglaubten (und von mehreren Boulevard-Medien verbreiteten) Geschichte der früheren Miss Ukraine, die nun an der Front gegen Russland kämpfe. Sie war falsch.

Militär- und Sicherheitspolitik-Experte Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München vermutet, dass wegen des "Confirmation Bias" und des erfolgreichen ukrainischen Kommunikationskriegs viele Menschen auch die militärische Lage falsch einschätzen: Russland komme zwar nicht so schnell voran wie von Putin erhofft. Aber es komme voran, trotz der Heldengeschichten.

Ein Tipp, um den "Confirmation Bias" abzuschwächen: Misstraut Informationen, die allzu gut zu euren Wünschen passen. Googelt nach, ob seriöse Medien diese Informationen geprüft haben. Und, falls ihr Falschmeldungen enttarnt: Warnt andere Menschen davor.

Lasst euch nicht von Heldenverehrung blenden

Egal, wie dieser Krieg endet: Nach Wolodymyr Selenskyj werden in den nächsten Jahren wohl in vielen demokratischen Staaten Schulen, Plätze, Straßen benannt werden. Der Staatspräsident der Ukraine wirkt in seinen Reden an die Weltöffentlichkeit und seinen Social-Media-Videos wie der perfekte Gegenentwurf zu Wladimir Putin: nahbar, unprätentiös, charismatisch.

Die Heldenverehrung reicht von US-Late-Night-Shows bis in den Deutschen Bundestag. Klar: Selenskyj ist gerade enorm mutig. Er hat darauf verzichtet, sein Land zu verlassen – und bleibt in der Ukraine, um die Verteidigung zu organisieren und die Moral seines Volks hochzuhalten. Vielleicht liegt auch die tschechische Zeitschrift "Respekt" richtig, die Selenskyj auf dem Cover ihrer aktuellen Ausgabe als "Anführer der freien Welt" bezeichnet, weil er die ukrainische Demokratie und damit stellvertretend die westlichen Werte gegen den faschistoiden russischen Imperialismus verteidigt.

Trotzdem: Wolodymyr Selenskyj ist nur ein Mensch, mit Schwächen und Fehlern. Und er ist ein mächtiger Mensch, dessen Fehler besonders schwer wiegen. Etwa der Fehler, viel zu spät zur Mobilmachung der eigenen Armee aufgerufen zu haben. Oder seine lange unglückliche Figur in den Monaten, in denen Russland immer mehr Soldaten und militärisches Gerät an den Grenzen der Ukraine platzierte.

Ein wichtiger Tipp: Bei Heldenverehrung mächtiger Politikerinnen und Politiker sollte jede und jeder Nutzer von Social Media misstrauisch sein. Problematisch wird diese Verehrung vor allem dann, wenn Menschen beginnen, negative Fakten über die verehrte Person aggressiv abzuwehren. Siehe Punkt eins oben: "Confirmation Bias".

Bewahrt Anstand, auch beim Teilen von Bildern

Auch im Krieg gelten internationale Regeln, gebündelt im sogenannten Kriegsrecht. Besonders wichtig für das Kriegsrecht ist die Genfer Konvention. Sie verbietet etwa, Zivilisten unter Beschuss zu nehmen oder zu misshandeln. Teile der russischen Armee verstoßen in diesem Krieg massiv gegen das Kriegsrecht, das lässt sich zwei Wochen nach Beginn des Ukraine-Kriegs aufgrund geprüfter Fakten feststellen: Putins Armee beschießt Wohngebiete, Krankenhäuser, versetzt Städte in den Belagerungszustand.

Aber auch die ukrainische Armee, Journalisten und Social-Media-Nutzer in der Ukraine verletzen in diesen Tagen regelmäßig eine wichtige Regel der Genfer Konvention. Sie verbreiten Fotos und Videos russischer Kriegsgefangener. So ging etwa ein Video eines jungen russischen Soldaten viral, den nach seiner Gefangennahme ukrainische Frauen mit Tee versorgten und ihn mit seiner Mutter telefonieren ließen.

Das Video sollte die Humanität ukrainischer Zivilisten beweisen. Aber es verstößt gegen Artikel 13 der Dritten Genfer Konvention. Er besagt, dass Kriegsgefangene vor der "öffentlichen Neugier" geschützt werden. Bilder von Kriegsgefangenen verletzen die Würde einer vulnerablen Person. Und sie gefährden die Sicherheit des Kriegsgefangenen und seiner Familie – vor allem im autokratischen Russland, in dem Menschen, die sich kritisch gegenüber dem Putin-Regime äußern, harte Repressionen fürchten müssen.

Das Internationale Rote Kreuz hat in einem Twitter-Thread darauf hingewiesen, dass Fotos Kriegsgefangener nicht geteilt werden dürfen.

Daher der dringende Ratschlag: Wenn ihr auf Social Media Bilder von Kriegsgefangenen, von verletzten oder sterbenden Personen seht: Verzichtet darauf, sie weiterzuverbreiten. Und sensibilisiert andere für diese Problematik.

Macht euch bewusst, wie russische Desinformation funktioniert

Das russische Regime um Wladimir Putin führt seit Jahren einen Informationskrieg: Im eigenen Land, um kritische Stimmen zu diffamieren oder ganz zum Schweigen zu bringen; aber auch in demokratischen Staaten im Rest der Welt. Das zentrale Ziel dieser internationalen Desinformation der russischen Regierung – die Forschende und Journalisten seit Jahren dokumentieren – ist es, Misstrauen an demokratischen Institutionen und Medien zu säen.

Zwei zentrale Mechanismen dahinter:

  • Russische Staatsmedien, Regierungspolitiker, Trolle verbreiten unterschiedliche, teilweise widersprüchliche Versionen von Ereignissen – um damit den Eindruck zu erwecken, es gebe gar keine verifizierbaren Fakten mehr. Leider fällt diese Strategie in westlichen Ländern oft auf fruchtbaren Boden. Man hat das beispielsweise nach der Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny gesehen: Russische Politiker streuten absurde Gerüchte zur Herkunft des Gifts. Und sie fanden auch in Deutschland Menschen, die diese Theorien weiterverbreiteten: die Linken-Außenpolitikerin Sevim Dagdelen etwa, die in der Talkshow "Anne Will" Verschwörungsmythen über deutsche und französischen Labore verbreitete, die bei Nawalny einen Kampfstoff der "Nowitschok"-Gruppe festgestellt hatten.
  • Propagandalügen werden so oft wiederholt, bis etwas von ihnen kleben bleibt. Seit Jahren etwa verbreiten die russische Regierung und die ihr ergebenen Medien die Erzählung, die Ukraine sei ein faschistisch regierter Staat, der die russischsprachige Bevölkerung unterdrücke. Das ist objektiv falsch: In der Ukraine gibt es rechtsextreme Gruppen und Parteien, sie haben aber fast keinen Einfluss auf die Regierungspolitik. Und obwohl die ukrainische Sprache in den vergangenen Jahren immer stärker verankert wurde, sind Medien und Schulen in weiten Teilen der Ukraine zweisprachig. Trotzdem haben auch unabhängige Medien und demokratisch gewählte Politiker in Deutschland und anderen westlichen Staaten die Lüge von der faschistisch regierten Ukraine verbreitet.

Der Tipp daher: Macht euch bewusst, wie russische Desinformation funktioniert. Prüft in seriösen Medien nach, was an Behauptungen der russischen Regierung stimmt.

Hilfreich dabei ist auch dieses Video des Historikers Timothy Snyder, eines der am besten informierten Osteuropa-Experten der Welt, der in diesem Teil eines Vortrags von 2015 in zehn Minuten wichtige Mechanismen russischer Desinformation zusammenfasst.

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