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Analyse

Ukraine und Israel: Wie die internationale Sicherheit aus den Fugen gerät

07.10.2023, Palästinensische Gebiete, Khan Younis: Palästinenser feiern an einem zerstörten israelischen Panzer am Zaun des Gazastreifens östlich von Khan Younis. Die islamistische Hamas hat vom Gazas ...
Nach den blutigen Hamas-Angriffen ruft Israel den Krieg aus. Derzeit flammen vermehrt Konflikte in kürzester Zeit auf. Warum? Bild: AP / Hassan Eslaiah
Analyse

Ukraine, Israel, Bergkarabach – wie die internationale Sicherheit aus den Fugen gerät

10.10.2023, 07:5717.10.2023, 14:17
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"Bürger Israels, wir sind im Krieg", teilte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Wochenende mit. Das Blutbad der Terrororganisation Hamas versetzt das Land in Angst und Schrecken. Ein Konflikt, der seit Jahrzehnten brodelt, eskaliert wie lange nicht mehr.

Krieg in der Ukraine, die Bergkarabach-Krise und Streitigkeiten zwischen Armenien und Aserbaidschan, Spannungen zwischen Serbien und Kosovo, türkische Luftangriffe in Nordsyrien, Militärputsche sowie pro-russische Stimmung in Westafrika.

Und nun der Krieg in Israel gegen die Terrorgruppe Hamas.

Ist das die neue Normalität?

A woman cries during the funeral of Israeli Col. Roi Levy at the Mount Herzl cemetery in Jerusalem on Monday, Oct. 9, 2023. Col. Roi Levy was killed after Hamas militants stormed from the blockaded Ga ...
Eine israelische Frau bei der Beerdigung der Opfer der Hamas-Angriffe. Bild: AP / Maya Alleruzzo

"Diese Art von Unruhen wird wohl so lange anhalten, bis eine neue Ordnung geschaffen oder die derzeitige wieder stabilisiert wird", sagt Politikwissenschaftler Denis Cenusa vom Zentrum für Osteuropastudien (EWSA) auf watson-Anfrage.

Die russische Aggression gegen die Ukraine sei der Hauptauslöser. Aber nicht die einzige Erklärung. Der Ausgang der Situation in der Ukraine werde entscheidend sein, aber nicht ausschlaggebend. Denn: Im gesamten System der internationalen Beziehungen gibt es laut des Experten derzeit jede Menge Störungen und Verursacher:innen.

++ CORRECTS AGES ++ A woman cries during the funeral of Sofia Shulha, 11, and Pysarev Kiriusha, 17, in Uman, central Ukraine, Sunday, April 30, 2023. Shulha and Kiriusha were killed during a Russian a ...
Eine Ukrainerin weint bei der Beerdigung zweier minderjähriger Kinder, die durch russische Raketen starben.Bild: AP / Bernat Armangue

Ungelöste Konflikte werden plötzlich zu Brandherden

Laut Cenusa konnten bisher ungelöste Konflikte unter dem Druck stabilitäts- und friedensfördernder Bemühungen des Westens "ruhiggestellt" werden. Doch jetzt, in einer unausgewogenen internationalen Ordnung, flammen sie auf. Die Sicherheitslage eskaliert in verschiedenen Ländern, auch unter Beteiligung verschiedener Akteur:innen.

"Ebenfalls schwindet das geopolitische Gewicht Russlands etwa im Südkaukasus, das begünstigt Aserbaidschans Selbstbehauptung", sagt Cenusa. Zudem habe die "Weltpolizei" USA jede Menge um die Ohren. Der perfekte Zeitpunkt, um aus der Reihe zu tanzen.

Die Türkei bombardiert Ölanlagen und Unterkünfte der Kurdenmiliz YPG in Syrien. Auf dem Balkan will Serbien laut eigenen Angaben seine Truppen an der Grenze zum Kosovo reduzieren, während die kosovarische Regierung Serbien vorwirft, eine Annexion des Nordens zu planen. Aserbaidschan verjagt gewaltsam die armenische Bevölkerung aus der Region Bergkarabach, seither droht eine Ausweitung der Spannungen auf armenisches Staatsgebiet.

Und währenddessen übt China fleißig die Invasion Taiwans.

In this image taken from video, an ethnic Armenian woman cries as she and other refugees from the first group of about 30 people from Nagorno-Karabakh gather in a temporary camp after arriving to Arme ...
Eine geflüchtete Armenierin mit Tränen in den Augen, nachdem sie ihre Heimat Bergkarabach verlassen musste. Bild: AP

Russland fordert die Weltordnung heraus

Für Cenusa steht fest: Die Sicherheitsarchitektur des internationalen Systems befindet sich in einer Krise. Grund: Ein wichtiger Akteur, Russland, verstößt gegen internationale Regeln in einem in Europa noch nie dagewesenen Ausmaß. Damit stelle der Kreml die Zuverlässigkeit des Westens als "Hüter der regelbasierten internationalen Ordnung" auf die Probe.

Der Experte betont, dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht nur für die beiden Kriegsparteien Kosten verursacht, sondern auch für den Westen. Dieser zieht durch die Unterstützung der Ukraine viele Ressourcen von anderen dringenden Problemen ab. "Das ist wohl der Grund dafür, dass immer mehr staatliche und nicht-staatliche Akteure bestimmte, zuvor verlorene Positionen wieder für sich beanspruchen", sagt er.

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Cenusa führt aus:

"In einigen Fällen fördert Russland dieses Verhalten, in anderen Fällen testen gerade viele Akteure, die vom Westen festgelegten und geschützten 'roten Linien' aus."

Ukraine und Israel: Die USA können nicht auf jeder Hochzeit tanzen

Dabei haben die USA gerade genügend eigene Probleme, etwa ein lahmgelegtes US-Repräsentantenhaus ohne Sprecher:in. Ohne einen funktionstüchtigen Kongress sind US-Präsident Joe Biden die Hände gebunden, um neue Hilfen für die Ukraine zu bewilligen.

Mit dem Brandherd in Israel könnte es noch schwieriger werden. Schließlich ist das Land ein enger Verbündeter, in den USA lebt eine große jüdische Gemeinschaft. Hier könnten die Republikaner wohl fordern: "Israel first". Denn: Die Unterstützung der Ukraine ist ihnen schon lange ein Dorn im Auge.

Wer am Ende davon profitieren könnte? Russland!

"Mehr Konflikte, die es zu lösen gilt, erfordern eine stärkere Streuung der Aufmerksamkeit und eine vorsichtige Verteilung der Ressourcen", sagt Cenusa. Die USA und ihre westlichen Verbündeten wollen das "globale Haus gemäß der regelbasierten Ordnung" wiederherstellen. Aber endlose Ressourcen für dieses Vorhaben haben sie auf Dauer nicht.

Und das beobachtet besonders ein Akteur aus der stillen Ecke: China.

Chinas Angriff auf Taiwan wird immer realer

Der Hamas-Anschlag habe den politischen Druck auf den Westen erhöht, meint der amerikanische Sicherheitsberater und Dekan am Marshall Center für Sicherheitsstudien, Andrew A. Michta. Auf der Plattform X, vormals Twitter, schreibt er: "Die Schlüsselfrage ist, wie schnell Russland seine Landstreitkräfte wieder aufstellt und wann China entscheidet, dass es bereit ist, gegen Taiwan vorzugehen."

Laut ihm befindet sich die Welt in einer "Phase langanhaltender systemischer Instabilität", in der regionale Machtverhältnisse entscheidend sein werden, um einen größeren Krieg zu verhindern. Klar sei: Der Hamas-Anschlag lenkt die Aufmerksamkeit der USA von der Ukraine und Taiwan ab. Auch übt er Druck in Bezug auf westliche Waffen- und Munitionslieferungen aus.

Demnach sei das Entscheidungsfenster viel enger, als die meisten westlichen Analyst:innen glauben.

"Die geschwächte Präsenz und das geschwächte Gewicht des Westens wird von China genutzt werden, um früher oder später die Kontrolle über die Insel Taiwan zurückzugewinnen", prognostiziert Cenusa.

"Der Terror hat viel zu viele Fronten gegen die Menschheit eröffnet." So formulierte es der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Bei seiner täglichen Ansprache äußert er sich zum Krieg in Israel: "Der Krieg gegen die Ukraine. Der Krieg im Nahen Osten. Schreckliche Destabilisierungen in ganz Afrika. Ständige Versuche, eine Krise auf dem globalen Lebensmittelmarkt zu verursachen. Unter diesen Umständen stark zu sein, bedeute, sich dem Terror zu stellen."

"Es reicht nicht aus, ein großes Land zu sein. Ein wohlhabendes Land zu sein, reicht nicht aus. Es reicht nicht aus, Ambitionen zu haben. Stark zu sein bedeutet, dazu beizutragen, Menschen und Leben vor jeder Form von Terror zu schützen", sagt Selenskyj.

Helfen. Das sei der richtige Weg.

Sorge vor Urankatastrophe in Russland wächst

Russland steht in weiten Teilen unter Wasser. Die Frühjahrsflut soll nach Zählungen der Behörden bereits 18.000 Häuser unter Wasser gesetzt haben. Vor allem in den Gebieten Orenburg im Süden des Ural-Gebirges und im sibirischen Gebiet Kurgan breitete sich demnach die Flut aus. In der gleichnamigen Gebietshauptstadt Kurgan schwoll der Fluss Tobol binnen eines Tages um fast anderthalb Meter an.

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